Virtueller Blüthenstaub
Von der Romantik, dem deutschen Wesen und anderen unheimlichen Zuständen - Teil 1
London, Herbst 2007: Geschworene betrachten Fotos der sterbenden Lady Di, um deren Tod zu rekonstruieren und damit dem Vorwurf des Vaters ihres Liebhabers nachzugehen, das britische Königshaus sei in ein Mordkomplott gegen die Prinzessin verwickelt. „Die Prinzessin der Herzen“, das imaginär-romantische Verehrungsobjekt der Massen, unzählige Male in den Medien abgebildet, wird nun zum Gegenstand penetrierender juridisch-kriminologischer Untersuchungen. Verklärung und Aufklärung, Herzschmerz in den Medien und Todesvirtualisierungen im Gerichtssaal laufen hier zu einem paradoxen Mentalitätsbild unserer Gegenwart zusammen. Diese Kollision von Gefühlen und Vernunft, diese Kombination von verträumten und traumatischen Bildern, die gleichermaßen Poeten der Regenbogenpresse und Gerichtsmediziner kreativ werden lassen, hätte auch den Romantikern gut gefallen. Denn die Romantik gehört nicht nur zu einer der künstlerisch und philosophisch produktivsten Phasen der europäischen Ideengeschichte, sondern ist zugleich auch deren widersprüchlichste.
Der romantische Tinnitus
In der erbaulichen „Postproduction“ der Epochen zum Nutzen und Frommen der nach Orientierung ringendenden Nachwelt erscheinen wieder die Romantiker. Sollen sie der deutschen Identität auf die Sprünge helfen, weil die Zeitgenossen sich selbst nicht zu helfen wissen? Identität ist Mangelware in global zuwuchernden Welten. Das wusste schon Winnetou, die Multi-Kulti-Rothaut: „Ich bitte um ein Glas Bier, deutsches Bier!" sagte der Indianer mit wohlklingender, sonorer Stimme und im schönsten, geläufigen Englisch. Bei den Deutschen ist das Problem längst paradox bis pathologisch konstruiert: Die Suche nach der Identität ist bereits die deutsche Identität, also eine Art blaue Blume, ein Gral, den man mitunter mit einer Fußball-Weltmeisterschale verwechseln mag. Inspirierend, aber eher unerreichbar. Oder gibt es in der vom trendkundigen „Spiegel“ schnell ausgerufenen „Renaissance der Romantik“ mehr zu entdecken, sodass wir uns – tief reflektiert - selbst näher kämen? Geht es um die Wiederkehr „eines deutschen Gefühls“ (Matthias Matussek), weil andere längst nicht so romantisch sein können?
Pete Doherty und Kate Moss mögen uns also eine romantisch-artistische Liebesgeschichte mit einigen moderaten Exzessen und medientauglichen Wendungen vorführen. Doch fehlt hier nicht die deutsche Tiefe, um von Romantik, wahrer Romantik reden zu dürfen? Und ist Harry Potter gegenüber dem „magischen Idealisten“ Novalis mehr als ein britisches Manga-Märchen für Kinder und leseschwache Erwachsene? Wir reden also von jener abgegriffenen Metapher, die der romantische Postromantiker Friedrich Nietzsche frühzeitig schon diskreditierte:
Dass der tiefste Geist auch der frivolste sein muss, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie.
Trotzdem, das Lob der Oberflächen stößt nach unzähligen Begegnungen mit Flachbildmonitoren in jeder Bedeutung des Wortes mindestens auf Geschmacksgrenzen. Der völkerversöhnende Fußball-Patriotismus reichte nur für die romantische Botschaft von ein bis zwei Halbzeiten. Für einen Gehalt, der über den selbstgefälligen Charme einer konfliktfreien Festtagsgesellschaft hinausgeht, fehlte die Kraft.
An Stelle schwarz-rot-goldener Wimpel packen wir also jetzt wieder unser literarisches Tafelsilber aus, Novalis, Schlegel, Tieck. Was gibt es hier eigentlich zu entdecken? Im Wesentlichen, und da gründelt der Deutsche ja so gern, darf man ein kurzweilig verfasstes Buch von Rüdiger Safranski lesen: „Romantik. Eine deutsche Affäre“. Das klingt wie ein mentalitätsgeschichtlicher Krimi, der den da-Vinci-Code jetzt also in Caspar David Friedrichs Leinwänden aufspürt. Matthias Matussek spricht pathetisch vom „Roman des deutschen Geistes“. Die deutsche Innerlichkeit, das dunkle deutsche Mittelalter, vor allem „das deutsche Waldesrauschen“ (Joseph von Eichendorff), das zu so einer Art romantischem Tinnitus wurde, markieren die Romantik als geschäftiges „branding“, um bis heute den Andenken-Betrieb angefangen mit großen Festtagsformaten bis hin zu asiatischen Themenparks auf den nötigen Weihegrad zu treiben.
Doch so im tiefsten deutschen Herzen geht es erst hinter dem purpurroten Horizont der tödlichen Loreley weiter, wie Rüdiger Safranski beobachtet: „Die Romantiker waren mit ihrem Gefühl, etwas vor sich zu haben und ins Offene hinauszukommen, auch große Virtuosen und Künstler der Autosuggestion.“… „Um in einen besseren Zustand hineinzukommen, da können wir einiges doch auch selber machen. Diese Art bis hin zur Selbstberauschung, diese Art, die die Romantiker gepflegt haben, sich selber sozusagen, wie sie auch sagen, sich selber zu vivifizieren, das ist der Ausdruck bei Novalis, also sich selber zu beleben und nicht schon halbtot zu sein, ehe man ganz tot ist.“ Heutzutage vivifizieren wir zwar eher mit „Viva“ und „Actimel“. Aber gerade deswegen können wir den Gott dieser Romantik, dieses Unterhaltungsüberwesen gegen die unheilige Langeweile, noch hören, wenngleich es bei dieser Resonanz weniger um unsere Identität als unsere wuchernden Freizeitbedürfnisse geht?
Doppelt so hell
Novalis hat diesen frühen Vitalitäts- und Wirklichkeitsveränderungsschub auf eine Formel des rasanten Zeitmanagements gebracht, die auch uns digital Überhasteten als quasi industrieller Erlebnisstandard passen könnte: „Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkürzen, zur assimilierenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmütig, alle Ahnung freudig.“ Novalis, tagsüber als Bergbauingenieur in Salinen tätig, lebte nämlich ähnlich dynamisch wie der nicht weniger auf „Vivifikation“ hoffende Replikant Roy Batty („Blade Runner“): „Das Licht, das doppelt so hell brennt, brennt eben nur halb so lang“. Novalis ist Miturheber der romantischen Jenaer Gesellschaft und betreibt als Jura- und Geologiestudent philosophische Studien auf Höchstniveau. Mit 29 Jahre stirbt er, ohne in seinen unermüdlichen Studien irgendeine Wissenschaft ausgelassen zu haben. Ist Novalis unser Zeitgenosse? Was haben wir mit seiner Romantik zu schaffen?
Der profunde Ideengeschichtler Isaiah Berlin charakterisiert „Die Revolution der Romantik“ als kaum zu überschätzende Epochenzäsur. Nun wird von der Vernunft auf Wille und Tat umgeschaltet. Wer sehen kann, der erlebt zwischen 1789 und 1796 eine philosophische „Supernova“ (Manfred Frank). Das „Romantisieren“ wird zur revolutionären Weltverwandlung schlechthin, die einen erklärten Willen voraussetzt, das Gewöhnliche wundersam zu machen wie umgekehrt das Wunder zum Alltäglichen. Im unendlich tot zitierten Fragment von Novalis heißt es:
Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es - Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche…
Solche phantastischen Projektionen sind in medial avancierten Gesellschaften geläufiger, weil mächtige Medien wie Computer und zuvor Film eine neue perspektivische Macht über die Welt verheißen. Nicht erst radikale Konstruktivisten haben darauf gewiesen, dass die Welt sich nicht in der Wahrnehmung erschöpft, sondern immer wieder erst hergestellt werden muss. Mit Fichte erfüllt sich der Geist in der Tat, das mächtig werdende „Ich“ setzt Welt und Geschichte und unterwirft sich ihnen nicht. Für den menschlichen Schöpfer hat das nach Isaiah Berlin fundamentale Folgen. Von nun an gibt es keine eindeutige Menschennatur mehr, das Subjekt erschafft sich selbst und seine Werte, während das Objekt nicht länger behaupten darf, von höherer Herkunft zu sein. Die Welt, lange vor dem Farbfernsehen, wird in den sich unabsehbar entfaltenden Bewusstseins(t)räumen bunt. Das hat unmittelbare politische Konsequenzen, die Nationalismus, Partikularismus und Exotik im Guten wie im Schlechten fördern. Nicht nur die Menschen sind höchst verschieden, auch die Nationen und ihre Werte sind nicht kompatibel, sodass Universalbeglückungsdiskurse, die heute wieder mächtige Armeen auf den Plan rufen, damals dubios erscheinen.
Mit der Romantik endet vorläufig die Geschichte der bereits zuvor schon angeschlagenen klassischen Wahrheit und ihrer klassischen Helden. Für die neuen Protagonisten der Romantik gilt nicht mehr (und noch nicht) wie Buchhalter ihre bürgerlichen Verdienste zu verbuchen, sondern es sind nun die erhabenen Gefühle selbst, die Formen des Schicksalsmediums „Mensch“ wie Tragik, Pathos und Gesinnung, aber auch Zustände unbekannter Art, die erst das Leben adeln, sprich also: romantisieren.
Vertrackte Gefühlswelten
Universalpoesie, wie sie der noch nicht zum Katholizismus konvertierte Friedrich Schlegel predigte, erscheint uns auf den ersten Blick als unwiederbringliches Ideal einer eingestaubten Epoche und sei es auch der Staub von vormals exotischen Blüten. Unser stolz gehütetes Halbwissen reduziert sich im Angesicht der digitalen Herrlichkeit auf immer kleinere Portionen, bis das vormals so herrliche Subjekt des Wissens sich bald nur noch mit Info-Prothesen voranbewegen kann. Wir kennen keinen menschlich begehbaren Königsweg der Welterschließung mehr und am wenigsten würden wir ihn in der „Poesie“ suchen, „poetry slam“ hin oder her oder am besten gar nicht.
„Innigste Gemeinschaft aller Kenntnisse, szientifische Republik ist der hohe Zweck der Gelehrten“, verkündete Novalis, der zwar nach blauen Blumen suchte, sich aber auch aus poetischen Gründen ebenso für deren biologische Eigenschaften interessiert hätte. Eine solche Gelehrtenrepublik fröhlicher Wissenschaft ist von der „Berliner“ Gefühlsrepublik, die von Wählerstimmungen abhängige Politik macht, ihre militärromantischen Abenteuer am Hindukusch sucht und das Zentralabitur für eine Erfindung des Teufels hält, um einige Lichtjahre entfernt.
„Gefühl“ ist ein unausgeloteter, fast klebriger Schlüsselbegriff des Romantischen. Novalis irritiert mit der Feststellung, dass die Grenzen der Gefühle die Grenzen der Philosophie seien. Das beunruhigt auch den gegenwärtigen Alltagsverstand, Gefühl und Vernunft respektive Verstand manierlich zu trennen. Dabei wissen wir, dass Wissen ohne Gefühl, Wahrnehmungen ohne Emotionen unüberwindbare Hindernisse der Wirklichkeitserschließung bereiten. António Damásio hat diverse Fallbeispiele präsentiert, wie Handlungsfehler und Wirklichkeitsverluste auf somatisch bedingte Gefühlsläsionen zurückzuführen sind. Die frühen Romantiker gehen über diese Integrationstheorie von Verstand und Gefühl noch hinaus, weil sie auf das nicht Sagbare, das Absolute, die nicht ausschöpfbare Wirklichkeit zielen. So gibt es bei Novalis einen fröhlichen Rollentausch von Reflexion und Gefühl, was dann so vordergründig bizarre Gesten begründet wie die Andacht, mit der man ein mathematisches Buch ergreifen müsse. Denn anderenfalls, das sei allen Mathe-Paukern geklagt, verstünde man es nicht!
Rüdiger Safranskis Romantik-Konzept befasst sich mit diesen philosophisch-poetischen Neuverschaltungsversuchen von Körper, Geist, Vernunft, Verstand, Gefühl, Reflexion und Handlung in der Spannung von Unendlichkeit und irdischer Existenz weniger, sondern folgt zuvörderst dem Bild des romantisch Visionären. Manfred Frank, der bedeutendste Kenner der Frühromantik, spürt dagegen in seinen Vorlesungen diesen längst nicht durch die Rezeption vereinnahmten Diskursen nach, die jedenfalls die überlieferten Klischees romantisch einsinniger Gefühlswelten mächtig durcheinanderwirbeln.
So will etwa Novalis über die Kritik der Reflexion durch Reflexion zu diesem Punkt gelangen: „Alles Absolute muss aus der Welt hinaus ostraciren. In der Welt muss man mit der Welt leben.“ Das klingt wiederum alles andere als romantisch, weil hier der Platz für Gott und Götter eng wird.
Friedrich Schlegel argumentiert stellenweise wie ein gnadenloser Systemtheoretiker, wenn er die Durchdringung der Welt mit Wissen propagiert: Nicht den Durchschnitt der Bildungsarten fordert er, sondern eine Kunst, die noch künstlicher, eine Kritik, die noch kritischer ist und so fort. Diesen Ausdifferenzierungen hätte auch Niklas Luhmann, dessen Systemlogik nicht allzu sehr unter Gefühlshochdruck leidet, ohne Vorbehalte zustimmen müssen. Schlegel singt andererseits aber das Loblied des Chaos des kombinatorischen „Witzes“, der kein systematisches Zentrum kennt. Es geht in der frühen romantischen Neuentfaltung der Welt um Berührung, Ansteckung, Befruchtung, ohne in der „Affinität aller Ideen“ (Novalis) die Differenzierungen zu vergessen, aber auch ohne dieses fragmentarische Universum je verlassen zu können. Goethe und andere Klassiker provozierten diese gleichermaßen komplexen, wie aber auch unklaren bis widersprüchlichen Entwürfe von Mensch und Welt, so wenig uns die epochale Zäsur zum gefühlsechten Autor des „Werthers“ einleuchten mag, der weiland die Jünglinge vor lauter vergeblichem Liebesrauschen in den Selbstmord trieb.
Mission Impossible
Was also Romantik ist, ist seitdem eine offene Frage, deren theoretische Beantwortung ohnehin das Lebensgefühl nicht ersetzt. Wenn Schlegel formuliert, dass der Künstler sei, „wer sein Zentrum in sich selbst hat.“, leuchtet jene Ganzheitlichkeit auf, die spätestens mit der Invasion östlicher, insbesondere buddhistischer Lebenskonzepte die westliche (Partikular)Existenzen provoziert und die für Schopenhauer zum großen Thema wird. In derlei disparaten Anmutungen einer neuen Lebensweise muss der „progressive“ Romantiker zu einer fragilen Figur werden. Schlegel erkennt durchaus in den Zuständen der Zerrissenheit, in undefinierten Gefühlen und wenig harmonischen Wegen einen „Fehler“ dieses Typus. Widersprüche sind der Romantik eigen, gegründet in dem Fundamentalwiderspruch zwischen Absolutem und Endlichkeit. Nur in der Ironie, im Paradox oder Witz kann sich der Mensch für einen kurzen Moment des Scheins über dieses bedingte Schicksal seiner Gattung hinwegsetzen. Das lässt Novalis feststellen, dass „Menschheit“ eine humoristische Rolle ist. Man sucht das Unbedingte und findet Dinge, sekundiert Friedrich Schlegel. Benötigt das menschliche Ingenium besondere Stimmungen, wie sie die Romantiker suchten, um die krude Welt überhaupt auszuhalten?
Romantik erscheint als ein Reflex auf nichtromantische Zustände und wird folglich als bloßes Epochensignum kaum erschöpft. Rüdiger Safranskis Opus erstreckt sich daher im zweiten Teil auf „Das Romantische“. Offensichtlich hat ihn nicht der Befund geschreckt, den Helmut Prang seiner „Begriffsbestimmung der Romantik“ 1968 lakonisch vorstellt: „Da sich die meisten Formulierungen und Deutungen, Definitionen und Umschreibungen der Romantik durch Widersprüchlichkeit noch immer teilweise gegenseitig auszuschließen scheinen, empfiehlt es sich, zur Zeit wenigstens, von dem geradezu hoffnungslosen Versuch abzusehen, eine neue Wesensbestimmung zu wagen.“
Man kann also über Romantik reden, ohne Gefahr zu laufen, das Thema zu verfehlen, was dieses antinomische Stück Ideengeschichte im Oberseminar und Feuilleton zum Renner macht. Die kulturelle Promiskuität auf vielen Ebenen entspricht dem „corporate design“ der Romantiker, nicht die romantische Welt zu suchen, sondern sie herzustellen und üppig auszustatten. Es geht, wie Arthur Schopenhauer kraftmeierisch formuliert, um „Wille und Vorstellung“, um eine virtuelle Welt, die mit der scheinbar vorgängigen Welt nun konkurrieren oder gar ineinander laufen kann. Novalis ist zu radikalen Schlussfolgerungen bereit, die erst im Cyberspace richtig plausibel werden: „Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit sind eins“ und träumt dabei von der Kunst, allmächtig zu werden. „Magie ist = Kunst, die Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchen.“ Über diese „Magie“ des Novalis ist viel spekuliert worden, doch außer Phantasie und Papier gab es seinerzeit keine technisch avancierten Willkürlichkeiten. Erst eine technisch virtualisierte Welt wäre, mit Fichte gesprochen, so autonom und ideal, wie das Subjekt, das sie schafft.
Bloggermania: Novalis, Godfather of Blogs
"Novalis ist der einzig wahrhafte Dichter der romantischen Schule, nur in ihm ist die ganze Seele der Romantik Lied geworden" (Georg Lukács). Doch dieser Traditionsansatz erfasst nicht die medialen Radikalisierungen eines Dichters, der Poesie nicht ohne ihre Medialität denkt und so zu erstaunlichen Erkenntnissen kommt, die erst später zu expliziten Erleuchtungen der Medientheorie werden. Die neuen medialen und literarischen Techniken passen zur Virtualisierung einer übermächtigen, weltschöpfenden Subjektivität. Novalis reflektiert ständig über das Mediale, der Gebrauch des Wortes „Medium“ ist bei ihm und Friedrich Schlegel geradezu auffällig (Jochen Hörisch) und er notiert den Eigenwert des Medialen lange vor Marshall McLuhan so: „So ist jedes Ding das Mittel selbst, es kennen zu lernen – es zu erfahren, oder auf dasselbe zu wirken.“ Das war keine periphere Idee für diesen Dichter, der die Kraft der Assoziationen in der Poesie jenseits des Reichs der Zwecke ansiedelte und die Idee des Mediums als Botschaft auch auf die bis heute geltenden Kommunikationsphantasien verständigungsorientierter Diskurse bezog: „Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen…“ Diese Wahrheit haben wir erst im Angesicht des TV, nach unzähligen politischen Reden begriffen. Der herrschaftsfreie Diskurs, die auf Verständigung bauende Rede blieben jedenfalls im öffentlichen Raum bloße Theorie.
Novalis, der mit seinem netz- und reklametauglichen Nickname („Neuland roden“) ziemlich umstandslos zum Star der Szene avancierte, war ein Blogger-Freak vor der Zeit, der zusammen mit Friedrich Schlegel kistenweise Fragmente mit tiefsinnigen, philosophischen, alltäglichen bis banalen Einfällen produzierte, aus allen Lebensbereichen und insbesondere auch aus jenen, die teilweise heute noch nicht erfunden sind.
Das Material ist immer noch unvollkommen rezipiert, was Manfred Frank feststellen lässt, dass Novalis als philosophischer Autor weitgehend unbekannt sei. Das „Fragment“ ist mehr als eine bloß gattungsspezifische Befreiung von alt gewordenen Formen. Mit dieser Form der Formlosigkeit verbindet sich ein disparater Lebensstil, den wir auch als unseren ansehen und inzwischen digital durchformen, wenn die unzähligen Mitteilungen und Informationen zum chaotischen „patchwork“ unseres höchst fragmentarisch-vergoogelten Weltverständnisses werden.
Es sind diese Gedankensplitter, Assoziationen, halbwachen Zustände, bekannten und namenlosen Empfindungen, die nun nicht mehr achtlos großen Wahrheiten oder dem konsistenten System geopfert werden. Tödlich ist es also, wie es in einem Fragment heißt, ein System zu haben und doch auch, keines zu haben, was geradewegs zu Paradoxien führt, die dann in der Systemtheorie zum Welterschließungsstandard werden. Permanent gerät man in Selbstwidersprüche, die Schlegel auf diese Spannung zwischen dem Absoluten und dem endlichen Menschenwesen zurückführt und die Novalis methodisch mit der eigenen Freiheit hadern lässt: Wäre es nicht besser, das Ganze zu erfassen?
Wenn die Gegenwart charakterisiert werden müsste, dann jedenfalls auch so, die so genannte Wirklichkeit entwirklicht zu haben. Frühromantiker sind Realitätskritiker, die hinter dem Vorhang eine Wirklichkeit erahnen, die nach Isaiah Berlin „keine Struktur aufweist, die ein Strudel, ein unablässiger tourbillon des schöpferischen Geistes ist, den kein System zu erfassen vermag.“ Der Begriff begreift es nicht. Diese Bewegung fassen nur Fragmente, weil jede klassische literarische Form das Tempo verfehlt. Das wirkt auf den Beobachter zurück, der sich nicht in den Lehnstuhl zurücklehnen darf, der nicht gemächlich, verständig und vernünftig, aufgeklärt und wissend die Wirklichkeit wie ein erträgliches Bühnenstück an sich vorbeiziehen lassen darf.
Romantische Welten bei Ludwig Tieck oder E.T.A. Hoffmann sind so instabil wie virtuelle Szenen, deren Wandelbarkeit allenfalls der Programmierer kennt. Heute heißt das „second life“, virtueller Blütenstaub, der just jene widerständige Wirklichkeit austreibt, die den aufrechten Gang in ständig präsenten Katastrophen so beschwerlich macht. Mit einem Wort: Man kann fliegen und sich eine zweite virtuelle Haut besorgen, die bescheidenen Wirklichkeitskostüme und ihre biologische Gebrechlichkeit vergessen. Sind virtuelle Zeitgenossen Techno-Romantiker, die in Neuen Medien ihre tiefere Wirklichkeit finden? So richtig romantisch sind wir erst im Virtuellen, weil hier die produktive Einbildungskraft ein wirklichkeitsnäheres und manipulationsfreudigeres Medium findet, als es Bücher oder Reden sind. Kurzum: Romantiker sind absurd, surreal, existenzialisch, postmodern, bevor sie modern werden konnten, sie sind alles andere als die Repräsentanten einer ideengeschichtlich konsistenten Epoche, zu der sie dann posthum gemacht wurden, um sie überschaubar und verehrungswürdig zu halten.
Nachweise:
Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.
Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M. 1989.
Manfred Frank, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007.