Virtueller Blüthenstaub - Teil 2
Von der Romantik, dem deutschen Wesen und anderen unheimlichen Zuständen
Unser Zeitgeist hofft immer im nächsten Sommer auf schönere Farben. Die bunteren Momente des bundesrepublikanischen Zeitgeistes sind gleichwohl dünn gesät und meistens nur als Pflänzchen schön gewesen, etwa die 68er, die ursprünglich als polit-romantische Originalgenies antraten und später hinter Biedermann, Nostalgie und Ikea-Regal ähnlich wie die alt gewordenen Spätromantiker hundert Jahre zuvor als Verräter ihrer eigenen Morgenröte erschienen. Wie konnte es dazu kommen?
Alles ist romantisch
Friedrich Schlegel meinte in jenen jungen, starken Tagen der Romantik über seinen Freund Novalis, Poesie und Philosophie hätten sich in ihm "innig durchdrungen", was in dessen Selbstbeschreibung wiederum lautet: die Poesie wird zum Kern der Philosophie. Bei Friedrich Schlegel reicht diese Empfindlichkeit gegenüber einem sich gefährlich aufspreizenden Wahrnehmungskosmos gar zum politisch-praktischen Entwurf:
Die erste Regelung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit, und eine grenzenlose Reizbarkeit des Gemüts.
Aus diesen und ähnlichen Splittern schimmert die Ästhetik des politischen Widerstands durch, die eben die Unbotmäßigkeit des Untertans als revolutionäres Formproblem erfasst und den gesellschaftlichen Veränderungswillen mit romantischen Attitüden kurzschließt. Man will nicht nur den Horizont erahnen, sondern die Aktion selbst soll schon zum Vorschein des Kommenden werden. Die "grenzenlose Reizbarkeit des Gemüts" legt nun fest, dass nicht der Konsens oder gar Kompromiss eine Gesellschaft bestimmen dürfen, sondern die Empfindlichkeiten, die vorher als schlechte Erziehung abgetan worden wären, zur Richtschnur des wahren Menschseins werden.
Was sich so revolutionär-situationistisch anhört, endete dann aber bei nicht wenigen romantischen Heißspornen zügig wieder in bürgerlichen Sicherheiten und lehrstuhlbeflissener Wissenschaft. Dieser Zwiespalt zwischen der eigenen Wahrheit, die kaum vom Lebensgefühl zu trennen ist, und jenem Objektivitätsterror ist eine schwierige Haltung, die später von Friedrich Nietzsche und Sören Kierkegaard, und dann schließlich äußerst radikal von Postmodernen und Dekonstruktivisten fortentwickelt wurde.
Rüdiger Safranski spürt diesen Verbindungslinien zwischen der Romantik und den Protestbewegungen nach, die den jeweiligen Irrsinn der so genannten Wirklichkeit mit romantischen Gegenentwürfen konfrontierten. In diesem Epochendesign erscheinen die Romantiker als Vorfahren der Lebensreformbewegung nach dem ersten Weltkrieg oder Geistesbrüder der 68er: "Es war eine durch und durch romantische Aufbruchsbewegung, das Erotisch-Dionysische." "Romantik ist der erste Pop" assistiert Matussek. Und das kann man deshalb so folgenlos behaupten, weil weder der Begriff "Romantik" noch seit Andy Warhol gar der des "Pop" definitorisch sperrige Kategorien wären. Also ist die Romantik nur einen Pollenflug weit von Haight-Ashbury, Hippie-Ritualen und 68er Revolte entfernt. Soviel ist wahr: Die Phantasie wollte immer schon an die Macht kommen, Imagination als Medium einer besseren Welt- und Selbsterschließung ist eine alte Hoffnung.
Romantische Restposten
Das gegenwärtig neu entdeckte Lebensgefühl der Romantik funktioniert aber ähnlich wie die seinerzeit von Charles Wilp ozeanisch angerührte "Afri-Cola" – alles ist in dieser schwarzen Suppe enthalten, es kommt jetzt nur noch darauf an, es auch herauszuschlürfen. Wildromantisches und vor allem Banalromantisches wird heute mit viel Publikumsbeifall in die Kiste folgenloser Clownerien verräumt – zu Recht oder zu Unrecht ist dabei die Frage, die kaum einer glaubt entscheiden zu müssen.
Jonathan Meese, Christoph Schlingensief, Christoph Marthaler sind etwa solche Romantiker, die durch den (neo)dadaistischen Windkanal geschickt wurden, um nun im selbstbezüglichen "System Kunst" gut kontrolliert, wildromantische Entspannungsfantasien für Bürger zu garantieren, die vor allem Angst haben, Spießer zu sein und sich aus psychohygienischen Gründen erregen wollen oder müssen. Auch das ist natürlich typisch deutsch, die Beteiligten, spätromantische Künstler und tabuverletzungsbedürftiges Publikum sind Komplizen, die sich folgenlos beschimpfen und darin ihren Frieden finden.
Schon zuvor hatte Joseph Beuys das romantische Ideal "Kunst = Leben" so erfolgreich in hermetisch plakative Formen gegossen, dass die kryptische Romantik zu einem deutschen Exportschlager des internationalen Kunstmarkts mutierte. Das klassische Ideal der Schönheit mag dabei auf der historischen Strecke bleiben, die sakrosankte Wahrheit zum Treppenwitz verkommen und die Moral stinken. Doch das "Interessante" bahnt sich nach Schlegel seinen Weg, der mit diesem Diktum als Kassandra unseres Kulturbetriebs gelten darf. Übersetzt für die Gegenwart heißt das also: die Unterhaltungs- und Aufmerksamkeitskultur, die nicht nach Wahrheit und Werten, sondern systemübergreifend nach dem Kitzel fragt, ist ergiebiger als die Trias der ewigen Werte.
Belege für diese romantische Dauerdröhnung finden sich nicht nur im angestrengten Kunstkommerz oder in der romantischen Restpostenverwaltung in Bayreuth, sondern ökonomisch relevanter, in den unzähligen überzuckerten Filmen aus Holly- und Bollywood, in den trüben Gefühlsverkitschungen der Telenovelas bis hin zum literarischen Elend der Bestseller. Diese variantenreiche Kulturindustrie (de)kultiviert indes nicht nur den Massengeschmack und entfremdet den Menschen in Warenbeziehungen, wie es Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschrieben. Es geht um unverzichtbare Reaktionen auf hungrige Gefühlswelten, die so direkt gestillt werden müssen wie andere Fastfood-Bedürfnisse auch.
Erst kommt der Klingelton, dann die Kommunikation. Dabei ist die wichtigste Stimmung dieses Betriebs die zukünftige, weil unsere Gegenwart ihr Bekenntnis vornehmlich darin findet, an die Zukunft zu glauben. Neulich verriet ein Werbe-Zampano sein Weltwissen in der Formel, die Männer seien nun nicht länger "Zeitgeistverlierer", weil sie den "Konsumhedonismus" entdeckt hätten. Selbst hinter Neodadaismus, Neostrukturalismus oder Neo Rauch gibt es also noch unbekannte Stimmungen, die auf neue, futuro-mantische Träumer warten.
"Gemüthererregungskunst" ist seit dem frühen 19. Jahrhundert bis hin zu den gegenwärtigen populären Niederungen der Comedy-Shows unabdingbar, weil hier so befreiend die spöttische Geste gegenüber dem eigenen wie fremden Gefühl zum romantisch ironischen Mehrwert wird. Die Varianten der romantischen Spätverfassungen sind zahllos: Die Mädchen und Jünglinge dieser Tage mit verträumtem Blick unter struppig verspielten Haaren sind allesamt Taugenichtse, wie sie Eichendorff kreiert hat und enden wohl auch alle da, in ihren mehr oder weniger beschaulichen Lebensverhältnissen, in denen die genannte Angst, ein Spießer zu sein, sich in pure Lust verwandelt. Die Pop-Musik quillt seit Jahrzehnten über vor romantischen Sehnsüchten, die in allen Tonarten bedient, was der E-Musik-Konkurrenz, die im 19.Jahrhundert die Höhepunkte der Romantik erklomm, kaum mehr gelingt. Auch wenn "candlelight dinners", Romantik-Urlaub oder "fashion victims" als trivialisierte Schwundstufen erhabener Romantik gelten, sind die romantischen Bedürfnisse unterschiedlicher Erlebnis-Milieus so verschieden nicht.
Romantische Richter und kalte Romantiker
Wer dagegen unromantisch ist, den bestraft das Leben. Etwa Maxim Biller. Die Veröffentlichung seines Romans "Esra" wurde gerichtlich verboten. Zuletzt bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung, weil die Persönlichkeitsrechte von Billers Freundin und deren Mutter verletzt worden wären. Wie konnte es zu dieser Panne der Kunstfreiheit kommen? Biller wurde von der Justiz vorgeworfen, dass die recht offenen Darstellungen der beiden Frauen zu nahe am Objekt seien. Der Autor hatte also, wie wir jetzt wissen, vergessen, seine Geschichte zu romantisieren. Hätte er die (ihm sicher bekannte) Novalis´ Regel beherzigt, das Wunder zum Gewöhnlichen oder eben umgekehrt die saftig präsentierten "dramatis personae" zu Mythenwesen zu machen, hätte die Kunstfreiheit obsiegt. Stattdessen existiert jetzt eine gemischt juristisch-ästhetische Theorie: Die Kunst ist romantisch verfremdend - oder sie ist nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie sich Freiheiten herausnimmt.
Vielleicht jedoch sind dann die Freiheiten keine mehr und vielleicht können auch hinter künstlerischen Bizarrerien Zeitgenossen effektiv diskreditiert werden, wofür die Literaturgeschichte übrigens zahllose Beispiele bereithält, aber die Botschaft ist unhintergehbar: Der Schein der Kunst muss so weit romantisiert werden, dass ein deutscher Richter nichts Böses mehr dabei denkt.
Dabei haben die Romantiker selbst zu derlei großzügigen Assimilationen beigetragen, weil sich in der progressiven Universalpoesie auch ständig alles zu mischen scheint. Novalis wird zwar von der Romantik-Rezeption mitunter als hybrides Zwischenwesen aus dem Reich der Elfen gefeiert, nicht nur weil er in jenem kultverdächtigen Alter starb, in dem sich auch Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Janis Joplin verabschiedeten. Aus der Hypochondrie müsse man eine Kunst machen, die einige Jahrzehnte später Joris-Karl Huysmans am Fall "Des Esseintes" in allen künstlichen bis perversen Untiefen entfaltet. Mindestens ebenso war Novalis ein Verstandesmensch, was auch für seinen philosophischen Ziehvater Fichte galt, der zwar wildspekulativ und rhetorisch penetrant werden konnte, aber eben seine Karriere damit einleitete, mit Immanuel Kant verwechselt zu werden. Es ist das Schicksal der vielseitigen Romantiker, einseitig interpretiert zu werden, sodass sie vornehmlich als Protagonisten der promisken Einbildungskraft und später der dunklen, verdrängten Phantasien der gattungsspezifischen Standortpolitik ausgesetzt waren.
Doch wer die Einbildungskraft als exklusives Medium der Romantik begreift, verfehlt den Zugang: "Ich bin überzeugt, dass man durch kalten, technischen Verstand und ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren Offenbarungen gelangt, als durch Phantasie, die uns bloß ins Gespensterreich, diesen Antipoden des wahren Himmels, zu leiten scheint." Das sagt nicht etwas Descartes oder Immanuel Kant, sondern Novalis. Auch wenn man der Krise des Logos nur mit Poesie beikommen kann, ist das kein Grund, die Bordmittel menschlicher Erkennens zu vergessen.
Wenn es bei Novalis heißt, dass "alles" Lebensmittel werden muss, ist damit eben auch entschieden, dass Vernunft und Verstand nicht abdanken. Zwar ist die Einbildungskraft der "wunderbare Sinn, der uns alles Sinne ersetzen kann" (305), doch mindestens ebenso setzt dieser Romantiker auf Mathematik und Naturwissenschaft, die sich in jenen Tagen immer stärker in den Alltag hinein schoben. Man muss sich dem Geheimnis dieser Welt auch von dieser Seite nähern, was sich dann in so wundervoll hybriden Begrifflichkeiten wie "Experimentalphysik des Gemüts" oder "Mystische Geometrie" niederschlägt und von der "kosmopolitischen Ideenpolitik" zur "Steinpolitik" und "Pflanzenpolitik" führt. "Der Poet ist also der transzendentale Arzt." (Novalis). Wer heute von sozialer oder emotionaler Intelligenz spricht, macht im Prinzip auch nichts anderes, als Emotionen ganzheitlich zu interpretieren. Vielleicht liegt daher gerade darin das größte und zugleich widerspruchvollste Versprechen der Romantik: Weltflucht und Hinwendung zur Welt zugleich zu sein.
Wie viel Romantik brauchen wir?
Können wir aus der Geschichte von Leuten lernen, die jenseits technisch und gesellschaftlich ausdifferenzierter Gesellschaften im Vorschein der Moderne glaubten, mit poetischen Modellen die Welt durchschaubarer und erträglicher zu machen? Das wurde paradigmatisch so verfasst: "Die Kunst auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik." Kurzum, das Paradox wird zur Methode, Ich ist Nicht-Ich und erst die Entfremdung führt zur Authentizität – oder, wie es Novalis schwärmerisch formuliert: "Ich bin Du." Das ist es, was die Romantik für unsere Gegenwart, der die Epochenbegriffe abhanden gekommen sind, so attraktiv macht. Auch wir deuten unsere Zustände je verschieden, was letztlich nichts anderes anzeigt als den Umstand, dass wir noch nicht bei uns angekommen sind und das wohl auch ein irreales Ziel wäre. Wir sind romantisch in unserer Relativität von Zuständen, die sich dem gerade Erlebten, ob nun dieser oder jener Politik, dem letzten Film oder der letzten Musik emotional verschreiben, um morgen schon wieder saisonal andere Identitäten für besser lebbar zu halten. Von "second life" zu "multiple life".
Schon in der virtuellen Frühzeit wurde dieses köstliche Versprechen entdeckt: Virtuelle Existenzen sind Befreiungen von dieser lästigen Pflicht, ein kohärentes Subjekt für andere zu werden. Medien, unsere unverzichtbaren Begleiter, lassen fast jeden Zustand zu, ohne darüber zur Botschaft zu werden, ihr Signum bleibt eine göttlich schwebende Gleich-Gültigkeit. Unsere relative Austauschbarkeit der Zustände ist nicht Schwäche oder Ausdruck der Toleranz, sondern das reflexive Eingeständnis, dass wir permanent in Zwielichtzonen der Wahrheit leben müssen. Damit sind wir auch Romantiker, ob nun mit oder ohne "magic mushrooms", Schmuse-Musik nebst Dimmer oder anderen Fluchtgeräten.
Dunkle Romantik
Romantik in diesem Sinne und mit vielen Sinnen ist also missbrauchsgefährdet, was wenig wundert, wenn ihre Überformung von Widersprüchen, ihr Hang zu Paradoxien und Begriffsexzessen, ihre Leidenschaft für die Extreme in politische Programme getrieben werden. Schwarze, stählerne oder politische Romantik sind Embleme, mit denen gefährliche Spiele wahr werden können. Freilich sind solche Genealogien, die bei "Adam und Eva", wie Hannah Arendt spöttisch bemerkte, oder den Romantikern beginnen und dann im Weltkrieg oder Konzentrationslager enden, Geschichtsphilosophien der hoch spekulativen Sorte. Wer die Welt nur als Ansteckungsherd begreift, zieht gerade Verbindungslinien zwischen Meisterdenkern und dem Personal von Konzentrationslagern. Freilich ist das nicht nur ein Fehler überhitzter Geschichtsphilosophien, sondern verdankt sich dem Umstand, dass Ideologien bei ihren apologetischen Geschichtsanleihen selten wählerisch sind.
Griffig ist die Erkenntnis, dass die Nazis irgendwo auch Romantiker waren und dunkle Wurzeln in der poetisch genial versponnenen Frühromantik reklamieren. Rüdiger Safranski versucht daher seinen hehren Begriff der Romantik von der nationalsozialistischen Ideologie dadurch abzugrenzen, dass er pervertierte Rationalität von verwilderter Romantik unterscheidet. Aber auch das sind bloß Wörter, von denen wir inzwischen wissen, dass der Antagonismus "Rationalität" versus "Romantik" bei den talentiertesten Romantikern keinen Sinn macht. Hitlers Effekte auf Massen, die Inszenierungen rassischer Größe, die Beschwörungen der blutseligen Volksgemeinschaft etc. wird man schwerlich allein auf Muster einer gestörten Vernunft zurückführen.
"Germania" war ein totalitärer Traum urbaner Unendlichkeit, so sicher die landsmannschaftlichen Beschwörungen auf dem Reichsparteitag ("Kamerad, woher kommst du?") Provinzialisierungen dieser Unendlichkeit sind. Die imaginären Vergeltungswaffen sind romantische Konstruktionen in aussichtsloser Lage, so wenig oder viel das über deren moralische Programmierung aussagen mag.
Vergangenheitsbewältigung, die in literarischen Epochen die Saat der Barbarei erkennt, wird damit selbst zur romantischen Methode. Rüdiger Safranski will die Vernunft der Politik und die Leidenschaft der Romantik als zwei getrennte Sphären begreifen, um nicht in der Politik das Abenteuer zu suchen, dass man in der Kultur besser findet. Genau so gut lässt sich Politik ohne Leidenschaft als blutleer technokratisch denunzieren. Die Romantik ist keine Kunst gewordene Unschuld, die es gegen ihre Usurpationen zu verteidigen gilt. Ideologien konstruieren sich seit je eklektisch und pragmatisch, sonst würden sie nicht gefährlich. Indes gilt für diesen Entschärfungsvorschlag, was für Safranskis Romantikbild insgesamt gilt: Es erzählt uns eine Geschichte, die den Zwiespalt zwischen romantischer Welteroberung, Wirklichkeitsverfehlung und Neubesinnung glättet.
Das ist allerdings keine reine Beobachtungsschwäche von Rüdiger Safranski, sondern das Dilemma der romantischen Wirklichkeitserschließung, die alles wollte und aus der Kraft eines in Göttliche überdimensionierten Ichs, einer sich in die Unendlichkeit hinein entfaltenden Subjektivität alle Rätsel der Welt packen wollte – und dabei kaum über die idealische Papierform von Fragmenten, Hymnen und Romanen hinauskam.
Es bleibt der heterogene Befund, dass man mit dem Geist oder Wesen der Romantik totalisierende Erklärungsmodelle besitzt, die sich immer dann anbieten, wenn die Welt unheimlich wird. Universalpoesie heißt auch Allzuständigkeit, was etwa im modernen Roman, der romantisch entdeckten Form der Nichtform im 20. Jahrhundert, dann radikaler vollzogen wird. So geraten die Einkreisungen Schlegels, das Romantische zu fassen, immer wieder zu Grenzüberschreitungen, die sich eben darin definieren wie nicht definieren. Der Dichter darf alle Funktionen übernehmen, um zum Menschheitserlöser zu werden. Wenn das Vernünftige, Bürgerliche, Zivilisierte Ungenügen an sich selbst empfindet, wird die Romantik zur magischen Methode, die tristen Verhältnisse zu transzendieren und die Verhältnisse wenigstens auf MTV und Viva zum Tanzen zu bringen. Der romantische Dynamismus war bei konservativen und progressiven Kräften, war bei Nietzsche und Marx gleichermaßen das Element, aus den Kathederdisziplinen und dem falschen Schein auszubrechen. Denn alle, die Schicksal sein wollen oder Welten verändern, ohne sie bloß interpretieren zu wollen, dürfen Romantiker genannt werden.
Romantisches Zwielicht
Rüdiger Safranskis Buch fehlt ein letztes Kapitel, um jene Frage zu beantworten, die wichtiger erscheint als die, ob nun die Nazis Romantiker waren oder nicht, oder ob Thomas Mann mit dem "Dr. Faustus" zu fragwürdigen Überhöhungen des Schreckens ansetzt, die dem Phänomen nicht gerecht werden.
Die Frage also lautet: Sind wir als Romantiker weiterhin gefährdet, mit zuviel produktiver Einbildungskraft, die sich in Schaum vor dem Mund verwandelt, die Verhältnisse zu überreizen? Politische Romantik bleibt ein Dauerbrenner, mit und ohne Kerosin. Politische Romantik ist die Verteidigung westlicher Freiheit in Babylon oder am Hindukusch. Stählern romantisch sind Terroranschläge, weil sie mit dem Kopf durch die Wand der Wirklichkeit wollen. Unsere RAF-Terroristen sind dagegen eher unverdächtig, das herzergreifende Schinderhannes-Epos mit Curd Jürgens und dem "Seelchen" in der Hauptrolle neu aufgeführt zu haben. Wie immer die Paar-Bilder mit Gudrun Ensslin emotional interpretiert werden, Andreas Baader hat sich mit dem Dödel-Spruch "Ficken und Schießen sind ein Ding" mindestens als romantischer Totalversager entlarvt.
Hat Eberhard Rathgeb in seiner Rezension vielleicht doch recht? "Safranskis Buch hat die Romantik domestiziert, er hat sie eingepasst in eine Gegenwart, der die romantische Geistesverfassung abhandengekommen ist." Wer das behauptet, müsste allerdings angeben können, warum Lady Di zehn Jahre nach ihrem Tod immer noch als "Königin der Herzen" das Sentiment überlaufen lässt. "…nicht besonders schön, nicht besonders klug, nicht besonders besonders, bewegt Millionen Gemüter. Ihr Leben erzeugt Anteilnahme von Bombay bis New York, ihr Gesicht ist das meistphotographierte der Welt…", konstatiert die ZEIT. "Diana" ist eine romantische Massenprojektion, die sich den Gegenstand, den sie braucht, erst schafft und aus dem Gewöhnlichen das Ungewöhnliche macht, kurzum: romantisiert.
Verächtliche Kulturkritik gegenüber dem triefenden Kitsch kommt da zu spät, weil diese "romantische Geistesverfassung" sich nicht auf ein Zwangsregime der schändlichen Kulturindustrie reduzieren lässt. Romantik spendet hier wie an geweihteren Orten den Derealisierungsschub, der Wirklichkeit erst aushaltbar macht. Und diese wundersame Kraft ist in politischen Verhältnissen seit je gefragt gewesen. Die romantische Geistesverfassung ist ein Evergreen geblieben, wobei man dieses "grün" so gut auf den deutschen Wald wie auf politische Blütenträume, auf Reaktionäre, Konservative, Progressive und den Mainstream beziehen kann. Träume muss jeder haben, der die Vernunft der Wirklichkeit bestreitet.
Alle Protestbewegungen bis hin zu den Globalisierungsgegnern sind dabei "gefühlsintensiv" romantisch, so wenig oder viel das über ihr jeweiliges Wirklichkeitsverhältnis und ihre Geständnisbereitschaft sagt, politischen Kitsch auch als solchen zu bezeichnen. "Die Romantik nehm´ ich mir" gilt im Anti-AKW-Kampf, in Heiligendamm und anderen quasi-divinen Orten des politischen Widerstands, wenn das klassische Rebellentum a la Che Guevara und Jung-Fidel so unerreichbar ist. "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri ist ein aktuelles Begleitskript dazu, ein spätromantisches Kompendium, das christliche Urkommunen, Körperpolitik, franziskanische Erdnähe und klassische Kapitalismuskritik zur romantischen Morgenröte verpinselt: "Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können - weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein." Ob nun "Multitude" (Negri/Hardt) oder zuvor "Masse", "Proletariat" und denkende Arbeiter beschworen werden, ist politisch diffus. Letztlich lassen sich solche imaginären Gruppen erlebnis- oder mentalitätssoziologisch selbst als romantische Projektionen mit bescheidener Plausibilität beschreiben.
Das Absolute zwischen "sixpack" und "backpack"
Heuschrecken-Kapitalismus ist unromantisch, aber das Absolute ist für uns ein imaginärer Standard geworden, der von der kapitalistischen Globalisierung als Tagesgeschäft betrieben wird. "Nichts ist unmöglich", stammt von Toyota, wäre aber als Slogan der Frühromantik für Novalis und Schlegel akzeptabel gewesen. Romantik ist eine rasante All-inclusive-Transitphilosophie, die sich in die Details begibt, in den Mikrokosmos und sich aufspannt in die Unendlichkeit des Alls. Die Unendlichkeit ist nach Fichte der eine Pol der Einbildungskraft, ähnlich wie Jean Paul die "Magie der Einbildungskraft" darin erkennt, in der Vorstellung die Dinge zu entgrenzen. Diese Spannung wurde geradewegs zum Kennzeichen der späten Physik, die das Kleine und Unendliche zusammenrückt. Wer in diesen höheren und höchsten Sphären schwebt, sucht nicht nur Gott, sondern mehr noch gilt für Novalis: "Gott will Götter."
Noch sind die späteren patriotischen Irrgänge des Romantischen nicht betreten, "nicht Hermann und Wodan sind die Nationalgötter der Deutschen, sondern die Kunst und Wissenschaft. Die Religion ist nun polytheistisch wieder, denn es gibt so viele Götter als Ideale, was sich im unendlichen Individuum zeige, dass Gott ist." Die Romantik wurde ob solcher Sprüche als eine radikal subjektivistische Philosophie denunziert, doch was heißt das schon, wenn das Subjekt so welthaltig ist.
Romantiker sind fast immer Gottsucher, doch sie wollten neuen Mythologien jenseits der ausgelatschten Trampelpfade offizieller Religionen folgen: "Der wahre Protestant muss auch gegen den Protestantismus selbst protestieren, sobald er sich nur in neues Papsttum und Buchstabenwesen verkehren soll." Friedrich Schlegels Diktum bleibt in diversen Varianten aktuell. Fundamentalisten aller Länder und Religionen wollen heute auch zurück zum unverfälschten Heilswissen, so verbaut dieser Weg auch allen kritischen, postmodernen, dekonstruktiven Erkenntnisweisen erscheinen vermag.
Taoisten zieht es an die Wallstreet, den Neoromantiker Hape Kerkeling dagegen nach "Santiago de Compostela" und Lesermassen wandeln virtuell auf dieser uralten Pilgerstrecke hinter ihm her, um Wanderlust, Authentizität und Gottesnähe paradox, aber praktisch im Buchformat zu synthetisieren. Auch der von Suhrkamp neu gegründete "Verlag der Weltreligionen" weist nun den Erlösungsweg "back to the roots". Das entbehrt nicht der Ironie, da es schien, als habe Suhrkamp einen unbefristeten bis ewigen Pachtvertrag mit dem kritisch-aufklärerischen Zeitgeist in allen Regenbogenfarben geschlossen.
Statt "Negativer Dialektik" also nun "Bhagavad Gita". Dabei kann man von den Schiffbrüchen der Romantiker lernen. Denn deren frühes, hochmögendes Projekt ist deshalb gescheitert, weil nach der Selbstermächtigung des Subjekts die Agenda so übermächtig wurde, dass es an ausreichenden Mitteln gebrach, den Idealismus "reell" werden zu lassen. Die "Ahnung einer unerschöpflichen Fülle" stößt auf "das ängstliche Gefühl von Bestimmungslosigkeit" (Manfred Frank). Man kann zwar vieles oder gar alles wollen, aber die Sehnsucht nach der omnipotenten Welterschließung bleibt wie so viele Sehnsüchte unerfüllt. Der "magische Idealismus" des Novalis bescherte jenen Tagen eine kurze Euphorie der Welterschließung, die später mit anderen Magien konfrontiert wurde, die vom Subjekt weniger gut zu beherrschen waren.
Was die Romantiker im Feuerlauf des Subjekts in die Unendlichkeit zu erreichen versuchten, muss erst erarbeitet werden. Wo die Poesie aufhört, muss die Wissenschaft anfangen. Und selbst wenn auch das nur eine Romantik zweiter Ordnung sein sollte, werden andere Geheimnisse und andere Lösungen wahrscheinlich. Zwar mag die Form des menschlichen Bewusstseins chaotisch erscheinen und alles widersprüchlich sein, wie es Friedrich Schlegel behauptete, doch das kann nur ein vorläufiges Ergebnis sein.
Die Romantik scheiterte, weil sie vor der Zeit die Lösung der Geheimnisse präsentieren wollte und sie bleibt attraktiv, weil sie im Eingeständnis dieser eigenen Schwäche Zustände beschreibt, die uns auch immer wieder einholen. Einer der reichlich verspäteten Spätromantiker, Karl May, der aus Weltgenesungsgründen zwar die deutsche Weihnacht in den Wilden Westen exportierte, hat es gleichwohl pragmatisch auf diesen Punkt gebracht:
Wer den Maßstab des Endlichen an das Unendliche legt, um es zu erforschen, dem wird bei seinem vergeblichen Bemühen auch noch dieses Maß verloren gehen
Nachweise:
Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007.
Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M. 1989.
Manfred Frank, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007.