Leo Tolstoi und die Religion des Krieges

Seite 2: Texte gegen die Todesstrafe

Für staatstragende Illusionen liefert der russische Dichter, der noch im Jahr vor seinem Tod die Warnung vor einem "Dschingis Khan mit Telegraphen" erneuern wird, kein Material.

Schon als junger Mann spricht Tolstoi dem Staat, der Tötungsapparaturen (heute unverdrossen bis hin zur Atombomben-Habe und -Teilhabe) unterhält, jedes Recht ab, sich als "Hüter von Moral" aufzuspielen.

In Paris macht er 1857 eine folgenschwere Erfahrung. Auf der Place de la Roquette wird vor Tausenden Schaulustigen ein arbeitsloser Koch totgemacht, den das Gericht für schuldig befunden hat, einen Raubmord begangen zu haben:

Ich habe im [Krim-]Krieg und im Kaukasus[-krieg] viel Schreckliches gesehen, aber hätte man in meiner Gegenwart einen Menschen in Stücke gerissen, wäre das nicht so abstoßend gewesen wie diese kunstvolle und elegante Maschine, die einen kräftigen, blühenden und gesunden Menschen in einem winzigen Augenblick tötet.

Als die sozialen Widersprüche im späten Zarenreich zu noch stärkeren Repressionen und massenhaften Hinrichtungen führten, wurden die Protestvoten Tolstois, der sich gerade wegen seiner kompromisslosen Gewaltächtung für das Leben von Revolutionären einsetzte, als staatsfeindliche Schriften geahndet.

Ein Sammelband "Texte gegen die Todesstrafe: Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander" eröffnet die Reihe B der Tolstoi-Friedensbibliothek und ist als Lesebuch konzipiert.

In seinem Geleitwort schreibt Eugen Drewermann:

… Der Protestantismus Luthers verblieb in der Schizophrenie der Zwei-Reiche-Lehre, mit welcher Augustinus in der Zeit nach Konstantin das Christentum in eine staatstragende Religion verwandelte: die Menschen, weil sie böse sind, benötigen den Staat als Notverordnung Gottes; deshalb kann man nicht nur, man muß als Christ Soldat und Richter sein.

So etwas sagen bis hinein in unsere Tage alle Kirchen. Die aufgeklärten Geister aber glauben, ganz ohne Gott und Christus auskommen zu können; sie glauben an die Wissenschaft und an den Fortschritt der geschichtlichen Vernunft und weigern sich, das Anwachsen der staatlich und gesellschaftlich verordneten militärischen, juridischen und sozialen Grausamkeiten anzuerkennen und anzugehen. Kirche und Staat bilden gemeinsam ein unmenschliches System der Lüge, der Gewalt und einer selbstgerechten Ungerechtigkeit.

Diese Evidenz gewann Tolstoi aus der Botschaft Jesu und richtete sie aufrüttelnd und befreiend in der Sprache eines Dichters und in dem Anspruch eines Propheten an jeden Einzelnen nicht anders als auch an die Allgemeinheit.

Das gottlose Kriegskirchentum

In seiner Sinnkrise der 1870er Jahre erahnt der Dichter so etwas wie ein "Lehramt der Armen" und versucht deshalb zeitweilig, sich wieder der volkskirchlichen Praxis zu nähern. Ein Religionsunterricht, in dem seine Kinder Katechismus-Paragraphen über erlaubte Tötungsakte (Hinrichtungen, Krieg) lernen sollen, führt schneller als alle anderen Bedenken zum Abbruch der Annäherungen an die Priesterkirche.

Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem einen Kirchenbau, welcher die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und die Ermordung von Menschen im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt.

Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen "christlichen" Institutionen ohne jede Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden.

Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums. Hier pflichtet der russische Denker sogar dem sonst wenig geschätzten Friedrich Nietzsche bei, der schrieb:

Wer jetzt sagte, "ich will nicht Soldat sein", "ich kümmere mich nicht um die Gerichte", "die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen", ‚ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß … – der wäre ein Christ.

In seinen Attacken gegen den Komplex Kirche – Staat – Krieg zeichnet sich Tolstoi durch eine Vehemenz aus, die noch kirchlich Gesonnene – wie den Verfasser dieses Textes – in Erstaunen oder Erschrecken versetzt.

Noch ohne Kenntnis der auf allen Sendern theologisierten Kriegsgewalt im "Menschenschlachthaus 1914-1918" vertritt er schließlich – besonders nachdrücklich in den Traktaten Muss es denn wirklich so sein? (1900) und Eines ist Not (1905) – die These, es seien weder soziale Befreiung noch Frieden möglich, solange die traurigen Staatskirchen- und Klerikergebilde fortbestehen.

Erst wenn diese gotteslästerliche "falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und … jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören." In seinem Lesezyklus für alle Tage ( Krug čtenija , 1904-1906) wollte Leo N. Tolstoi, der sich in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus nicht mit editorischen Tugenden hervortat, seine Freude an den Sprach- und Lebenszeugnissen anderer mit vielen Menschen teilen.

Wieso kennt kaum jemand die scharfsinnige Kritik der Staatsmacht aus der Feder des sechszehnjährigen Etienne de La Boëtie (1530-1563) oder die Entlarvung des blasphemischen Kriegskirchenkomplexes schon durch einen tschechischen Laienreformator des 15. Jahrhunderts (lange vor dem kriegsaffinen wie staatstreuen Martin Luther)?

Mit Lesebüchern im Dienste des Lebens sorgte der seinerzeit berühmteste Russe für mehr Aufklärung. Die populäre Vermittlung historischen Grundwissens über den Pazifismus der Alten Kirche war den zeitgenössischen Zensoren allerdings schon zu viel des Guten.