Leo Tolstoi und die Religion des Krieges

Seite 3: "Patriotismus ist Sklaverei und Herrschaftsinstrument"

Zu Beginn des unheilvollen 20. Jahrhunderts wendet sich Tolstoi mit folgender Botschaft an seine Menschengeschwister: "Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft".

Patriotismus ist in Tolstois Augen Sklaverei: ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden. In seinem letzten Lebensjahrzehnt sah sich der Mahner aus Russland dazu gedrängt, in immer neuen Anläufen die Warnung vor jener Lehre vom Wohl und Heiligtum des sogenannten "Vaterlandes" zu wiederholen, für die kein Leichenberg zu groß ist, um am Ende eine "Siegesfahne" darauf aufrichten zu können.

Die frühen Christen betrachteten sich nur als Beisassen der irdischen Vaterländer – "beheimatet im Himmel" – und als Vorhut eines neuen – nationenübergreifenden – Menschengeschlechts, das die Kriegshandwerke nicht mehr erlernt.

Die nachkonstantinischen Staatsbischöfe hingegen überschlugen sich darin, das Morden im Namen des Staates zu segnen und die "Vaterlandsliebe" in den Katechismus hineinzuschreiben. Heute werden die Aktualisierer zu Recht auf den Moskauer Oberpopen (bzw. "Obermessdiener") des russischen Präsidenten zeigen. Doch dass die "deutsch-katholischen" Kirchenzeitungen der Bistümer ab 1939 vollgepackt waren mit Propaganda für Hitlers Vernichtungskrieg, während in den Konzentrationslagern eine kleine Minderheit kritischer Laien und Leutepriester zu Tode gequält wurde, will heute niemand mehr wissen.

Die Widersprüche dauern an. Die Berichterstattung über jüngste Kirchentage legt es nahe, dass Waffenlieferungen das "neue Evangelium" ausmachen. Der Bischof von Rom verkündet als Papst der Weltkirche, schon Herstellung, Besitz und Instandhaltung atomarer Massenvernichtungskomplexe seien eine Sünde vor Gott und der ganzen Menschheit (von der Bedienung ganz zu schweigen).

Doch kein einziger von den Bischöfen des in den letzten Zügen liegenden europäischen Bürgerchristentums sagt den Getauften in verständlichem Klartext, sie dürften sich – sei es politisch oder militärisch – an der Infrastruktur der gotteslästerlichen Atombombe in keiner Weise beteiligen. Die Kräfte einer sogenannten "Christdemokratie", die merkwürdigerweise den Obliegenheiten der Armen zumeist fernstehen und dem Militär fast immer sehr verbunden sind, finden solche Diskretion natürlich gut.

In Deutschland lassen sich die zahmen priesterlichen Oberleiter der Bistümer, die noch niemals einen ernsthaften Konflikt mit der milliardenschweren Totmach-Industrie hierzulande ausgetragen haben, unverdrossen Monat für Monat vom Staat eine Dotation von zehntausend oder mehr als dreizehntausend Euro bezahlen, ohne rot zu werden (zu den löblichen Ausnahmen zählt Thüringen).

Theologisch gelten die so stattlich besoldeten Bischöfe trotz ihres gehobenen Standes allen Ernstes als Nachfolger der Apostel des besitzlosen Jesus von Nazareth, der die radikalste Herrschaftskritik der gesamten Weltgeschichte vorgetragen hat und deshalb ans Kreuz geschlagen wurde. Ein solches Kirchentum, das sich selbst zum Gespött macht, braucht freilich keine Kritiker mehr zu fürchten – es sei denn, Leo Nikolajewitsch Tolstoi würde heute wieder gehört.

Der Verfasser ist verantwortlich für Konzeption und Koordinierung des pazifistischen Editionsprojektes "Tolstoi-Friedensbibliothek". Die auf der Projektseite eingestellten Publikationen der in digitaler und gedruckter Form edierten Bibliotheksreihen werden ergänzt durch einen Offenen Lesesaal.

Leo N. Tolstoi
Staat – Kirche – Krieg
Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus
Ausgewählt und neu ediert von Peter Bürger. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 2). Norderstedt: BoD 2023
ISBN-13: 9783734763014; Paperback 320 Seiten; 12,99 Euro
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsseite.