Verteidigungsminister Artis Pabriks bezeichnet SS-Legionäre als Stolz des lettischen Volkes
Die Heldenverehrung markiert eine veränderte Haltung der offiziellen Politik Lettlands. Der einseitige Antibolschewismus ist Folge eines historischen Traumas und belastet das Verhältnis zu Russland
Der Minister beteiligte sich am 27. September 2019 an einer Gedenkveranstaltung im Ort More, 60 Kilometer von Riga entfernt, wo Veteranen und ihre Gesinnungsgefährten, Vertreter der nationalen Armee, der Nationalgarde und der militärischen Jugendorganisation Jaunsardze der Abwehrschlacht gedachten, die hier vor 75 Jahren lettische SS-Legionäre der Roten Armee geliefert hatten. Die lettischen Soldaten, größtenteils von der SS zwangsrekrutiert, vermochten hier den Rotarmisten standzuhalten, um deren Einmarsch in die noch von Deutschen besetzte lettische Hauptstadt zu verzögern.
Aus diesem Anlass hielt Pabriks eine Rede, in der er die SS-Legionäre als Helden seines Landes rühmte: "Unsere Verpflichtung ist es, diese lettischen Patrioten aus tiefster Seele zu ehren. Denken wir daran, dass sich die Zahl der Legionäre in unserer Mitte leider von Jahr zu Jahr verringert, derzeit sind es in der Reihe des Soldatenvereins der Nationalarmee gerade noch etwas über 30. Wir werden das Andenken der gefallenen Legionäre in Ehren halten, wir werden niemandem erlauben, es herabzuwürdigen! Lettlands Legionäre sind der Stolz des lettischen Volkes und des Landes." Er fügte hinzu, dass die lettische Erinnerung an ihren Kampf "glanzvoll" und "ewig" sei und dass seine Landsleute neben den Gräbern und Denkmälern der Legionäre Kraft schöpften.
In den lettischen Medien fanden diese spektakulären Ministerworte kaum Widerhall. Die Tageszeitungen Diena und Latvijas Avize referierten Pabriks Äußerungen kommentarlos.
Auf Lsm.lv, dem Internetportal der öffentlich-rechtlichen Medien, erschien kein lettischer Beitrag, stattdessen wurden dort die Pabriks-Zitate ins Russische übersetzt. So erfuhr die russische Sputnik-Redaktion vom Vorfall, der nun international Beachtung fand. Die PR des Verteidigungsministeriums änderte zwar auf ihrer Webseite noch den Titel zu den Pabriks-Zitaten von "Lettlands Legionäre sind der Stolz des lettischen Volkes und des Landes" in "Ehrung für die in der More-Schlacht gefallenen lettischen Soldaten", doch der Eklat ließ sich nicht mehr verhindern.
Protestschreiben
Janis Urbanovics, Fraktionsvorsitzender der Oppositionspartei Saskana, die von lettischer Seite als "Pro-Kreml-Partei" beargwöhnt wird, unterzeichnete einen Brief, der an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg adressiert war. Saskana wirft dem Minister vor, eine verbrecherische Organisation zu rühmen, die mit der Nazi-Partei verbunden gewesen sei, um eine rassistische Doktrin zu verwirklichen. Das delegitimiere die nordatlantische Allianz.
Der Brief erinnert aber auch daran, dass die SS-Legionäre größtenteils gezwungen wurden, für eine feindliche Macht zu kämpfen: "In Anbetracht dessen, dass die Mehrheit der lettischen Legionäre zwangsrekrutiert wurden, hat das Außenministerium der lettischen Republik mehrmals betont, dass man sie nicht als Teilnehmer an einer verbrecherischen Organisation betrachten darf. Aber mit seiner öffentlichen Äußerung verändert Verteidigungsminister Pabriks das Verhältnis zu den lettischen Legionären wesentlich, indem er aus Opfern Helden macht."
Am 8. Oktober 2019 bekundete Efraim Zuroff, Leiter der Jerusalemer Filiale des Simon-Wiesenthal-Zentrums, sein Unverständnis für Pabriks' Worte. Er schrieb an die lettische Botschafterin in Israel, Elita Gavele:
Angesichts der Tatsache, dass die Legion für den Sieg des Dritten Reiches kämpfte, dem genozidalsten Regime der Geschichte, und dass unter jenen, die in ihr dienten, sich aktive Teilnehmer am Massenmord befanden sowohl an lettischen als auch deutschen und österreichischen Juden, die von den Nazis nach Riga deportiert wurden, sind solche Kommentare unbegreiflich, um nicht von tiefer Beleidigung zu sprechen, wenn solche von einem hochrangigen Minister eines Landes mit voller Mitgliedschaft in der EU und der NATO stammen.
Efraim Zuroff
Auch die russische Botschaft in Riga kritisierte Pabriks und andere Regierungsmitglieder auf ihrer Facebook-Seite scharf. Der bloße Gedanke daran, dass sie die SS-Legionäre als nationale Helden darstellten, sei haarsträubend. "Offensichtlich ist ihnen das Urteil des Nürnberger Tribunals kaum oder gar nicht bekannt, das hinsichtlich des Charakters der Waffen-SS-Aktivitäten die lettische SS-Legion als kriminelle militärische Gruppe bezeichnet. Dieses Urteil fiel am 1. Oktober 1946."
Streit um den Status der Legion
Dass die lettische Legion als Teil der Waffen-SS ebenfalls eine verbrecherische Organisation war, wird von lettischer Seite bestritten. Die Historiker Inesis Feldmanis und Karlis Kangeris weisen die Darstellung der lettischen SS-Veteranen als Kriegsverbrecher zurück:
Lettische Soldaten [der Legion] beteiligten sich nicht an repressiven Handlungen, sondern kämpften an der Front gegen sowjetische Streitkräfte, der Armee jenes Staates, der die Unabhängigkeit Lettlands liquidiert hatte, die Einwohner repressiv behandelte und mit erneuter Okkupation drohte. Kein einziger lettischer Legionär wurde vor Gericht wegen Kriegsverbrechen angeklagt, die im Zusammenhang mit den Handlungen der Legion verübt worden wären. Die Legion wurde annähernd ein Jahr nach dem letzten großen Massenmord an den Juden in Lettland gebildet. Zwar strömten ihr noch am Kriegsende aus früheren nazistischen Parteien und der SS untergeordneten Strukturen auch Personen zu, die Kriegsverbrechen verübt hatten, aber das macht nicht die gesamte Legion verbrecherisch. Das Urteil des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals vom 1. Oktober 1946 bestimmt präzise den Kreis der Personen, die sich in die verbrecherische SS-Organisation einfügten und nennt als Ausnahme die Zwangsrekrutierten (im lettischen Fall: die große Mehrheit), wenn sie keine Kriegsverbrechen begangen hatten.
Inesis Feldmanis und Karlis Kangeris
Tatsächlich lässt sich das Schicksal der lettischen SS-Legionäre nur differenziert betrachten. Die zwangsrekrutierte Mehrheit von ihnen war wahrscheinlich über den Einberufungsbefehl entsetzt, beteiligte sich nur widerwillig an Kriegshandlungen und sehnte den Frieden herbei. Von den 115.000 jungen Männern fielen geschätzt 25.000 bis 30.000 an der Front. Zum lettischen Schicksal gehört es, dass sie vielleicht auf Landsleute schossen, denn auch die Rote Armee hatte 100.000 Letten mobilisiert, von denen 35.000 starben.
Die Überlebenden flohen entweder in den Westen oder sahen sich stalinistischen Repressionen ausgesetzt: Hinrichtungen, Deportationen und berufliche Benachteiligungen. Jene, die in den Westen flohen, gründeten die Exilorganisation Daugavas Vanagi. In dieser einflussreichen Veteranengruppe entstand die Idee, den 16. März 1944, als die beiden lettischen SS-Divisionen am Fluss Welikaja einen Sieg gegen die Rote Armee errangen, zum Gedenktag zu erheben. Seit 1993 findet alljährlich jener berüchtigte Gedenkmarsch vom Rigaer Dom zum Nationaldenkmal statt, mit dem Lettland immer wieder international in Verruf gerät.
Der Grund für die einseitige antibolschewistische Gesinnung
Im Rigaer Stadtteil Pardaugava befindet sich eine 79 Meter hohe weißgraue Betonstele, von heroischen Skulpturen umringt. Sie erinnert an den sowjetischen Sieg über Nazi-Deutschland. Der lettische Staat hat sich gegenüber Russland vertraglich verpflichtet, das Siegesdenkmal zu erhalten. Doch die Letten bezeichnen die fünfgliedrige Säule, an deren Spitze bronzene Sterne prangen, als "Leichenfinger".
Das auf dem Podest eingravierte Datum lässt die Ursache des lettischen Unmuts erahnen: "1941-1945". Für die sowjetrussische Geschichtsschreibung beginnt der "Große Vaterländische Krieg" mit der Barbarossa-Offensive der Deutschen Wehrmacht und dauerte nur fünf Jahre. Dass auch die Rote Armee sich seit 1939 am Angriffskrieg beteiligte, wird unterschlagen. Gemäß des geheimen Zusatzabkommens im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 fielen der Sowjetunion Ostpolen und die baltischen Länder zu. Wenige Wochen nach Einfall der Wehrmacht in Polen begann auch die Sowjetunion, das Nachbarland anzugreifen. Schließlich besetzte die Rote Armee im Juni 1940 die baltischen Republiken. Die Sowjetunion hatte 1920 die Existenz eines unabhängigen Lettland "auf ewige Zeiten" vertraglich anerkannt.
Nach dem Einfall der Rotarmisten begann für die Letten das "Baigais gads" - das grauenhafte Jahr. Die sowjetischen Herrscher installierten in Riga eine Marionettenregierung. Hunderte Offiziere wurden hingerichtet und mehrere tausend Soldaten der lettischen Armee kamen in Lagerhaft. Tschekisten verfolgten auch lettische Polizisten, Grenzschützer, Beamte, Juristen sowie Vertreter mutmaßlich konterrevolutionärer Gruppen. Das erste Jahr sowjetischer Besatzung gipfelte am 14. Juni 1941 in der ersten Massendeportation von mehr als 15.400 Menschen - unter ihnen überproportional viele lettische Juden - in die Gulag-Lager Sibiriens.
Als wenige Tage später die Deutschen Lettland eroberten, wurden sie irrtümlich als Befreier begrüßt. Der Hitler-Stalin-Pakt besiegelte das Schicksal der Osteuropäer. Doch in Russland und auch von manchen im Westen wird er als eine historische Notwendigkeit rechtfertigt und verharmlost. Für Wladimir Putin "ergibt der Pakt einen Sinn, um die Sicherheit der Sowjetunion zu gewährleisten", nachdem diese sich vom Westen im Stich gelassen fühlte.
Nach Kriegsende setzten die Sowjets ihre repressive Herrschaft in Lettland fort, Jahrzehnte des Gulags und der Unterdrückung lettischer Sprache und Kultur folgten. Im Antibolschewismus, der SS-Legionäre heroisiert, lässt sich eine Trotzreaktion gegen Russland und gegen den Westen gleichermaßen erkennen. Letten fühlen sich unverstanden, wenn Touristen aus dem Westen mit ihnen über solche Themen reden wollen. Die westlichen Alliierten haben aus ihrer Sicht die Osteuropäer an die Bolschewisten ausgeliefert und nun diffamieren Russen und Wessis jene, die gegen die sowjetische Okkupation gekämpft hatten.
Die uneingestandene lettische Kollaboration mit dem NS-Regime
Dass die Legionäre an der Seite deutscher Soldaten für ein Regime kämpften, das für Osteuropa und das Baltikum noch Schlimmeres vorsah, nämlich Aushungern, Vertreibung oder ein Diener-Dasein für arische Besatzer, ist nicht Teil der lettischen Erinnerungskultur. Die Fixierung auf die Legion als vermeintlich unbescholtene Armee unterschlägt, dass Letten nicht nur Opfer waren, sondern auch zu Kollaborateuren und Mittätern der Nazis wurden.
Viktors Arajs, der Anführer von über 1000 lettischen Freiwilligen, die sich mittelbar oder unmittelbar an SS-Massenerschießungen beteiligt hatten, fand in der Legion ebenso Unterschlupf wie Voldemars Veiss, der als Chef der Rigaer lettischen Hilfspolizei unter deutschem Oberbefehl den Abtransport jüdischer Gettobewohner zu den Erschießungsstätten organisiert hatte und sich später in einem Polizeibataillon an der Partisanenbekämpfung in Weißrussland beteiligte, bei der viele unschuldige Zivilisten zu Tode kamen. Auf dem Rigaer Soldatenfriedhof ist Veiss, der an der Front tödlich verletzt und von den deutschen Besatzern aufwändig bestattet wurde, eine ehrende Gedenktafel an exponierter Stelle gewidmet. Dass eine Ministerin auf Anfrage der Opposition sich weigerte, die Tafel entfernen zu lassen, deutet darauf hin, wie heikel das Thema NS-Kollaboration noch immer ist.
Arajs und Veiss sind nur zwei Beispiele von vielen. Die antibolschewistische Selbstvergessenheit wird insbesondere von der Nationalen Allianz gepflegt, die der heutige EU-Kommissar Valdis Dombrovskis vor zehn Jahren in seine damalige Regierung aufnahm, um eine Machtbeteiligung der sozialdemokratischen Saskana, der größten Saeima-Fraktion, zu verhindern. Nationalkonservative Politiker heroisieren die Legion und unterstützen den Gedenkmarsch am 16. März, plädieren dafür, ihn wieder wie Ende der 90er Jahre zum staatlichen Gedenktag zu erklären. Das ständige Mitregieren der Nationalkonservativen, die in vieler Hinsicht, von ihrer Russlandphobie abgesehen, der deutschen AfD gleichen, scheint die Mentalität des politischen Establishments verändert zu haben.
Dafür liefert Artis Pabriks, der Mitglied der liberalkonservativen Regierungspartei Jauna Vienotiba ist, ein anschauliches Beispiel. Der Berufspolitiker war bislang für liberalere Ansichten bekannt. Die Journalistin Sabine Berzina zitiert ein Statement von ihm aus dem Jahr 2012. Damals sagte er: "Wir müssen nicht stolz darauf sein, dass wir gezwungen waren, fremde Uniformen anzuziehen. Man wünscht sich für Kämpfe in der Zukunft - falls das notwendig ist - nur eigene Uniformen. Und nur für das eigene Land. Es ist schwer der ganzen Welt zu erklären, dass trotz dessen, dass der lettische Staat nicht existierte, wir dennoch für Lettland und mit Lettland im Herzen gekämpft haben."
Von Berzina befragt, ruderte Pabriks zurück, die Bezeichnung der Legionäre als Stolz des Landes widerspiegele dem Wesen nach nicht seine Gedanken und das vor den Gräbern Gesagte. Sein Vater habe zwei Armeen überstehen müssen, zwei Konzentrationslager: "Ich denke, das ist schon ein großes Heldentum." Doch das angeblich Missverstandene bleibt eine politische Neuheit, denn bislang wurden auf offizieller Ebene SS-Legionäre weder als Stolz des Landes noch als Helden bezeichnet.
Gefahr für den Weltfrieden
Das osteuropäische Trauma, das der Hitler-Stalin-Pakt bewirkte, ist der historische Hintergrund der Spannungen zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn. Es fällt Meinungsmachern in diesen Ländern leicht, mit einseitigen antifaschistischen Darstellungen über den "Großen Vaterländischen Krieg" bzw. ebenso einseitigen antibolschewistischen Darstellungen über den Abwehrkampf in Reihen der SS die Stimmung anzuheizen. Hinzu kommt die undifferenzierte Berichterstattung über die Ukraine-Krise von 2014, die von beiden Seiten betrieben wird.
Vor diesem Hintergrund haben es Befürworter einer Entspannungspolitik schwer. In Lettland gilt Russland als notorischer Aggressor, der nur mit militärischer Abschreckung und nicht mit "Appeasementpolitik" in Schach gehalten werden kann. Verteidigungsminister Pabriks warnte kürzlich vor russischer Aufrüstung, die eine 8- bis 15-prozentige jährliche Steigerung des Militäretats vorsehe. Lsm.lv-Journalisten überprüften diese Behauptung und fanden keine Belege.
Andris Spruds, Leiter des Lettischen Außenpolitischen Instituts, der selbst Russlandskeptiker ist, kommentierte Pabriks' Angabe so: "Gleichzeitig dienen die realen und behaupteten Bedrohungen durch Russland als nützliches Mittel, um das anwachsende militärische Denken im Bildungsbereich und die Erhöhung der Verteidigungsausgaben im schwierigen Prozess der Budgetverhandlungen zu begründen." Lettland hält sich an die NATO-Vereinbarung von 2014, mindestens zwei Prozent des BIP für Militärausgaben aufzuwenden und erwartet von Deutschland ebensolches.
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