Vom Fremdwort "Medienkritik"

Warum (nicht nur) die Kommunikationswissenschaft immer affirmativer wird

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Trash-TV, Extrem-TV und Reality-Soaps sind für die meisten Kommunikationswissenschaftler kein Anlass für einen Paradigmenwechsel in der Fernsehforschung. Man redet weiter verharmlosend vom schwachen Medium, von aktiv-bewusster Medienaneignung und relativ folgenloser Nutzung. Intellektuelle erklären die neuen Container-Formate hingegen gleich zur Avantgarde. Die Medienmacher werden diese Kapitulation des kritischen Diskurses begrüßen, und die Medienwissenschaft verliert einmal mehr ihr Gesicht, argumentiert Stefan Weber. Ein Plädoyer für eine Neuauflage der Medienkritik - an der Schnittstelle von Medienökonomie und Konstruktivismus.

Zunächst: Ein "historischer" Grund

Fast möchte man meinen, er habe sich seine Beobachtung wieder einmal selbst herbeigeschrieben, als gut konstruktivistische, selbsterfüllende Prophezeiung eben: Vor knapp zwei Jahren hat Norbert Bolz das "Ende der Kritik" ausgerufen1, und heute stellt man irritiert fest: sie ist wahrlich endgültig verstummt. Und das liegt wohl auch daran, dass "die empirischen 68er in Deutschland im Verlauf der 80er Jahre Luhmannianer geworden sind", wie Diedrich Diederichsen vor kurzem in der "Frankfurter Rundschau" schrieb2. Will man rückblickend die großen "paradigmatischen Wenden" im intellektuellen Diskurs einzelnen Jahrzehnten zuordnen, so ließe sich folgende (freilich simplifizierende) Ahnenreihe entwerfen: Sechziger und Siebziger Kritische Theorie und Kulturkritik, Achtziger und Neunziger Dekonstruktion und französische Postmoderne, End-Achtziger bis heute Cultural Studies, Konstruktivismus und Systemtheorie: man wurde eben immer affirmativer. Der präskriptive und auch normative Diskurs wurde von einem rein deskriptiven, von einer auf Unterscheidungslogik aufgebauten Beobachtersprache abgelöst. Das alleine ist aber keine hinreichende Bedingung, um das zu diagnostizieren, was Bolz als "Ende der Kritik" bezeichnet.

Verdummungsthesen sind eben mega-out

Hand aufs Herz: Wer heute - noch dazu als (Medien-)Wissenschaftler - ernsthaft und in der Öffentlichkeit behaupten würde, das (aktuelle) Fernsehen verdumme, verblöde und versaue die Menschen mehr als jemals zuvor, dem würde es reflexartig zurückhallen: "Reaktionär!" "Altmarxist!" "Rückständiger Vertreter der Verdummungsthese!" Und: Man könnte unserem Medienkritiker von vorgestern sogar mit empirischen Befunden kommen: Ob er denn vergessen habe, dass die Medienwirkungsforschung längst von der Mediennutzungsforschung abgelöst wurde; dass es eben keine starken, linearen und eindeutigen Medienwirkungen gebe, sondern höchstens schwache und "multifaktorielle"; dass man längst nicht mehr frage, was die (ach so bösen, ach so mächtigen) Medien mit den Menschen machen, sondern eben umgekehrt, was die (mündigen, aufgeklärten) Menschen mit den Medien machen: Nicht die Medien strömten wie im Big-Brother-Modell auf die wehr- und willenlosen Menschen ein, sondern die Menschen machen und formen die Medien. - Big Brother? Ein Stichwort?

Ich behaupte nun kühn und allen Ernstes: Vergessen wir diese Rhetorik vom schwachen Medium und starken Menschen angesichts aktueller Entwicklungen zum Trash- und Extrem-TV. Die Mär von der aktiv-konstruktiven "Aneignung" von Medieninhalten, die uns besonders die "Cultural Studies" erzählen, jene bloß rhetorische Europäisierung genuin angloamerikanischer Kulturanalyse, spielt den Medienmachern von heute in die Hände. Die "Cultural Studies" haben in den vergangenen Jahren den Rahmen geliefert für eine Unzahl von empirisch auftretenden Studien, insbesondere zur Fernsehnutzung, die eigentlich immer genau das vorwegnehmen, was etwa bei Andreas Hepp am Klappentext steht:

"In dieser Studie erscheinen die Zuschauer und Zuschauerinnen nicht als vom Fernsehen kontrolliert und manipuliert."3

Meine Antwort wäre nun: Genau das werden sie aber (mittlerweile / vermehrt). Es mag kommunikationswissenschaftlich immer noch unglaublich en vogue sein, alle Theorien übermächtiger Medien auf den Schrottplatz der Geschichte zu verweisen: Die Kanonentheorie der Medienwirkung, das Manipulationsmodell, Verdummungs- und Egalisierungsthesen. Faktum ist, dass wir heute mit der relativierenden und verharmlosenden Rhetorik vom "produktiven Zuschauer", von der "Aneignung" medialer Inhalte zur "Identitätskonstruktion" und ähnlichem Affirmations-Vokabular wohl nicht mehr weiterkommen. Und komme mir keiner und erkläre, das Hinauswählen von Kandidaten beweise doch einmal mehr, wie produktiv der Zuschauer sein dürfe! Dass es hier ausschließlich um ökonomisch motivierte Aufmerksamkeits-Bindungen geht, sollte nicht wissenschaftsrhetorisch verschleiert werden.

Dabei müsste eine Neuauflage der Medienkritik gar nicht an den alten Helden Adorno, Horkheimer oder Enzensberger orientiert sein. Es wäre etwa durchaus möglich, medienökonomische Theoriebildung, die sich von marxistischen Altlasten befreit hat (und etwa an Bourdieus Intrusions-Hypothese anschließt), mit konstruktivistischen Entzauberungen angeblich faktischer Medienwirklichkeiten zu koppeln. Aber freilich: Wenn jemand wie Bourdieu schon einmal pessimistisch über das Fernsehen4 schreibt, so weiß die scientific community sofort: Jetzt wird der eben auch alt...

Vom (begründet) schlechten Ruf der Medienkritik...

Das Problem der Medienkritik ist seit jeher, dass sie in den meisten Fällen von irgendwoher rührt, nur nicht aus dem Mediengebrauch der Kritiker: Wer Angst vor E-mail hat, der schreibt dann eben wissenschaftliche Texte gegen das böse Netz. Wer die Anbindung zur Jugendkultur verloren hat, für den sind eben Techno und Ecstasy Feindbilder und Verführer. Medienkritik von Menschen, die im Medium waren und nicht bloß akademisch-drüberstehend darüber urteilen, wäre eine weitere Herausforderung. Sie wird kaum angenommen und ist über Bestrebungen á la Günter Wallraff nie hinausgekommen. Die Verknüpfung von Konstruktivismus und Medienökonomie zu einer Neuauflage der Medienkritik hat auch Peter Weibel unlängst angedacht:

"(...) it will be all the more important for us to be informed about the social construction mechanisms of media and the media construction mechanisms of society. This is why media critique and social critique can no longer be divided."5

Nur: Wo kaum noch Sozialkritik, da auch keine Medienkritik. Auch der Konstruktivismus ist mittlerweile ähnlich affirmativ geworden wie die "Cultural Studies": Das Publikum sei stark, die Medien seien schwach. Medien irritieren und perturbieren (sie stören und "piksen") Publika, mehr aber auch nicht. Basta.

Das Fach selbst zeigt sich schließlich angepasst wie noch nie. Der übliche kommunikationswissenschaftliche Sammelband endet mit einem Fragezeichen, und dieses hat hinter einer Trivialität zu stehen. Schon bei der Sichtung der Titel beschleicht den geneigten Leser ein unglaubliches "No-na"-Gefühl: "Zerfall der Öffentlichkeit?" Ja! "Eskalation durch Berichterstattung?" Ja! "Globalisierung der Medien?" Ja! "Elektronische Demokratie?" Ja! "Fernsehen ohne Grenzen?" Ja! "Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?"6 Ja? - Doch halt!

Welche empirische Studie würde heute, im transklassischen Zeitalter, allen Ernstes behaupten, es gebe einen korrelativen Zusammenhang zwischen diesem und jenem? Wer denkt heute noch derart mechanistisch-behavioristisch? Hier Fernseh-Stimuli, da Response, hier Reiz, da Reaktion? Das kann es doch nicht geben. Und so heißt es auch als Fazit der letztgenannten Fernseh-Studie:

"Das Ergebnis ist mehr als überraschend und entlarvt die bislang öffentlich geführte Diskussion, denn: Je weniger wissenschaftlich die Prüfung der Frage nach der "Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?" geführt wird, umso größer erscheinen die von den Medien drohenden und prognostizierten Gefahren."7

Hätten wir nicht die Medienwissenschaft, die die vermeintlichen Gefahren des Fernsehens als unwissenschaftliche Spekulationen entlarvt, wo kämen wir da hin? Jetzt, im Zeitalter von "Big Brother", "Taxi Orange" und "Insel-Duell". Und erst recht from now on, kurz bevor wir dank "Girlscamp">, "Big Diet" und "Temptation TV" endlich realem Sex, realer Verführung, realen erotischen wie auch unansehnlichen Körpern ansichtig werden.

... zu Anbiederungs-Diskursen der Medienwissenschaftler

Keine Kontrolle und keine Manipulation durch das Fernsehen? Es wäre hoch an der Zeit, die reflexartige Ablehnung medienkritischen Denkens zu überwinden. Längst wurden jene Umkehrungen, die Cultural Studies und auch Konstruktivismus beschreiben (vom starken Medium zum starken Nutzer u.a.), durch neue, weit radikalere überlagert: Nicht mehr sehen (primär) wir die Medien an, sondern die Medien sehen (vermehrt) uns an. Der mediale Blick hat sich umgekehrt, er ist pervertiert, und mit ihm ist das Begehren vom Mediennutzer zum Medium gewandert. Nicht mehr wir beobachten Medien, sondern Medien beobachten uns: Nicht nur die Publikumsforschung, sondern auch das Medium selbst und sein Begehren ist auf uns gerichtet. Nicht mehr die Absenz von Überwachung, sondern vielmehr die Präsenz von Überwachung wird nunmehr als Freiheit empfunden. Und umgekehrt: Der nicht-medialisierte, unbeobachtete Rest der Welt wird zur Bedrohung. All dies kulminiert in dem Makro-Trend, dass Journalismus immer fiktionaler und Unterhaltung immer "realistischer" wird. Baudrillards "Agonie des Realen" etwa könnte im Kontext dieser aktuellen Entwicklungen ganz neu gelesen werden.

In medienwissenschaftlichen Analysen und Kommentaren hört man von all diesen Denkbewegungen nur wenig. Im Gegenteil: Man bleibt auch im Zeitalter von Extrem-TV, Trash-TV, Reality-Soaps, Doku-Dramen u.a. der erprobten Theorie-Linie treu. Oder aber man ergreift gleich die Flucht nach vorne und hebt die positiven Effekte, etwa von Reality-Soaps, hervor. So schreibt etwa ein nicht unbekannter österreichischer Kolumnist über "Taxi Orange", das österreichische Pendant zum bundesdeutschen "Big Brother":

"Einmal in der U-Bahn zuhören, wie ein Rudel Halbwüchsiger die Entwicklungen in Taxi Orange mit minutiösem Detailwissen und tiefer Emphase analysiert und zur (relativ späten) Erkenntnis kommt, dass man hier mit jeder kulturpessimistischen Kritik am falschen Dampfer ist. Mehr noch: Der ORF erfüllt sehr wohl mit diesem Reality-TV seinen Bildungsauftrag. Hier lernt der junge Mensch durch teilnehmende Beobachtung gruppendynamisches Verhalten."8

Geht es noch affirmativer? Und ob! In dieselbe Kerbe schlägt ein ebenfalls österreichischer Medienwissenschaftler, wenn er schreibt:

"Auch wenn sich der zuweilen vielgescholtene ORF durch populäre Fernseh-Formate wie 'Taxi Orange' auf dem Publikumsmarkt behaupten muss, garantiert er laut seinem gesetzlichen Auftrag objektive und ausgewogene Information, Bildung und Kultur. Ja, und er löst diesen Auftrag sogar in einer extrem schwierig gewordenen Konkurrenzsituation auch ein."9

Ungeachtet der Kategorienfehler in beiden Textstellen ("weil die Leute darüber reden, muss es gut sein", "weil es im Gesetz steht, ist es auch so") zeigen beide Autoren enorm viel Verständnis für die Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Fernsehens. Ja, fast Mitfühlen und Mitleid mit den Medienschaffenden "in einer extrem schwierig gewordenen Konkurrenzsituation" ist da herauszuhören. - Ist das das kritische Bewusstsein der aktuellen Medienwissenschaft?

Zuletzt: Die Umkehrung - Radikal-Kommerz als radikale Avantgarde

Vielleicht hat ja doch der eingangs zitierte Norbert Bolz den Virus gesät: Jene, die anders sein wollen, sind die "wahren" Konformisten, und daraus folgt dann für viele der (falsche) Umkehrschluss: Der Mainstream ist non-konformistisch. Der Kommerz ist die Avantgarde, die Scheiße Gold. Wie reaktionär, es noch umgekehrt zu denken! Freilich ist Christoph Schlingensiefs "U3000" Mainstream, konformistisch, anbiedernd und ja: kommerziell, und "Big Brother" ist die wahre Avantgarde. Mittlerweile ist sogar schon die kunsthistorische Kontextuierung gelungen. Und dies von keinem geringeren als Alexander Kluge, der in einem Interview mit der "Süddeutschen" (mutmaßlich) außerdem folgendes von sich gab:

"Wenn Sie sich vorstellen, wir würden in einem Container Darsteller haben, die die Reichskanzlei 1939 spielen, und die Zuschauer dürfen jetzt den einen oder anderen Teilnehmer rauswählen, oder Hitler krebskrank machen - dann könnte ein anderer Ausgang der Geschichte möglich sein. Und dann würde ich so einem Schauspiel gern zusehen - einem fiktionalen Stück, aber interaktiv. Ein Stück Selbsttätigkeit bricht aus: Das ist das Prinzip Big Brother."10

Also, bevor nun "Big Brother" als die längst überfällige Realisierung des partizipativen Bürgerfernsehens interpretiert wird und Van Gogh-TV zu gefälligem Mainstream degradiert wird, sollten sich die Intellektuellen ihr geistiges Kapitulieren vor Trash-TV eingestehen. Die Medienmacher dürfen sich weiter in die Hände reiben. Kritik ist wohl nur mehr bei den "Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik" zu hören (heuer im 34. Jahr), und da ist sie längst schon so habituell geworden, dass sie ohnedies keiner mehr hört.

Dr. Stefan Weber ist selbst Medienwissenschaftler, derzeit APART-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.