Vier Tage Amerika

Impressionen aus Washington

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Dienstag, der elfte September, zehn Uhr morgens in Washington D.C. Ich habe hier vergangene Woche an einer Konferenz teilgenommen und warte auf einige Kollegen, die am Samstag für eine Reihe gemeinsamer Termine aus Berlin ankommen sollen. Die freie Woche nutze ich, um Freunde zu besuchen, und versuche, noch ein paar Interviews zu organisieren. Meine Gastgeberin Jenny klopft heftig an die Tür: "Komm schnell - das World Trade Center und das Pentagon brennen!"

Wir sitzen vor dem Fernseher, begierig, neueste Informationen zu erhalten. An Arbeit ist nicht zu denken. Nach einer Weile gibt es ein lautes "Boom", und in allen Zimmern zittern die Fensterscheiben. Wir springen auf und laufen im Haus herum, schauen aus allen Fenstern. Ist das Kapitol, nur drei Blocks entfernt, von einem weiteren Angriff getroffen worden? Unmöglich, die Herkunft zu orten. Nach einigen Minuten wird klar, dass es ein Überschallknall war. Der normale Flugverkehr über Washington, der sonst zum gewohnten Bild am Himmel gehört, ist stillgelegt. Nur Kampfjets donnern jetzt in kurzen Abständen über die Wohngebiete. Fernsehsprecher versuchen, die Anwohner zu beruhigen: "Die sind zu Ihrem Schutz hier."

Bilder und Realität

Zuerst brennt das World Trade Center auf mehreren Etagen, bleibt aber vorerst stehen. Es sieht aus wie ein Großbrand, der immer mal in Bürohäusern ausbrechen kann, wenn in einem Kopierer die Sicherung schmort oder jemand vergessen hat, nach Feierabend die Kaffeemaschine auszuschalten. Was die Wahrnehmung jedoch extrem irritiert, ist das Bild von diesem Schatten in der Form eines Linienflugzeuges, der in den Südturm kracht. Niemand kann das hier richtig aufnehmen, auch die Fernsehsender nicht, die wie in Trance alle ein, zwei Minuten den kurzen Horrorfilm wiederholen.

Im Laufe des Tages entwickelt sich ein Wettbewerb zwischen den Stationen. Wer hat den besten Amateurfilm auftreiben können, mit dem zufällig gefilmten Aufprall des ersten Flugzeuges oder mit einem extra langen Anflug des zweiten? Wer bringt in einem Bild am eindrücklichsten die Explosionen in hunderten Metern Höhe mit den flüchtenden Menschen auf dem Boden zusammen? Einige kleinere Sender gehen dazu über, den Aufprall als ständige Wiederholung in einem kleinen Rahmen am Rand des Bildschirms laufen zu lassen. Die ganz Hartgesottenen zeigen immer wieder die Bilder von den Menschen, die vor Verzweiflung aus den Fenstern springen.

Das Pentagon fällt dahinter in der Horrorskala weit zurück. Im Vergleich zum Anschlag in New York hat das Flugzeug hier eine relativ kleine Wunde geschlagen, und der folgende Brand kann auf einen Block des Gebäudes eingedämmt werden. Vor allem aber gibt es hier keine Livebilder von dem Aufprall der Linienmaschine. Dazu kommt eine rigide Absperrpolitik des an Geheimhaltung gewöhnten Militärs. Die Kameras kommen nicht nah genug heran, um wirklich Dramatisches aufnehmen zu können. Die Bilder aus Washington schwanken also hin und her zwischen dem Weißen Haus, wo Korrespondenten verzweifelt auf Informationen über den Aufenthaltsort des Präsidenten warten, und dem Pentagon auf der anderen Seite des Potomac. Man versucht, überhaupt erst einmal einen Überblick zu bekommen, was hier geschehen ist.

Als die Türme des World Trade Centers zusammenbrechen, kippt die Stimmung. Es fällt zunächst schwer, die Bilder als real anzunehmen - zuviel ist man schon aus Hollywood gewohnt. "Das sah aus wie ein Roland-Emmerich-Film", ist denn auch, was ich in den nächsten Tagen immer wieder höre. Real wird es durch die Menschen, die in den Gebäuden gearbeitet haben. Jeder kennt hier jemanden, der im Finanzdistrikt Manhattans ein Büro ha, oder der einer von 20 000 Soldaten und Angestellten im Pentagon ist. Hektisches Telefonieren beginnt. Eine Tante von Jenny arbeitet neben dem World Trade Center und hatte nach dem Aufprall der Flugzeuge noch bei Verwandten angerufen. Nun ist nichts mehr von ihr zu hören. Unsere Nachbarin Holly, mit der wir am Wochenende noch ausgehen wollten, hat seit kurzem einen Job im Pentagon. Wo steckt sie?

Weil alle Telefonleitungen überlastet sind, bleiben daher zunächst nur die Bilder, die uns immer und immer wieder zeigen, dass sich die Silhouette Manhattans grundlegend geändert hat. Die Fernsehleute sind davon gleichermaßen entsetzt und entzückt. So etwas bekommt man selten geliefert. Die Kommentare überschlagen sich. Schnell wird klar, dass es hier um weit mehr geht als um zerstörte Gebäude und Tausende von Toten. Amerika ist in der Seele getroffen und im Stolz. Hinter vorgehaltener Hand geben auch viele Amerikaner, mit denen ich spreche, zu, dass dies "der perfekte Anschlag" war. Die Symbole des bedeutendsten Finanzzentrums der Welt, innerhalb kürzester Zeit verwandelt in eine Wüste aus Trümmern und verbogenem Stahl; das Hauptquartier des mächtigsten Militärs der Welt, ohne Gegenwehr schwer getroffen - ohne die Live-Bilder des Fernsehens ist die Wirkung solcher Taten gar nicht vorstellbar.

Man spricht von Krieg

"Es sieht aus wie ein Kriegsschauplatz - in der Tat, das ist es geworden", so ein typischer Satz von einem der vielen Reporter in Manhattan. Für einen außenstehenden Beobachter unglaublich schnell verschiebt sich die öffentliche Wahrnehmung, weg von dem reinen Bericht über die Anschläge und ihre Opfer, hin zur politischen Ebene und zur Sprache des Krieges. Besonnene Beobachter versuchen noch, vorschnelle Urteile zu verhindern. "Als die Bombe in Oklahoma explodierte, dachten wir auch alle, es wären islamische Extremisten gewesen. Aber es war einer unserer eigenen Mitbürger", so eine der seltenen Stimmen in den Fernseh-Diskussionsrunden.

Noch ist völlig unklar, wer hinter den Attentaten stecken kann, da werden schon die Archivbilder von America's Most Wanted gezeigt. Osama Ibn Ladin wird innerhalb weniger Stunden zum Hauptverdächtigen, noch bevor das FBI irgendeine Spur hat. Der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey vermutet sogar eine Zusammenarbeit von Ibn Ladins Al-Queda mit dem anderen aus amerikanischer Sicht größten "Schurken", Saddam Hussein. Das Volk, das neben den ständigen Wiederholungen der Anschläge nun auch noch regelmäßig den radikalislamischen Multimillionär in Kampfuniform auf der Mattscheibe ertragen muss, beginnt nach Rache zu rufen. Peter Jennings, Anchorman von ABC News, ist eine regelrechte Erleichterung, als er süffisant bemerkt, dass es schon "eine liebgewonnene Tradition geworden ist, sofort auf Ibn Ladin zu zeigen".

Als einer der ersten schiebt sich der republikanische Senator John McCain vor die Kameras, der George W. Bush in den Vorwahlen um die Präsidentschaftskandidatur unterlegen war: "Dies ist ein Akt des Krieges." Außenminister Colin Powell folgt bald: "Dies ist Krieg, und wir müssen entsprechend reagieren." Justizminister John Ashcroft, der eigentlich oberster Strafverfolger ist, schließt sich an: "Dies ist ein kriegerischer Akt." Noch auf dem Weg nach Washington bezeichnet schließlich auch Präsident George W. Bush die Anschläge als "Akte des Krieges". Innerhalb weniger Stunden ist dies der öffentliche Konsens geworden, befördert durch die Live-Berichterstattung. Mir wird unwohl hier in der amerikanischen Hauptstadt. Einige reden bereits vom dritten Weltkrieg.

Das Establishment nutzt diese Chance zur Profilierung, und viele kramen schnell ihre sicherheitspolitischen Steckenpferde hervor. Senator Rick Santorum knüpft recht platt an die nationale Raketenabwehr (NMD) an: "Was gestern passiert ist, war keine Flugzeugentführung. Es war ein Raketenangriff mit einer Rakete, die mit tausenden Tonnen Flugzeugbenzin geladen war." Senator Fred Thompson, der sich in seinem Unterausschuss mit neuen Technologien befasst, zählt in einer Fernsehdebatte als erstes die Standardszenarien aus dem Bedrohungshandbuch der neunziger Jahre auf: "Massenvernichtungswaffen, Cyberterrorismus,..." Es wird klar, dass diese Anschläge eine neue Runde in der Hochrüstung Amerikas eingeläutet haben - finanziell und materiell ebenso wie ideologisch.

Dazu gehört auch eine Art Verwunderung darüber, dass die Anschläge ohne jegliche Vorwarnung stattfinden konnten. Dies passt nicht zum Selbstbild der stärksten Nation der Welt. Man ist fast empört, dass der umfangreiche Geheimdienstapparat nichts darüber gewusst hat. All die Kriegsschiffe, Panzer und Flugzeuge, die Spionagesatelliten und die Abhörsysteme, das soll nichts genutzt haben?

Die amerikanische Gesellschaft hat eine Obsession für Sicherheit, weil es ihr in vielen Fällen daran mangelt: Es gibt keine mit Deutschland vergleichbare soziale Sicherung; jeder muss selber zusehen, dass das Studium einen Job garantiert, mit dem man die immensen Studiengebühren zurückzahlen kann; Eltern fahren riesige Geländewagen, die ihre mitfahrenden Kinder schützen sollen, auch wenn sie wissen, dass diese Spritschlucker der Umwelt nicht gut tun; in der Zeitung gibt es eine tägliche Liste der im Distrikt begangenen Verbrechen. Nun ist die "nationale Sicherheit" plötzlich das kollektive Gut, das alle verbindet. Sogar die Prediger in den Trauergottesdiensten sprechen davon. So etwas gehört nicht in die Kirche, denke ich.

Man ist im Krieg

Was hier in Washington los ist, geht über das reine Gerede vom Krieg bald hinaus. Ich gehe am Abend mit Wanja, einem Freund aus London, durch die Innenstadt spazieren. Im District of Columbia ist der Notstand ausgerufen worden. Große tarnfarbene Geländewagen blockieren Kreuzungen in der ausgestorbenen Innenstadt Washingtons, mit Militärpolizisten in grüngefleckten Uniformen, die offenbar selber nicht genau wissen, was sie hier sollen. An verschiedenen Ecken sind Ansammlungen von Krankenwagen positioniert. Ein Konvoi ziviler Polizeifahrzeuge hält einen Van an, der offenbar als solcher schon verdächtig ist. In ihm sitzen mehrere Japaner, offenbar eine Gruppe Geschäftsleute, die sich verfahren haben. Der Fahrer behält sein asiatisches Lächeln, als er seine Papiere vorzeigt. Innerhalb von Stunden ist diese Stadt, die sonst sehr weltoffen, bunt und liberal ist, zur belagerten Zone geworden.

Wir gehen ins Wanjas Hotelzimmer, schauen CNN und werfen über den hauseigenen Internetdienst schnell einen Blick in die überquellenden Mailboxen. Keine Ruhe, wirklich etwas zu lesen. Bei Jenny gibt es keinen Kabelanschluss, daher bin ich von dem Informationsüberfluss auf CNN nun fast überfordert. Dennoch starren wir bis spät in der Nacht auf die Mattscheibe, saugen die neuesten Informationen und Gerüchte auf und versuchen, neben dem laufenden Programm noch die zwei verschiedenen Laufbänder mit Kurzmeldungen zu verfolgen. Die ersten schlechten Scherze kommen auf, aber unser Lachen ist gequält.

In New York marschieren die Nationalgarde und die Army-Reserve auf. Sie sollen vor allem bei den Aufräumarbeiten helfen und die Polizei bei der Sicherung der Gegend unterstützen. Das Fernsehen zeigt aber Bilder von Soldaten in Kampfanzügen, die mit Maschinengewehren auf ihren Geländewagen sitzen. Im Großraum Washington wird die Federal Aviation Administration bei der Kontrolle des Luftraumes von den Streitkräften unterstützt. Diese setzten ihre AWACS-Radarflugzeuge ein, um jeglichen Luftverkehr zu überwachen. Neben den Sirenen von Polizei und Feuerwehr hört man immer wieder die Kampflugzeuge.

Weltweit sind die amerikanischen Truppen auf "ThreatCon delta", der höchsten Alarmstufe. Der Kongress wird evakuiert. Wie in den Plänen, die für den Kalten Krieg entwickelt wurden, werden die Spitzen von Repräsentantenhaus und Senat an geheime Orte außerhalb Washingtons gebracht. Dies hat es seit der Gründung der USA noch nie gegeben, nicht einmal während des amerikanischen Bürgerkrieges. Zwei Flugzeugträger halten sich nun in der Nähe von New York auf, und von der Marinebasis Norfolk in Virginia werden fünf Kriegsschiffe - Fregatten und Raketenzerstörer - in die Nähe von Washington in Marsch gesetzt. Der Flugzeugträger USS Enterprise, der sich gerade auf den Heimweg in die USA begeben hatte, bekommt den Befehl, mit seinen Geleitschiffen im Persischen Golf zu bleiben, um den anrückenden zweiten Flugzeugträger zu unterstützen. Stärke zeigen ist jetzt angesagt - als hätte man die Debatten über asymmetrische Bedrohungen nie gehabt.

Jeder Krieg braucht seine Helden. "Heroische Akte" der Feuerwehrleute und Polizeieinheiten werden berichtet. In New York bezeichnen die Feuerwehrleute ihre bei den Rettungsarbeiten ums Leben gekommenen Kollegen als "im Krieg gefallene Kameraden". "Feiglinge" sind dagegen im Munde aller Politiker die Attentäter. Erst am Freitag, als klar wird, dass es insgesamt neunzehn Terroristen waren, die die vier Flugzeuge mit der klaren Absicht zu sterben betraten, kommt kurz so etwas wie Erstaunen auf. Nirgendwo ist dennoch auch nur ein Bericht zu sehen, der versucht, sich in diese Menschen hineinzuversetzen, zu verstehen, warum sie bereit waren, dies zu tun. Man verweist vage auf die amerikanische Unterstützung für Israel und auf die US-Truppenpräsenz in Saudi-Arabien. Daneben werden 10-Sekunden-Soundbytes von "Terrorismusexperten" gesendet, die das so oft gesagte Allgemeinwissen wiederkäuen.

Dominiert wird derzeit alles vom Fernsehen. Wanja kann nicht nach London zurück, sein Flug am Mittwoch Abend ist natürlich abgesagt. Er ruft bei British Airways an, um zu fragen, wann wieder mit Verbindungen nach Europa gerechnet werden kann. "Wir wissen nicht, wann wir wieder starten - schauen Sie CNN."

Die Nation vereint - und zu allem bereit?

Die Dramatik der Ereignisse hat eine unheimliche Atmosphäre der nationalen Einheit zur Folge. Man kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch Amerikaner oder Angehörige der "zivilisierten Welt". Altpräsident Bill Clinton ruft das Volk auf, sich hinter dem Präsidenten zu vereinen. Auch seine Frau Hillary, jetzt Senatorin von New York, sagt wie viele andere George W. Bush die volle Unterstützung für jegliche Maßnahmen zu, auch für "Vergeltung".

Bereits am Abend nach den Anschlägen ist die Diskussion so zugespitzt, dass es nicht mehr um die Frage des ob, sondern nur noch des wie einer militärischen Reaktion geht. Dianne Feinstein, demokratisches Mitglied im Geheimdiensteausschuss des Senats, spricht davon, dass "wir kein Papiertiger sein dürfen". Richard Hoolbroke, unter Clinton UN-Botschafter der USA, sagt, dass man nun "die korrekte militärische Antwort definieren" muss. Präsident Bush, der am Abend nach den Anschlägen eine Fernsehansprache hält, sagt, "unser Militär ist mächtig und vorbereitet." Mir fällt auf, dass er an den Satzenden die Stimmlage nach oben zieht und keine richtige Betonung findet. Komisch, auf welche Kleinigkeiten man jetzt achtet.

Feinstein und viele andere weisen auf den symbolischen Gehalt der Anschläge hin, die zwei wichtige Ikonen amerikanischer Macht in der Welt trafen: das Pentagon als Hauptquartier der Militärmacht USA und das World Trade Center mit dem benachbarten Finanzdistrikt als Zentrale des US-geführten Kapitalismus. Sicherheitspolitische Beobachter in Washington befürchten daher einen ebenso symbolischen Gegenschlag. Ein paar Marschflugkörper auf die üblichen Verdächtigen in Afghanistan oder Irak , wie sie bei anderen Gelegenheiten schon oft abgeschossen wurden, dürften der amerikanischen Öffentlichkeit nicht genügen. Die Volksseele verlangt nach mehr.

Außenpolitikexperten diskutieren am Donnerstag beim Mittagessen bereits die Frage, ob die Regierung Nuklearwaffen einsetzen wird. Eine Freundin hatte mich darauf schon am Mittwoch Abend hingewiesen. Ich bekomme Angst, glaube aber gerne an das Urteil der Insider, soweit werde es nicht kommen.

Am Mittwoch wird in allen Leitartikeln in den großen Zeitungen Amerikas nach Krieg gerufen. Die Auflagen sind schon am frühen Vormittag ausverkauft.

Demokratische Gewaltenteilung und die gerade in den USA so traditionsreiche "Balance of Power" sind nicht mehr vorhanden. Nach einem Treffen mit Bush sagt der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, "wir sind bereit, allem entgegenzukommen, das der Präsident verlangt". Am Donnerstag bekommt dieser vom Kongress seinen Freibrief, "jede Art von als notwendig angesehener Gewalt anzuwenden". Auch international ist Außenminister Powell bemüht, eine umfangreiche Koalition zu schmieden, "um einen neuen Krieg gegen den Terrorismus zu erklären und zu führen". Als die NATO am Donnerstag bereitwillig folgt und den Verteidigungsfall erklärt, wird mir schon wieder mulmig.

Und wieder ist es Peter Jennings von ABC News, der das liberalere Amerika repräsentiert. Er spricht auch noch am Freitagabend, als schon Meldungen von der Einberufung mehrerer zehntausend Reservisten kursieren, von den Anschlägen als "kriminellen Akten" - mit einer speziellen Art der Betonung um die Mundwinkel.

Dass der Kongress nicht formell den Krieg erklärt hat ("Gegen wen auch?", fragen immer noch einige), ist für Völkerrechtler und Staatstheoretiker interessant. Solche Feinheiten, wie auch die Frage, was man denn genau gegen die Terroristen unternehmen will, interessieren weder die großen Fernsehsender noch ihre Zuschauer. Hauptsache, es wird Stärke gezeigt. Man ist aufgeregt, und es erscheint mir als die Freude einer dekadent gewordenen MTV-Generation darüber, dass es plötzlich noch etwas Größeres in ihrem Leben gibt als die Frage, welche Marken in der kommenden Saison angesagt sind. Normale Amerikaner, die durch die Anschläge in keiner Weise direkt berührt sind und die Geschehnisse nur im Fernsehen verfolgt haben, versichern mir ungefragt und mit Stolz in der Stimme, dass sie jetzt "endlich" nachfühlen können, wie es den Menschen in Israel seit Jahren geht. Ich nicke freundlich und denke mir, "Ihr habt ja keine Ahnung".

Welche Stimmung ist die richtige? Gibt es die jetzt überhaupt?

Es beginnt, mir zuviel zu werden. Besonders die spezielle dramatische Art der Amerikaner, mit diesen Ereignissen umzugehen, wirkt für einen an nüchterne ARD-Berichterstattung gewöhnten Zuschauer schnell kitschig. Nach zwei Tagen Fernsehen kann ich die menschelnden Bilder von weinenden Angehörigen nicht mehr sehen. So wie die ständige mediale Wiederholung des Flugzeugaufpralls nach einer Weile dessen wahres Ausmaß verblassen lässt, so wirken die tränenerstickten Erzählungen von Menschen, die aus dem brennenden World Trade Center ihre "loved ones" anriefen, beim dreißigsten Mal nur noch wie Variationen eines vorgegebenen Textes aus einer Soap Opera. Oder finde ich die Mitgefühl vortäuschenden Reporter noch schlimmer? Vielleicht sind es auch nur die seit drei Tagen fehlenden Werbeunterbrechungen, die sonst immer etwas Abwechslung bieten oder die Gelegenheit, schnell in die Küche zu gehen. Ich schalte die Glotze aus.

Jennys Tante und Holly von nebenan sind übrigens wohlauf. Aber einige andere Bekannte und Freunde von meinen Freunden hier sind ums Leben gekommen. Am Samstag Morgen entdeckt Jenny eine gute Freundin unter den Opferbildern auf der Titelseite der Washington Post. Irgendwie sind aber alle durch die tagelange Bombardierung mit Horrorgeschichten so abgestumpft, dass man zu keiner echten Gefühlsregung mehr in der Lage ist. Auf die übliche Begrüßungsfrage, wie es einem geht, hat sich jetzt als Standardantwort ein "I'm ok" eingebürgert. Bis Montag war es noch "I'm fine". Wenn es trotzdem einmal jemandem richtig gut geht, wird das in der Öffentlichkeit nicht gesagt.

Wir gehen am Donnerstag Abend zu einer der ersten Kerzenlicht-Versammlungen. Eine wunderbare Sommernacht, rund um das Wasserbecken vor dem Kapitol sind mehrere Tausend Leute versammelt, überall flackern Lichter. Die Kerzen machen das Ganze unglaublich romantisch. Die Stimmung passt nicht zu den Kriegstrommeln im Fernsehen. Man ist sehr ruhig und spricht mit gedämpfter Stimme, sogar Handyklingeln stört ungemein. Volkslieder werden gesummt, von Woody Guthries "This Land is Your Land" über "Glory Halleluyah" bis zur amerikanischen Nationalhymne. Vor allem Studenten und junge Leute sind hier versammelt.

Das Ganze hat keine so klare Botschaft wie ähnliche Gutmenschenlichterketten in Deutschland. Es geht eher um Seelenmassage, um Nicht-allein-Sein und um Anteilnahme mit den Opfern. "Flagge zeigen" könnte man das nennen, und das ist es im wahrsten Sinne des Wortes auch. Die amerikanische Flaggenindustrie ist wahrscheinlich der einzige wirkliche Profiteur dieser Angelegenheit. Aggressiver Nationalismus deutscher Prägung will aber nicht aufkommen, und das ist für mich eine neue Erfahrung. Eine kleine Gruppe auf der anderen Seite des Wassers ruft laut "USA! USA!", verstummt aber schnell, weil niemand einstimmt.

Anschließend gehen wir noch um die Ecke etwas trinken. Im XandO, einem hippen Cafe auf dem Capitol Hill, sieht es nach einem normalen Sommerabend aus. Leute lachen, flirten, essen, trinken. Die Spannung und Bedrücktheit der letzten zwei Tage löst sich etwas. Wir werden leicht hysterisch und lachen über die albernsten Sachen. Kaum zuhause, ist der erste Griff dann aber doch wieder zur Fernbedienung. Gibt es Neuigkeiten? Auch am Donnerstag, als ich mich mit einer Freundin aus Deutschland abends noch nach Adams Morgan aufmache, um bei ein paar Bieren Neuigkeiten aus Berlin auszutauschen, dreht sich das Gespräch nur um die Anschläge und deren Wirkungen. Man kommt nicht davon los.

In Washington, einem Zentrum der Weltpolitik, ist nach vier Tagen eine durchgehende Entpolitisierung zu spüren. Niemand traut sich, eine wirkliche Debatte über mögliche Hintergründe des radikalislamischen Terrorismus zu führen oder über die Rückwirkungen einer autistischen Außenpolitik der Stärke. Bedenken gegen den Kriegskurs gibt es nur auf der Zweck-Mittel-Ebene. Neunzig Prozent der Amerikaner sind ohnehin für einen militärischen Einsatz, warum soll man da also als Bedenkenträger die Karriere riskieren? Auch die außerparlamentarische Opposition ist gelähmt. Die Gruppen der Globalisierungsgegner, die sich hier in den letzten Wochen intensiv auf die bevorstehende Tagung der Weltbank in Washington vorbereitet hatten, bestehen nur noch aus wenigen Aktiven. Die anderen kommen einfach nicht zu den Treffen oder wollen gleich die ganze Demonstration absagen.

Am Freitag Abend fällt mir auf, dass immer mehr Leute erklären, wie stolz und glücklich sie sind, jetzt Amerikaner zu sein.