Leo Tolstoi und die Religion des Krieges
Ein Kirchentum, das Militär und andere Totmachkomplexe des Staates legitimiert, hatte für den "Alten von Jasnaja Poljana" nichts mehr mit Christus zu tun. – Zur Eröffnung der Tolstoi-Friedensbibliothek (Teil 1).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der russische Dichter und Pazifist Leo N. Tolstoi weit über die Grenzen Europas hinaus der bedeutsamste Botschafter des Friedens. Er erhielt aus aller Welt Briefe in 26 Sprachen und inspirierte mit seinen religiös-ethischen Schriften Initiativen auf dem ganzen Globus. Im Austausch stand er auch mit Mohandas Karamchand Gandhi, der gleich vier Werke des Russen in eine maßgebliche Literaturempfehlungsliste aufnahm. Der Inder bekannte in seiner Autobiografie:
Tolstois Das Reich Gottes ist inwendig in euch überwältigte mich. Vor der Unabhängigkeit des Denkens, der tiefen Moralität und Wahrheitsliebe dieses Buches schienen alle mir von Mr. Coates (einem befreundeten Quäker) gegebenen Bücher zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen.
Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg durchaus z.T. geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt:
Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.
Copyright-Verzicht – späte Schriften als Eigentum aller Menschen
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 erfolgte sein Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 schloss er die Ehe mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919). Das Paar bekam insgesamt dreizehn Kinder. Ein Hauptwohnsitz war das elterliche Landgut Jasnaja Poljana bei Tula.
Literarischen Weltruhm erlangte Leo Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er-Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens.
Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten, aber auch dichterische Werke wie der Roman "Auferstehung" (abgeschlossen 1899) markieren die endgültige Abkehr von jenem orthodoxen Kirchentum, das wesentlich auf einem Pakt mit der Macht gründet und ihn 1901 folgerichtig exkommuniziert hat.
Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten. Die in der Bergpredigt Jesu wiederentdeckte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich im Vorfeld der beiden Weltkriege zum bekanntesten Wegbereiter von "Nonviolence" werden.
Der Lackmusstest für den Wahrheitsgehalt aller Religionen bestand für Tolstoi in der Ablehnung jeglicher Gewalt und im Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie: "Alle Wesen sind untrennbar miteinander verbunden." – "Die Erkenntnis der Einheit aller Menschen findet immer mehr Verbreitung in der Menschheit."
Die Dringlichkeit dieser Einsicht im dritten Jahrtausend, in dem sich das Geschick des homo sapiens entscheidet, ist in den deutschen Talkrunden der Gegenwart trotz der Aussichten auf einen neuen Weltkrieg immer noch kein Thema – was uns zutiefst beunruhigen sollte.
Tolstoi hielt unbeirrbar am Ideal von Aufklärung und neuzeitlichem Freiheitsringen fest. Er durchschaute jedoch den abgründigen Gewaltschatten der bürgerlichen Revolution (samt missionarischer Militärreligion) und die ideologischen Funktionen einer bestimmten Form von Wissenschaftsgläubigkeit (eine Art früher "Positivismus-Kritik").
Seiner Hinwendung zur real existierenden Lebenswelt der Armen entspricht ein Eigentumsbegriff im Sinne der frühen Kirche (Kritik des Herrschaftssystems der reichen Minderheit, kompromisslose Ablehnung von Ausbeutung und Machtakkumulation durch Bodenbesitz oder Kapitalismus, kein Recht auf private Aneignung gesellschaftlicher Produktionsmittel und wunderbare Geldvermehrung).
Zuletzt gab es durchaus einige zaghafte Sympathien für den Sozialismus, doch Leo N. Tolstoi erkannte dabei hellsichtig wie sonst keiner die Gefahr einer autoritären und gewalttätigen Perversion. Gewaltfreie Anarchisten und "religiöse" Sozialisten wie Gustav Landauer verstanden sein Anliegen.
Tolstoi, der Kulturkonservative, ebnete den Weg zu einer globalen Leserschaft u.a. durch die Nutzung moderner Medienformate und Vertriebsmöglichkeiten sowie einen bahnbrechenden Copyright-Verzicht bezogen auf seine ab 1881 veröffentlichten "Späten Schriften".
So konnte er auch die Folgen der Zensur abschwächen. Staatliche Repressionen der schlimmsten Art trafen die Leser:innen, nicht den wegen seines literarischen Weltrangs und einer großen Anhängerschaft geschützten "Meister".
Wegen der eigentümlichen Urheberrechtsbedingungen wurden die pazifistischen, religiösen und sozialkritischen Werke vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland oft gleichzeitig in mehreren Übersetzungen auf den Markt gebracht. Tolstoi betrachtete Wilhelm II. als "geschwätzigen und unmenschlichen Idioten" (Brief an Bertha von Suttner, 28.08.1901).
Entsprechende Aussagen über die nachweisbare Menschenverachtung des Hohenzollern-Kaisers duldeten die deutschen Zensoren in den Drucken nicht. Anders als die großen Romane ist das kritische späte Schrifttum heute allenfalls über sündhaft kostspielige Antiquariatsangebote oder extrem überteuerte Nachdrucke erhältlich.
Die in diesem Frühjahr eröffnete Tolstoi-Friedensbibliothek sorgt für Abhilfe. Herzstück dieses pazifistischen Editionsprojekts ist die allgemeine Zugänglichkeit von Tolstois pazifistischen, sozialethischen und theologischen Schriften.
Es gibt Open Access, aber für Liebhaber:innen des hoffentlich unkaputtbaren Buches zeitnah auch gedruckte Ausgaben mit leutefreundlicher Preiskalkulation.
Texte gegen die Todesstrafe
Für staatstragende Illusionen liefert der russische Dichter, der noch im Jahr vor seinem Tod die Warnung vor einem "Dschingis Khan mit Telegraphen" erneuern wird, kein Material.
Schon als junger Mann spricht Tolstoi dem Staat, der Tötungsapparaturen (heute unverdrossen bis hin zur Atombomben-Habe und -Teilhabe) unterhält, jedes Recht ab, sich als "Hüter von Moral" aufzuspielen.
In Paris macht er 1857 eine folgenschwere Erfahrung. Auf der Place de la Roquette wird vor Tausenden Schaulustigen ein arbeitsloser Koch totgemacht, den das Gericht für schuldig befunden hat, einen Raubmord begangen zu haben:
Ich habe im [Krim-]Krieg und im Kaukasus[-krieg] viel Schreckliches gesehen, aber hätte man in meiner Gegenwart einen Menschen in Stücke gerissen, wäre das nicht so abstoßend gewesen wie diese kunstvolle und elegante Maschine, die einen kräftigen, blühenden und gesunden Menschen in einem winzigen Augenblick tötet.
Als die sozialen Widersprüche im späten Zarenreich zu noch stärkeren Repressionen und massenhaften Hinrichtungen führten, wurden die Protestvoten Tolstois, der sich gerade wegen seiner kompromisslosen Gewaltächtung für das Leben von Revolutionären einsetzte, als staatsfeindliche Schriften geahndet.
Ein Sammelband "Texte gegen die Todesstrafe: Über die Unmöglichkeit des Gerichtes und der Bestrafung der Menschen untereinander" eröffnet die Reihe B der Tolstoi-Friedensbibliothek und ist als Lesebuch konzipiert.
In seinem Geleitwort schreibt Eugen Drewermann:
… Der Protestantismus Luthers verblieb in der Schizophrenie der Zwei-Reiche-Lehre, mit welcher Augustinus in der Zeit nach Konstantin das Christentum in eine staatstragende Religion verwandelte: die Menschen, weil sie böse sind, benötigen den Staat als Notverordnung Gottes; deshalb kann man nicht nur, man muß als Christ Soldat und Richter sein.
So etwas sagen bis hinein in unsere Tage alle Kirchen. Die aufgeklärten Geister aber glauben, ganz ohne Gott und Christus auskommen zu können; sie glauben an die Wissenschaft und an den Fortschritt der geschichtlichen Vernunft und weigern sich, das Anwachsen der staatlich und gesellschaftlich verordneten militärischen, juridischen und sozialen Grausamkeiten anzuerkennen und anzugehen. Kirche und Staat bilden gemeinsam ein unmenschliches System der Lüge, der Gewalt und einer selbstgerechten Ungerechtigkeit.
Diese Evidenz gewann Tolstoi aus der Botschaft Jesu und richtete sie aufrüttelnd und befreiend in der Sprache eines Dichters und in dem Anspruch eines Propheten an jeden Einzelnen nicht anders als auch an die Allgemeinheit.
Das gottlose Kriegskirchentum
In seiner Sinnkrise der 1870er Jahre erahnt der Dichter so etwas wie ein "Lehramt der Armen" und versucht deshalb zeitweilig, sich wieder der volkskirchlichen Praxis zu nähern. Ein Religionsunterricht, in dem seine Kinder Katechismus-Paragraphen über erlaubte Tötungsakte (Hinrichtungen, Krieg) lernen sollen, führt schneller als alle anderen Bedenken zum Abbruch der Annäherungen an die Priesterkirche.
Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem einen Kirchenbau, welcher die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und die Ermordung von Menschen im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt.
Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen "christlichen" Institutionen ohne jede Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden.
Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums. Hier pflichtet der russische Denker sogar dem sonst wenig geschätzten Friedrich Nietzsche bei, der schrieb:
Wer jetzt sagte, "ich will nicht Soldat sein", "ich kümmere mich nicht um die Gerichte", "die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen", ‚ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß … – der wäre ein Christ.
In seinen Attacken gegen den Komplex Kirche – Staat – Krieg zeichnet sich Tolstoi durch eine Vehemenz aus, die noch kirchlich Gesonnene – wie den Verfasser dieses Textes – in Erstaunen oder Erschrecken versetzt.
Noch ohne Kenntnis der auf allen Sendern theologisierten Kriegsgewalt im "Menschenschlachthaus 1914-1918" vertritt er schließlich – besonders nachdrücklich in den Traktaten Muss es denn wirklich so sein? (1900) und Eines ist Not (1905) – die These, es seien weder soziale Befreiung noch Frieden möglich, solange die traurigen Staatskirchen- und Klerikergebilde fortbestehen.
Erst wenn diese gotteslästerliche "falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und … jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören." In seinem Lesezyklus für alle Tage ( Krug čtenija , 1904-1906) wollte Leo N. Tolstoi, der sich in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus nicht mit editorischen Tugenden hervortat, seine Freude an den Sprach- und Lebenszeugnissen anderer mit vielen Menschen teilen.
Wieso kennt kaum jemand die scharfsinnige Kritik der Staatsmacht aus der Feder des sechszehnjährigen Etienne de La Boëtie (1530-1563) oder die Entlarvung des blasphemischen Kriegskirchenkomplexes schon durch einen tschechischen Laienreformator des 15. Jahrhunderts (lange vor dem kriegsaffinen wie staatstreuen Martin Luther)?
Mit Lesebüchern im Dienste des Lebens sorgte der seinerzeit berühmteste Russe für mehr Aufklärung. Die populäre Vermittlung historischen Grundwissens über den Pazifismus der Alten Kirche war den zeitgenössischen Zensoren allerdings schon zu viel des Guten.
"Patriotismus ist Sklaverei und Herrschaftsinstrument"
Zu Beginn des unheilvollen 20. Jahrhunderts wendet sich Tolstoi mit folgender Botschaft an seine Menschengeschwister: "Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft".
Patriotismus ist in Tolstois Augen Sklaverei: ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden. In seinem letzten Lebensjahrzehnt sah sich der Mahner aus Russland dazu gedrängt, in immer neuen Anläufen die Warnung vor jener Lehre vom Wohl und Heiligtum des sogenannten "Vaterlandes" zu wiederholen, für die kein Leichenberg zu groß ist, um am Ende eine "Siegesfahne" darauf aufrichten zu können.
Die frühen Christen betrachteten sich nur als Beisassen der irdischen Vaterländer – "beheimatet im Himmel" – und als Vorhut eines neuen – nationenübergreifenden – Menschengeschlechts, das die Kriegshandwerke nicht mehr erlernt.
Die nachkonstantinischen Staatsbischöfe hingegen überschlugen sich darin, das Morden im Namen des Staates zu segnen und die "Vaterlandsliebe" in den Katechismus hineinzuschreiben. Heute werden die Aktualisierer zu Recht auf den Moskauer Oberpopen (bzw. "Obermessdiener") des russischen Präsidenten zeigen. Doch dass die "deutsch-katholischen" Kirchenzeitungen der Bistümer ab 1939 vollgepackt waren mit Propaganda für Hitlers Vernichtungskrieg, während in den Konzentrationslagern eine kleine Minderheit kritischer Laien und Leutepriester zu Tode gequält wurde, will heute niemand mehr wissen.
Die Widersprüche dauern an. Die Berichterstattung über jüngste Kirchentage legt es nahe, dass Waffenlieferungen das "neue Evangelium" ausmachen. Der Bischof von Rom verkündet als Papst der Weltkirche, schon Herstellung, Besitz und Instandhaltung atomarer Massenvernichtungskomplexe seien eine Sünde vor Gott und der ganzen Menschheit (von der Bedienung ganz zu schweigen).
Doch kein einziger von den Bischöfen des in den letzten Zügen liegenden europäischen Bürgerchristentums sagt den Getauften in verständlichem Klartext, sie dürften sich – sei es politisch oder militärisch – an der Infrastruktur der gotteslästerlichen Atombombe in keiner Weise beteiligen. Die Kräfte einer sogenannten "Christdemokratie", die merkwürdigerweise den Obliegenheiten der Armen zumeist fernstehen und dem Militär fast immer sehr verbunden sind, finden solche Diskretion natürlich gut.
In Deutschland lassen sich die zahmen priesterlichen Oberleiter der Bistümer, die noch niemals einen ernsthaften Konflikt mit der milliardenschweren Totmach-Industrie hierzulande ausgetragen haben, unverdrossen Monat für Monat vom Staat eine Dotation von zehntausend oder mehr als dreizehntausend Euro bezahlen, ohne rot zu werden (zu den löblichen Ausnahmen zählt Thüringen).
Theologisch gelten die so stattlich besoldeten Bischöfe trotz ihres gehobenen Standes allen Ernstes als Nachfolger der Apostel des besitzlosen Jesus von Nazareth, der die radikalste Herrschaftskritik der gesamten Weltgeschichte vorgetragen hat und deshalb ans Kreuz geschlagen wurde. Ein solches Kirchentum, das sich selbst zum Gespött macht, braucht freilich keine Kritiker mehr zu fürchten – es sei denn, Leo Nikolajewitsch Tolstoi würde heute wieder gehört.
Teil 2: Verweigert das Töten!
Der Verfasser ist verantwortlich für Konzeption und Koordinierung des pazifistischen Editionsprojektes "Tolstoi-Friedensbibliothek". Die auf der Projektseite eingestellten Publikationen der in digitaler und gedruckter Form edierten Bibliotheksreihen werden ergänzt durch einen Offenen Lesesaal.
Leo N. Tolstoi
Staat – Kirche – Krieg
Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus
Ausgewählt und neu ediert von Peter Bürger. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 2). Norderstedt: BoD 2023
ISBN-13: 9783734763014; Paperback 320 Seiten; 12,99 Euro
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsseite.