Völkermord an den Armeniern
Deutschland weigert sich nach wie vor, das Wort "Genozid" zu benutzen. Aber es war von Anfang an in das Geschehen involviert, zeigt eine Spurensuche
Am 24.4.2015 jährt sich der Genozid an den Armeniern in der Türkei zum 100sten Mal. Mehr als 1,5 Mio. Armenier und bis zu 500.000 syrenische Christen fielen diesem zum Opfer. Just an diesem Tag wird dazu im Bundestag ein Antrag der Fraktion der Linken debattiert. Der Bundestag wird darin aufgefordert, die Vernichtung der armenischen Bevölkerung als Völkermord zu bewerten. Die Bundesregierung wird zudem aufgefordert, sich vorbehaltlos zur historischen Mitverantwortung des Deutschen Reichs zu bekennen.
Nach wie vor weigert sich die Türkei, diese Vernichtung als Völkermord anzuerkennen (siehe dazu auch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)). Sie nennt die Deportationen "kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen", die notwendig gewesen seien, da die Armenier den Kriegsgegner Russland unterstützt hätten.
Auch Deutschland weigert sich nach wie vor, das Wort "Genozid" zu benutzen. Das im Februar erschienene Buch "Beihilfe zum Völkermord " von Jürgen Gottschlich1 eröffnet die Diskussion erneut, mit dem Hauptfokus auf der Rolle Deutschlands im Osmanischen Reich.
Vorgeschichte
Um 1800 lebten die Armenier im multiethnischen Osmanischen Reich vorwiegend in Anatolien und den osmanischen Metropolen wie z.B. Smyrna (Izmir) und Konstantinopel. Ihr Bevölkerungsanteil wird auf ca. 10 Prozent beziffert.
Im 19 Jahrhundert, als sich das Osmanische Reich im Niedergang befand und die verschiedenen Völker und Ethnien zunehmend an Selbstbewusstsein und Nationalbewusstsein gewannen, mehrten sich die Forderungen nach Autonomierechten. 1885 gründete sich in Van die erste armenische Partei, die Armenakan Kasmakerputjun. Weitere, zum Teil radikale, Parteien folgten.
Sultan Abdülhamid II. stellte daraufhin ab 1891 irreguläre Kavallerieeinheiten aus regierungsloyalen kurdischen Stämmen zusammen, die sogenannten Hamidiye. Sie genossen Privilegien wie z.B. Steuerfreiheit und das Recht auf Plünderung. Offiziell hieß es, sie sollten die Grenzen zu Russland bewachen, sie dienten aber vor allem als Kampftruppe gegen die Armenier.2
Der Streit um die Winterweiden, die kischlak, der kurdischen Hirtennomaden in armenischen Dörfern verstärkte die Spannungen zwischen Armeniern und Kurden. Die Kurden forderten überdies irreguläre Abgaben in Form von Geld, Naturalien oder Frondiensten von den Armeniern ein. Die Spannungen entluden sich 1894-1896 in den Pogromen gegen Armenier, denen schätzungsweise 80.000 - 300.000 Menschen zum Opfer fielen und in denen zahlreiche Dörfer in der Region um Diyarbakir zerstört wurden.3
In den Folgejahren blieb die Lage angespannt, eine Verbesserung versprachen sich die Armenier zunächst von den Jungtürken, die 1908 versuchten, ein parlamentarisch-konstitutionelles Regierungssystem im Osmanischen Reich zu etablieren. Christen und anderen Minderheiten sollten Autonomierechte gewährt werden. Doch schon bald wurde deutlich, dass wegen der zunehmend nationalistischen und pantürkischen Vorstellungen der Jungtürken nichts davon umgesetzt wurde.
Stattdessen verübte 1913 das jungtürkische Trio Enver Bey (der spätere Kriegsminister Enver Pascha), Talât Bey (der spätere Großwesir Talât Pascha) und Cemal Bey (der spätere Marineminister Cemal Pascha) einen Staatsstreich. Sie etablierten ein diktatorisches System, das in aller Härte gegen die "inneren Feinde", vornehmlich gegen die Armenier und Christen, vorging.
Der Genozid
Am 14. November 1914 trat das Osmanische Reich gegen die Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Mit dem Ziel, Gebiete zurück zu erobern, die in früheren Kriegen an Russland fielen, befahl die osmanische Regierung Ende 1914 eine Großoffensive im Kaukasus, die jedoch mit einer verheerenden Niederlage in der Schlacht von Sarıkamış endete und weitere Gebietsverluste zur Folge hatte. In der Hoffnung auf Schutz und Unabhängigkeit unterstützten einige Armenier die russische Armee, indem sie Freiwilligenbataillone aufstellten, die auf russischer Seite kämpften.
Damit hatte Enver Pascha einen Sündenbock für die Niederlage im Kaukasus gefunden: die Armenier. Fortan hieß es, die Armenier seien eine Gefahr für die Türkei, da sie mit Russland zusammenarbeiteten - obwohl die Mehrheit der armenischen Zivilisten sich loyal gegenüber dem Osmanischen Reich verhielt. Die Vorbereitung des Genozids begann: die armenischen Soldaten in der osmanischen Armee wurden entwaffnet, zum Teil getötet und zum anderen Teil in Arbeitsbataillonen u.a. zum Bau der Bagdad-Bahn zusammengefasst.
Am 24.4.1915 wurde die armenische Elite in Konstantinopel auf Drängen des Innenministers Talat Bey festgenommen und nach Anatolien deportiert. Daher gilt der 24.4.1915 als Beginn des Genozids. Am 27. Mai 1915 erließ die Regierung ein Deportationsgesetz. Es gab die Order, die Armenier einzeln oder insgesamt zu deportieren.
Die Armenier sollten in die syrische Wüste und nach Aleppo deportiert werden. Der Plan der Osmanen war, die Menschen auf dem Marsch dorthin zu ermorden bzw. verhungern zu lassen. "...Grundstücke von Deportierten wurden per Gesetz zwangsübertragen, Barmittel und zurückgelassene bewegliche Habe 'vereinnahmt'."4 Dies zeigt auch sehr anschaulich Fatih Akins Film "The Cut", der Ende 2014 in den deutschen Kinos lief.5
Die Planung und Beteiligung der Deutschen am Genozid
Im seinem oben genannten Buch lässt der Autor Jürgen Gottschlich auch ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte lebendig werden. Er reiste an die Orte der damaligen Ereignisse, befragte Nachkommen der betroffenen Familien und durchforstete türkische und deutsche Archive. In seiner historischen Reportage zeigt er, wie die Deutschen von Anfang an in das Geschehen involviert waren und den Genozid mit vorangetrieben haben.
Kein Deutscher wurde jemals für seine Beteiligung am Völkermord zur Verantwortung gezogen, im Gegenteil, viele der Protagonisten brachten ihre 'Erfahrungen' im NS-Staat bei der Judenverfolgung ein. Deutschland bot später den türkischen Hauptverantwortlichen Schutz, indem sie nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland untertauchen konnten.
Nachdem zur Kolonialzeit England und Frankreich große Territorien in Asien, Afrika und im Orient erobert hatten und Deutschland mit Togo und Deutsch-Südwestafrika in ihren Augen nahezu leer ausgegangen war, strebte Deutschland im Ersten Weltkrieg die Vorherrschaft im Vorderen Orient an. Dazu bediente es sich seines Bündnispartners, des Osmanischen Reiches. Das Osmanische Reich hatte schon lang geschwächelt und zudem gab es britische Überlegungen, dieses Reich zu zerschlagen.
Mit dem Bau der Bagdadbahn unter Beteiligung der Deutschen Bank, konnte Deutschland sein Konzept umsetzen, im Osmanischen Reich als ökonomischer und militärischer "großer Bruder" zu agieren.
Durch den Bündnisvertrag zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich für die Waffenbrüderschaft im Kriege wurden der deutschen Militärmission weitgehend die osmanischen Streitkräfte unterstellt. Die Macht über die Truppe lag damit beim jungtürkischen Kriegsminister Enver Pascha - einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord - und einer Gruppe zum Teil äußerst anti-armenisch eingestellter deutscher Generäle und Admiräle.
Nikolaus Brauns
Die Armenier-feindliche Haltung der osmanischen Regierung und des Militärs wurde von den Deutschen unhinterfragt übernommen und die Deportation mit organisiert.
Auch an der Logistik der Deportationen war das deutsche Militär beteiligt: Oberstleutnant Böttrich, der Chef des Verkehrswesens der Eisenbahnabteilung unterzeichnete im Oktober 1915 einen Deportationsbefehl armenischer Arbeiter der Bagdadbahn, die schon Anfang 1915 als Transportmittel für Deportationen diente. Franz Günther, Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, schrieb denn auch am 17. August 1915 an den Sprecher des Vorstandes der Deutschen Bank6:
Man muss in der Geschichte der Menschheit weit zurückgehen, um etwas Ähnliches an bestialischer Grausamkeit zu finden wie die Ausrottung der Armenier in der heutigen Türkei.
Wenige Jahre später haben die Deutschen im Nationalsozialismus diese Grausamkeiten zur Perfektion gebracht. Jürgen Gottschlich zitiert in seinem Buch den Leiter der Operationsabteilung im türkischen Großen Hauptquartier, Otto von Feldmann, der nach dem Krieg im Juni 1921 einer Zeitung berichtete, was er und andere deutsche Offiziere mit den Deportationen zu tun gehabt haben:7
Es soll und darf aber nicht geleugnet werden, daß auch deutsche Offiziere - und ich selbst gehörte zu ihnen - gezwungen waren, ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen. Die Pflicht der Selbsterhaltung der türkischen Front zwang einfach dazu.
Gottschlich reiste auch im Rahmen seiner Recherchen nach Zeitun, dem heutigen Süleymanli, ein damals armenisches Dorf in der Nähe von Kahramanmaras. Anfang April 1915 leisteten ca. 600 Armenier, die sich in einem Kloster verschanzt hatten, vergeblich Widerstand gegen 4000 Soldaten. Major Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, Stabschef des stellvertretenden Kommandeurs der IV.Armee, Fahri Pascha, war mit vor Ort. "Fahri Pascha ordnete dabei die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Zeitun und den umgebenden Dörfern an, deren Augenzeuge Wolffskeel anschließend wurde...Zeitun wurde so zum Ausgangspunkt für die Tragödie der Armenier im Osmanischen Reich."8
Wolffskeel widmete sich nach Gottschlich der "Niederschlagung angeblicher armenischer Aufstände mit besonderer Hingabe. Es gab nur fünf Orte im gesamten Osmanischen Reich, an denen sich Armenier 1915 dem drohenden Genozid ernsthaft widersetzten, und an dreien davon war Wolffskeel entscheidend bei der Niederschlagung des Widerstands beteiligt..."9
Anfang Juli 1915 war Wangenheim klar, dass es bei der Deportation um Vernichtung ging. Pro Forma protestierte er beim Großwesir, gleichzeitig teilte er dem Reichskanzler mit, dass dieser förmliche Protest nur für die Akten sei, damit es nicht den Anschein gewänne, die Deutschen seien an der Vernichtung der Armenier beteiligt.
Graf von Metternich, Botschafter in Konstantinopel, war der Ermordung der Armenier kritisch gegenüber eingestellt. Er schlug dem Reichskanzler vor, der Türkei mit Sanktionen zu drohen, wie bspw. den Nachschub an Waffen zu stoppen und wenigstens in der deutschen Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen. Reichskanzler Bethmann hat dies zurückgewiesen mit der Begründung, die Türkei sei als Verbündeter wichtiger als die Armenier. "...Unser Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht."10
Die Vernichtung der Armenier war bis Herbst 1917 weitgehend vollzogen. Von zwei Millionen Armeniern im Osmanischen Reich waren rund 1,5 Millionen tot und die meisten Überlebenden nach Russland, Libanon oder Palästina emigriert.
Die Bundesrepublik heute: Wie steht es mit der Aufarbeitung?
Die Nichtanerkennung dieses Völkermordes reiht sich ein in die deutsche Geschichte der Vernichtung und Diskriminierung anderer Völker, erinnert sei hier z.B. an die Leugnung des Genozids an den Hereros. Die rot-grüne Bundesregierung erklärte 2001 auf eine Kleine Anfrage der PDS, dass "die Frage der Bewertung der Massaker an den Armeniern 1915/1916 im Wesentlichen eine historische Frage und damit Gegenstand der Geschichtswissenschaft und in erster Linie Sache der betroffenen Länder Armenien und der Türkei" sei.11
Auch in der gemeinsamen Resolution von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen im Jahre 2005 zum 90 jährigen Gedenken an das Armenier-Massaker, wurde mit Rücksichtnahme auf den NATO-Partner Türkei der Genozid nicht als solcher bezeichnet und die deutsche Beteiligung nicht erwähnt, lediglich "die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen" wurde in der einleitenden Entschließung erwähnt.12
Gottschlich hält dazu abschließend fest, dass der Bundestag zwar eingesteht, dass Deutschland als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches in 'diese Vorgänge tief involviert war.', dieses Kapitel der Geschichte aber auch in Deutschland bis heute nicht befriedigend aufgearbeitet wurde.13 Der Autor und Historiker Michael Hesemann konstatiert 2014 in seiner Ansprache anlässlich des Gedenktages in der Armenischen Kirche in Köln:
…Umso größer ist heute die Verantwortung, das Versagen der damaligen Reichsregierung schonungslos aufzuklären. Gerade weil unser damaliger Verbündeter, die Türkei, diese Verbrechen beging, dürfen wir uns heute nicht von eben dieser Türkei verbieten lassen, ihrer Opfer zu gedenken. Der Völkermord von 1915, der Adolf Hitler das Vorbild zu dem größten Verbrechen des Nationalsozialismus, der Schoa, lieferte, ist zu wichtig und zu schrecklich, um in den Geschichtsbüchern zu fehlen. Ihn zu leugnen hieße, auch weiterhin die islamofaschistischen Täter zu schützen. Das aber muss endlich ein Ende haben, das sind wir mutigen Männern wie Kardinal von Hartmann schuldig, die damals schon kein Blatt vor den Mund nahmen und die Mächtigen aus der Politik aus ihrem christlichen Gewissen heraus mit der unbequemen Wahrheit konfrontierten. Dass diese immer noch verschwiegen wird, aus falscher Rücksicht auf das Regime in Ankara, ist eine Schande und befleckt nach wie vor den deutschen Namen. Nie mehr darf dieses bestialische Menschheitsverbrechen geleugnet werden. Nie wieder!"
Heute, da sich der Genozid zum 100sten Mal jährt, und sich die Bundesregierung in der Beantwortung einer kleinen Anfrage der Linkspartei zur Aufarbeitung der Ereignisse 1915/1916 wiederholt damit herausredet, dass eine Bewertung der Ergebnisse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten bleiben sollte und in erster Linie Sache der betroffenen Länder Türkei und Armenien sei, zeigt, dass sich die Bundesregierung nach wie vor dieser Verantwortung entzieht. Dies zeigt sich auch darin, dass sie niemand nach Jerewan/Armenien zur diesjährigen 100 jährigen Gedenkfeier schickt.
Am 24.4.2015 - dem offiziellen Jahrestag des Beginns des Genozids - wird im Bundestag ein Antrag der Fraktion der Linken debattiert werden, worin der Bundestag aufgefordert wird, die Vernichtung der Armenier als Völkermord zu bewerten, so wie dies auch schon Schweden, die Schweiz, Griechenland und die Slowakei tun.
Die europäische Volkspartei, die größte politische Gruppe des Europaparlaments, hat am 7.3.2015 eine Resolution verabschiedet, die den Völkermord an den Armeniern verurteilt, und die Türkei aufruft, ihn als solchen anzuerkennen. Die Bundesregierung könnte diese Resolution unterstützen.
Allerdings besteht wenig Hoffnung, dass sie sich der historischen Verantwortung stellt, - schon allein deswegen, damit keine Entschädigungsforderungen und damit Kosten auf die heutige Regierung zukommt. Insofern ist es nachvollziehbar, aber zu kritisieren, dass sich die Bundesregierung in der Armenierfrage herauswindet.