Leo Tolstoi und die Religion des Krieges

Gemälde "Die Besiegten. Gedenkgottesdienst" (1878/79) von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin (1842–1904)

Ein Kirchentum, das Militär und andere Totmachkomplexe des Staates legitimiert, hatte für den "Alten von Jasnaja Poljana" nichts mehr mit Christus zu tun. – Zur Eröffnung der Tolstoi-Friedensbibliothek (Teil 1).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der russische Dichter und Pazifist Leo N. Tolstoi weit über die Grenzen Europas hinaus der bedeutsamste Botschafter des Friedens. Er erhielt aus aller Welt Briefe in 26 Sprachen und inspirierte mit seinen religiös-ethischen Schriften Initiativen auf dem ganzen Globus. Im Austausch stand er auch mit Mohandas Karamchand Gandhi, der gleich vier Werke des Russen in eine maßgebliche Literaturempfehlungsliste aufnahm. Der Inder bekannte in seiner Autobiografie:

Tolstois Das Reich Gottes ist inwendig in euch überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates (einem befreundeten Quäker) gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen.

Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg durchaus z.T. geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt:

Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.

Copyright-Verzicht – späte Schriften als Eigentum aller Menschen

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 erfolgte sein Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 schloss er die Ehe mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919). Das Paar bekam insgesamt dreizehn Kinder. Ein Hauptwohnsitz war das elterliche Landgut Jasnaja Poljana bei Tula.

Literarischen Weltruhm erlangte Leo Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er-Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens.

Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten, aber auch dichterische Werke wie der Roman "Auferstehung" (abgeschlossen 1899) markieren die endgültige Abkehr von jenem orthodoxen Kirchentum, das wesentlich auf einem Pakt mit der Macht gründet und ihn 1901 folgerichtig exkommuniziert hat.

Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten. Die in der Bergpredigt Jesu wiederentdeckte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich im Vorfeld der beiden Weltkriege zum bekanntesten Wegbereiter von "Nonviolence" werden.

Der Lackmusstest für den Wahrheitsgehalt aller Religionen bestand für Tolstoi in der Ablehnung jeglicher Gewalt und im Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie: "Alle Wesen sind untrennbar miteinander verbunden." – "Die Erkenntnis der Einheit aller Menschen findet immer mehr Verbreitung in der Menschheit."

Die Dringlichkeit dieser Einsicht im dritten Jahrtausend, in dem sich das Geschick des homo sapiens entscheidet, ist in den deutschen Talkrunden der Gegenwart trotz der Aussichten auf einen neuen Weltkrieg immer noch kein Thema – was uns zutiefst beunruhigen sollte.

Tolstoi hielt unbeirrbar am Ideal von Aufklärung und neuzeitlichem Freiheitsringen fest. Er durchschaute jedoch den abgründigen Gewaltschatten der bürgerlichen Revolution (samt missionarischer Militärreligion) und die ideologischen Funktionen einer bestimmten Form von Wissenschaftsgläubigkeit (eine Art früher "Positivismus-Kritik").

Seiner Hinwendung zur real existierenden Lebenswelt der Armen entspricht ein Eigentumsbegriff im Sinne der frühen Kirche (Kritik des Herrschaftssystems der reichen Minderheit, kompromisslose Ablehnung von Ausbeutung und Machtakkumulation durch Bodenbesitz oder Kapitalismus, kein Recht auf private Aneignung gesellschaftlicher Produktionsmittel und wunderbare Geldvermehrung).

Zuletzt gab es durchaus einige zaghafte Sympathien für den Sozialismus, doch Leo N. Tolstoi erkannte dabei hellsichtig wie sonst keiner die Gefahr einer autoritären und gewalttätigen Perversion. Gewaltfreie Anarchisten und "religiöse" Sozialisten wie Gustav Landauer verstanden sein Anliegen.

Tolstoi, der Kulturkonservative, ebnete den Weg zu einer globalen Leserschaft u.a. durch die Nutzung moderner Medienformate und Vertriebsmöglichkeiten sowie einen bahnbrechenden Copyright-Verzicht bezogen auf seine ab 1881 veröffentlichten "Späten Schriften".

So konnte er auch die Folgen der Zensur abschwächen. Staatliche Repressionen der schlimmsten Art trafen die Leser:innen, nicht den wegen seines literarischen Weltrangs und einer großen Anhängerschaft geschützten "Meister".

Wegen der eigentümlichen Urheberrechtsbedingungen wurden die pazifistischen, religiösen und sozialkritischen Werke vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland oft gleichzeitig in mehreren Übersetzungen auf den Markt gebracht. Tolstoi betrachtete Wilhelm II. als "geschwätzigen und unmenschlichen Idioten" (Brief an Bertha von Suttner, 28.08.1901).

Entsprechende Aussagen über die nachweisbare Menschenverachtung des Hohenzollern-Kaisers duldeten die deutschen Zensoren in den Drucken nicht. Anders als die großen Romane ist das kritische späte Schrifttum heute allenfalls über sündhaft kostspielige Antiquariatsangebote oder extrem überteuerte Nachdrucke erhältlich.

Die in diesem Frühjahr eröffnete Tolstoi-Friedensbibliothek sorgt für Abhilfe. Herzstück dieses pazifistischen Editionsprojekts ist die allgemeine Zugänglichkeit von Tolstois pazifistischen, sozialethischen und theologischen Schriften.

Es gibt Open Access, aber für Liebhaber:innen des hoffentlich unkaputtbaren Buches zeitnah auch gedruckte Ausgaben mit leutefreundlicher Preiskalkulation.