Vögelhirne bieten mehr als nur Instinkt
Die geschichtlich älteren Hirnregionen, die beim Menschen nur noch für den Instinkt zuständig sind, enthalten bei den Vögeln auch die Intelligenz
Krähen machen nicht nur Haken und Spieße, die dazu dienen, zu hamstern, was sie erobert haben. Vielmehr habe einige gelernt, Walnüsse auf die Straße zu legen, damit Wagen darüber fahren und die Nüsse für sie knacken. Afrikanische Papageien reden nicht nur, sondern verstehen auch humoristische Bemerkungen und entwickeln gar neue Worte. Junge Singvögel "babbeln" wie menschliche Babies und benutzen dafür interessanterweise die linke Seite ihres Gehirns.
In "Nature Neuroscience Reviews" (Avian Brains And A New Understanding Of Vertebrate Brain Evolution in Nature Reviews Neuroscience 6, 151-159 (2005)) haben 29 Experten aus sechs Ländern ihr zukünftiges Arbeitsprotokoll vorgestellt. Die Forscher meinen, dass vieles von dem falsch ist, was in den anatomischen Textbüchern steht. Nach ihrer Ansicht ist das Gehirn der Vögel ungemein vielschichtig und zugleich flexibel und ebenso erfinderisch wie das Gehirn von Säugetieren.
Alle Wissenschaftler betonen, dass Vögel schlau und gewitzt sind. Unterschiedlich ist allerdings die Auffassung, wie das Gehirn der Vögel funktioniert. "Tatsächlich sind noch viele Puzzle zu lösen", erklärt Peter Marler, ein führender Neuroanatom von der Kalifornischen Universität in Davis, und weiter: "Ich glaube, dass Vögel in kurzer Zeit die Ratten im Labor ersetzen werden."
Erkenntnisse gestern und heute
Ludwig Edinger, der Vater der vergleichenden Anatomie, hat dem Gehirn der Vögel keine besondere Beachtung geschenkt. Er glaubte vielmehr, dass die Evolution linear abläuft. Demnach entwickelten sich Gehirne wie geologische Schichten. Und damit war die Reihenfolge klar definiert: Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Folglich bildeten Fische die unterste Schicht, während die Menschen als Säugetiere den höchsten Intelligenzgrad aufweisen.
Ludwig Edinger lehrte, dass bei Säugetieren ein Drittel der in der untersten Schicht liegenden Neuronen in Clustern organisiert sind. Die oberen zwei Drittel des Gehirns, das Großhirn, entsprechen einer Zellschicht aus sechs Lagen. Das Großhirn gilt als Ort für die intelligenten Funktionen und beherrscht seinerseits die Cluster, die dem Instinkt vorbehalten bleiben. Ferner ist beim Menschen das Großhirn so voluminös geworden, dass es Furchen und Windungen aufweist.
Das Gehirn der Vögel besteht lediglich aus Clustern. Ohne den aufwendigen Aufbau des Großhirns können damit die Vögel, so Ludwig Edinger, nicht intelligent sein. Folglich werden sie vom instinktiven Verhalten bestimmt.
"Diese Sichtweise beherrscht das 20.Jahrhundert und wird immer noch in vielen biologischen Lehrbüchern vertreten", sagt Harvey Karten, ein Neurobiologe aus San Diego. "Tatsächlich gibt es beim Vogel ebenso wie bei den Säugetieren einen Weg, intelligentes Verhalten zu erzeugen. Die Vögel verwenden durchgehend Cluster, Säugetiere hingegen die im Großhirn gelegenen Hirnzellen. In beiden Fällen sorgt die Natur dafür, dass instinktive Reaktionen und intelligentes Verhalten über eine wechselseitige Gehirnaktivität verbunden sind."
In den 60er Jahren hat Harvey Karten mit einer damals neuen Technik untersucht, wie durch chemische Stoffe die Verbindung im Gehirn bewerkstelligt wird. Für den Botenstoff Dopamin fand er beim Menschen, dass die Substanz lediglich in den unteren Hirnanteilen, den Basalganglien, angereichert wird. Denselben Befund erhielt er bei Vögeln: Hier wurde Dopamin nur in dem untersten Cluster nachgewiesen.
Uneinigkeit herrscht bei der Frage nach den oberen Clustern im Gehirn der Vögel. Harvey Karten und andere vermuten, dass diese "oberen" Cluster analog den Schichten im Säugetiergehirn sind. Sensorische Informationen wie das Sehen, Geräusche und Berührung werden vom Thalamus aufgenommen, der untersten Funktion des Gehirns. Von dort werden sie in das Großhirn weitergeleitet. Auch bei Vögeln fließt die Information zunächst in den Thalamus. Von hier aus geht es weiter zu den höheren Clustern. Damit sind weitere Cluster da, um die Funktion aufzunehmen und zu verarbeiten.
Ein zweite Forschergruppe glaubt hingegen, dass die oberen Cluster beim Gehirn der Vögel der "Vormauer" (Claustrum) und dem Mandelkern (Corpus amygdaloideum) entsprechen. Was im Embryonalzustand von Vögeln und Säugetieren noch relativ ähnlich aussieht, wird von den Vögeln enorm vergrößert und erlaubt somit die zusätzlichen intelligenten Funktionen. "Bei Säugern bleibt der Mandelkern auf das emotionale System beschränkt, bei Vögeln ist er nicht mehr nur emotional, sondern wird Bestandteil der Intelligenz," erklärt Georg Striedter aus Irvine.
Vögel sind intelligent
Wer "Die Vögel" von Alfred Hitchcock gesehen hat, wird kaum mehr daran zweifeln, was Vögel alles können.
Nathan Emery und Nicola Clayton von der Cambridge-Universität in England vergleichen Affen und Krähen miteinander (Crows as Clever as Great Apes, Study Says). Bezogen auf das Körpergewicht ist das Gehirn der Krähe ebenso groß wie das des Schimpansen. Jeder weiß, dass der Schimpanse Baumzweige zu unterschiedlichen Funktionen benutzt.
"Kaledonische Krähen entwickeln sehr viel kompliziertere Gebrauchswerkzeuge mit dem Schnabel und den Füßen", erklärt Nathan Emery. "Aus gewöhnlichen Zweigen zaubern sie Haken, mit denen sie ihre Nahrung heranziehen. Oder sie bauen aus großen Blättern mit Widerhaken ihr Werkzeug, mit dem sie im Laub nach Futter suchen."
Ferner sind Affen und Krähen ausgesprochen soziale Zeitgenossen. Das wiederum setzt voraus, dass sie wissen, wer mit wem verbündet oder wer mit wem verwandt ist. Mit Täuschungsmanövern tricksen sie andere aus und behalten in Erinnerung, was sie getan haben.
Clarks Nussknacker (Nucifraga columbiana) können bis zu 30.000 Samenkörner verstecken und erinnern sich noch bis zu sechs Monate später daran.
Ferner verstecken sie nicht nur, sondern stehlen auch. Wenn sie einen anderen Vogel bei der Nahrungssuche beobachten, kommen sie später nochmals vorbei, stehlen Futter und verstecken, was sie gefunden haben. Einige Wissenschaftler sehen darin die Theorie bestätigt, dass ein Vogel mit Vorsatz oder im Glauben handelt und der Nussknacker genau auf dieses Verhalten eingeht.
Oder Krähen, die geduldig am Rinnstein verharren, bis die Ampel rot wird. Dann springen sie auf den Überweg und lassen Walnüsse vom benachbarten Baum auf die Straße fallen und hüpfen zurück. Nachdem die Reifen die Walnüsse aufgebrochen haben, nutzen sie wiederum die Rotphase, um die Nüsse aufzusammeln.
Papageien können mit Menschen sprechen und erzählen anderen Papageien, was sie gelernt haben. Ein afrikanischer Papagei kann Nummern, Farben, physikalische Unterschiede (Form und Material) oder den Gebrauch von Gegenwart und Vergangenheit erfassen.
Man sieht: Es ist wie beim Menschen. Es gibt Vögel, die smarter sind als andere. Ihr Verhalten ist häufig ungemein flexibel und verlangt einen hohen Intelligenzgrad. Nicht im Großhirn, sondern in Clustern.