Verweigert das Töten!

Graffiti mit Tolstois Portrait. Bild: Kemal Kozbaev / CC-BY-SA-4.0

Der Russe Leo N. Tolstoi über die "Schönheit der Menschen des Friedens" und den Ungehorsam (Teil 2 und Schluss).

Zum Osterfest 2023 erschließt ein auch kostenfrei abrufbarer Sammelband der von deutschen Pazifist:innen betreuten Friedensbibliothek alle verstreuten Schriften des Russen Leo N. Tolstoi (1828-1910) zur Verweigerung des militärischen Mordhandwerks – soweit von ihnen gemeinfreie Übersetzungen vorliegen, außerdem Texte aus dem dichterischen Werk des Schriftstellers sowie Darstellungen zur Geschichte der Gegner des Soldatendienstes in Russland.

Tolstoi betätigte sich in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten gezielt als "Wehrkraft-Zersetzer". Die unmissverständliche Botschaft in einer kleinen Flugschrift aus dem Jahr 1901 wider die offizielle Dienstanweisung der Armee richtet sich an die schon "unter den Waffen Stehenden" und lautet:

Soldat, du hast schießen, stechen, marschieren gelernt, man hat dich Lesen und Schreiben gelehrt, nach dem Exerzierplatz und zur Truppenschau geführt, vielleicht auch hast du einen Krieg mitgemacht, mit Türken und Chinesen gekämpft und alles ausgeführt, was dir befohlen wurde; es ist dir wohl nie in den Kopf gekommen, dich zu fragen, ob es gut oder böse ist, was du tust. …

Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen.

In einem zweiten "Denkzettel für Offiziere" führt Tolstoi gegenüber den Vorgesetzten aus:

Ihr könnt immer aus eurer Stellung austreten. Wenn ihr aber nicht aus ihr austretet, so tut ihr dies nur deshalb, weil ihr vorzieht, in Widerspruch mit eurem Gewissen zu leben und zu wirken, als auf einige weltliche Vorteile zu verzichten, die euch euer ehrloser Dienst gewährt. Vergesst nur, dass ihr Offiziere seid, und denkt daran, dass ihr Menschen seid, und ein Ausweg aus eurer Lage wird sich sofort vor euch auftun. Dieser Ausweg ist der beste und ehrenvollste: versammelt die Abteilung, die ihr kommandiert, tretet vor sie hin und bittet die Soldaten um Verzeihung für alles das Böse, das ihr ihnen durch Täuschung zugefügt habt, und hört auf, Soldat zu sein.

Indessen lässt sich in einer Gesamtschau aller Quellen aufzeigen, dass der "Alte von Jasna Poljana" nur solche angehenden Verweigerer ermutigt hat, die aus einer inneren Gewissheit heraus – ohne Blick auf Außenwirkung, Beifall oder fremde Erwartungen – bereit waren, Schritte zu gehen, die eine bittere Verfolgung bis hin zum Letzten nach sich ziehen können.

"Beichte" eines soldatischen Mörders

Leo Nikolajewitsch Tolstoi – der weltberühmte Dichter von Krieg und Frieden – kannte Militär und Krieg nur zu gut aus eigener Anschauung. Im Frühjahr 1851 hatte er seinen ältesten Bruder Nikolaj auf der Rückreise zu dessen Regiment in den Kaukasus begleitet, später dort und dann auch im Krimkrieg (1853-1856) als Soldat gekämpft, zuletzt wegen sogenannter Tapferkeit eine Beförderung zum Leutnant erhalten und erst im März 1856 sein im November des gleichen Jahres angenommenes Abschiedsgesuch vorbereitet.

Die frühen literarischen Arbeiten lassen z.T. schon eine nonkonforme – jedenfalls nicht staatstragende – Betrachtungsweise der Menschenschlächterei auf den "Feldern der Ehre" erkennen. Beim Zeitschriftenabdruck von Anna Karenina kam es bereits zu Problemen, weil der Dichter dem Kriegsprojekt gegen das Osmanische Reich (1877-1878) seinen Beifall versagte.

Als Zeugnis der Lösung einer mehrjährigen existentiellen Krise muss die Schrift Meine Beichte (Ispoved, 1879-1882) gelesen werden, die dem Autor erstmalig das Verbot eines ganzen Werkes durch die Zensurbehörde beschert.

Darin schreibt er im Rückblick kurz und bündig: "Ich bin im Kriege gewesen und habe gemordet." Die "theologische" Rechtfertigung des Krieges und anderer Tötungsakte des Herrschaftsapparates durch die orthodoxen Lehrautoritäten ist in jenen Jahren schon der maßgebliche Grund für Tolstois kompromisslose Absage an jenes Kirchentum, das eine Symbiose mit dem Staat eingegangen ist.

Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht

Nach einer Studie zur ‚Kritik der dogmatischen Theologie‘, intensiver Bibelarbeit mit dem Evangelium, Darlegungen des eigenen Glaubens und dem Ringen um eine christliche Antwort mit Blick auf das seit Anfang der 1880er Jahre erkundete Leben der Armen im Land wird Leo Tolstoi das 1890-1893 entstandene Buch Das Reich Gottes ist in Euch … (1894) veröffentlichen. Dies ist im Gefolge aller Schriften ab der "Beichte" sein grundlegendes Werk über die Unvereinbarkeit von Christentum und Soldatenhandwerk (bzw. staatlich-militärischer Gewalt).

Raphael Löwenfeld fügt als Übersetzer dem Werktitel noch den Zusatz "Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht" hinzu, den der russische Verfasser selbst zuerst der Deutlichkeit wegen erwogen hatte. Nach mehr als 110 Jahren hat die Tolstoi-Friedensbibliothek jetzt erstmals wieder eine ungekürzte Neuedition der deutschen Fassung dieses grundlegenden Titels herausgebracht.

Tolstoi war freudig erregt, wenn er seinen mit der Bergpredigt des Nichtwiderstrebens (Gewaltfreiheit) untrennbar verknüpften Weg der Kriegsverweigerung (Widerstand) wiederentdeckte bei viel früheren Lebenszeugen, so bei dem tschechischen Laien Peter Chelcickij (ca. 1390–1460) im Umkreis der Böhmischen Brüder, friedenskirchlichen Stimmen aus Nordamerika oder Vertretern der wahren – d.h. die Einheit der Menschheit enthüllenden und gewaltfreien – Religion in allen Kulturkreisen.