Verweigert das Töten!
Seite 2: Militärverweigerer wider die Priesterselbstanbetungs-Religion
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- Militärverweigerer wider die Priesterselbstanbetungs-Religion
- Der einfältige Iwan und die Soldaten
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Er erhielt Anregung und Zuspruch von "heterodoxen Gemeinschaften" in Russland, die man in großkirchlichen Kreisen verächtlich als Sekten abtat und wegen fehlenden Staatsgehorsams unbarmherzig verfolgte. Dazu zählten u.a. die Molokanen ("Milchtrinker"), Duchoborzen ("Geisteskämpfer"), die "Stundisten in der Ukraine oder Bauerndenker wie der Steinmetz Wassilij Sutajew (1819-1892). Am Schicksal der brutal drangsalierten Duchoborzen, die ihm als Lehrmeister:innen eines aktiven Widerstehens ohne Gewalt begegneten, nahm Tolstoi großen Anteil.
Seine Versuche einer wirksamen Hilfe erschöpften sich keineswegs in der Bereitstellung der Erlöse aus der Veröffentlichung des Romans Auferstehung (1899) für die Ausreise dieser "Geisteskämpfer" nach Kanada.
Kriegsdienstgegner wie der ehemalige Militärarzt Albert Skarvan (1869-1926) aus Ungarn wurden bedeutsame Vermittler von Tolstois Schrifttums. Für verfolgte Verweigerer wie Peter Olchowik und Kyrill Sereda verfasste Leo N. Tolstoi eigenhändige Bittschriften. Über Briefwechsel ihm bekanntgewordene Vorbilder aus dem Ausland machte er über Veröffentlichungen in aller Welt bekannt.
In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnisqualen umgekommenen Waffenverweigerers Jewdokim Nikitschitch Droschin (1866-1894) schreibt Tolstoi:
Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt. …
In früheren Zeiten bildeten das von den Herrschern gemietete Heer ausgesuchte, verwahrloste, unchristliche und unwissende Leute oder Freiwillige und Söldlinge. Früher hatte Niemand oder nur selten Jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher – wenn auch selten – hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten.
Jetzt dagegen gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber Teil zu nehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind und Niemand mehr … glaubt ihnen; und jetzt ist es bereits so weit gekommen, dass nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen, gebildete, freidenkende Menschen, sich weigern zu dienen und nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist.
Den Repressionsapparat der Herrschenden und Besitzenden austrocknen
Am 23. März 1980 wird der salvadorianische Erzbischof Oscar Romero den aus den Armen rekrutierten Sicherheitskräften seinen Landes, die im Dienste eines Herrschaftssystems der reichen Minderheit das Volk unterdrücken, zurufen: "Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu folgen, der gegen das Gesetz Gottes verstößt!" (Mit dem öffentlichen Aufruf zur Befehlsverweigerung hat er gleichsam sein eigenes Todesurteil unterschrieben.)
An diesem Beispiel lässt sich Tolstois Anliegen sehr gut beleuchten: Mit ihrer Teilnahme an Repressionsapparaten wie Militär und Polizei stützen die Unterdrückten die Macht der Besitzenden, wobei sie sogar einwilligen, Ihresgleichen zu quälen oder zu töten. Erst wenn die Menschen an den Angelpunkten der Macht konsequent Gehorsam und Mitwirkung verweigern, ist Tolstoi zufolge eine Veränderung der traurigen Weltverhältnisse zu erhoffen.
Die Herrschenden, machtgläubige Revolutionskader eingeschlossen, fürchten indessen nichts mehr, als dass entsprechende Konzepte eines gewaltfreien Widerstehens ins allgemeine – öffentliche – Bewusstsein gelangen.
Nicht von Friedenskongressen, sondern von einer breiten Bewegung der Nicht-Kooperation wider die militärischen Totmachapparate erhoffte der russische Dichter eine Überwindung jenes zivilisatorischen Abgrundes, der sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt abzeichnete. Tolstois Schriften haben den ersten Weltkrieg nicht verhindert, jedoch viele tausend Kriegsdienstverweigerer auf den Weg des "frommen Ungehorsams" geführt und in gnädigen Zeiten das Antlitz der Erde durchaus mit verändert.
Sie waren eine Inspiration für Gandhi in Indien und für religiöse Sozialisten bzw. Anarchisten in Europa oder Nordamerika, die dem irrationalen Heilsversprechen der Gewaltgottheit widersagt haben. (N.B. Staatstragende "Linke" in unseren Tagen wissen von dieser Überlieferungslinie freilich nichts mehr. Sie halten sogar solche Kräfte für Garanten von "Freiheit", die via Militarisierung den Weg hinein in einen autoritären Kapitalismus weiter beschleunigen. Derweil bleibt im Einklang mit der Rüstungsindustrie jene "regelbasierte Weltordnung" des Geldes erhalten, in der wenige Individuen über mehr Vermögen verfügen als die ärmere Hälfte der ganzen Bevölkerung des Planeten.)
Zu den Unterzeichnenden des Manifests "Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend" von 1930 gehörten die Tolstoi-Vertrauten Pavel Birjukov und Valentin Bulgakov. Nahezu unmöglich erscheint es, dass ein einzelner Forscher so etwas wie eine globale Wirkungsgeschichte der Friedenswerke Tolstois schreiben könnte.