Vom weltgrößten Weinexporteur zum praktisch ausschließlichen Ölexporteur

Modernisierer und Religionisten in Algerien

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Arbeitslosigkeit, Wohnraummangel, Öl-Monokultur – das sind die Probleme, die Algerien nach dem Ende des Bürgerkriegs plagen.

Gendarme in Madaura. Bild: Peter Riedlberger

Wie viele Opfer der algerische Bürgerkrieg forderte, ist unklar. Es werden Zahlen von 100.000 bis über 200.000 Menschenleben genannt, aber gezählt hat die Toten keiner. Gewiss ist jedenfalls, dass nach 1992 bis zum allmählichen Wiederherstellen der allgemeinen Sicherheit um das Jahr 2000 mehr Menschen starben als bislang im Irak. Und obwohl Algerien geografisch, politisch und kulturell Europa sehr viel näher liegt als der Irak, interessierte sich die europäische Öffentlichkeit praktisch nicht für das Gemetzel in Nordafrika. Und ohne amerikanische Beteiligung ist das Interesse der Friedensbewegung bekanntlich stets beschränkt.

Es gelang Algerien, den Frieden nach einigen blutigen Jahren mehr oder weniger wiederherzustellen. Die Algerier selbst schreiben dieses Verdienst dem 1999 neu gewählten Präsidenten Bouteflika zu. Bouteflikas Lösung hinterlässt einen schalen Beigeschmack, erwies sich aber letztlich als ungemein effizient: Eine Generalamnestie für staatliche Sicherheitskräfte wie islamische Terroristen, die damit nach Jahren des Kampfes im Untergrund (oder vielmehr: Hochland) wieder in die Gesellschaft zurückkehren konnten. Menschenrechtsgruppen – auch Amnesty International - protestierten scharf, aber wenigstens hat sich Bouteflikas Maßnahme als erfolgreich erwiesen. Der endemische islamistische Terrorismus, der weite Teile Algeriens plagte, ist praktisch verschwunden. Heutige Sicherheitsprobleme betreffen vordringlich die Kabylei, wo es um einen ethnischen Konflikt zwischen Berbern und Arabern geht, der nicht immer scharf vom Banditentum getrennen werden kann, sowie – neuerdings – um einen Bombenterrorismus durch Selbstmordattentäter, der seine Parallele in den Attentaten von Casablanca/Marokko, Djerba/Tunesien und diversen Urlaubsressorts in Ägypten findet, nicht aber in den Vorkommnissen des algerischen Bürgerkriegs.

Abgesehen von den Kabylen kann die Beliebtheit von Bouteflika bei der Bevölkerung gar nicht überschätzt werden. Bei seiner Wiederwahl 2004 erhielt er in einer von der OECD als fair angesehenen Wahl (die allerdings die Kabylen weitgehend boykottierten) 85% der Stimmen. Bouteflika wird nicht nur als Restaurator des Friedens angesehen, sondern schaffte es auch, sich das Wohlwollen der divergierenden gesellschaftlichen Gruppen – also im wesentlichen Modernisierer und Religionisten – zu erhalten. Ein Beispiel: Im Vergleich zu seinen Nachbarn Marokko (Polygamie seit 2004 nur nach Zustimmung der ersten Frau möglich) und Tunesien (staatlich festgeschriebene Monogamie) fällt Algerien durch sein islamisch geprägtes Familienrecht auf (z. B. muss der Mann bei weiteren Heiraten seine vorhandene Frau über das Faktum lediglich informieren; ihre Zustimmung braucht er nicht). Bouteflika spricht seit 2004 davon, das Familienrecht zu ändern, was den Modernisierern gefällt. Dass bislang wenig geschehen ist, dürfte wiederum die frommen Moslems beruhigen.

Dabei ist die de-facto-Stellung der Algerierin gar nicht so schlecht. Wie Michael Slackman in der New York Times berichtet, beträgt der Frauenanteil bei den algerischen Rechtsanwälten 70%, bei den Richtern 60%. Auch bei den Studenten sind sie mit 60% in der Mehrheit. Und auch wenn Frauen nur rund 20% der Erwerbstätigen ausmachen, so sei dies immerhin mehr als eine Verdoppelung innerhalb einer Generation. Im Straßenbild fällt die große Zahl von Polizistinnen auf, die ihrem Dienst natürlich ohne Kopftuch nachgehen. Auch in den Business-Vierteln von Algier sind die Kopftuchlosen in der Mehrzahl - ebenso in Flughäfen, Hotels oder bessere Lokalen. Im ländlichen Algerien dreht sich das Verhältnis aber schnell um; in Kleinstädten ist es eher die Regel, dass die gesamte weibliche Bevölkerung mit Kopftuch und sogar Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit erscheint.

Tebessa. Bild: Peter Riedlberger

Eine Aussicht auf die Zukunft Algeriens zu geben, fällt schwer. Erstens ist die große Symbolfigur Bouteflika krank und häufig zu Behandlungen im Ausland. Sollte er die Amtsgeschäfte nicht mehr führen können, müsste sich erst erweisen, ob auch ein anderer Präsident in der Lage ist, die Kluft in der algerischen Bevölkerung zu überbrücken.

Denn Algerien ist widersprüchlich. Einerseits kann das Land erstaunlich modern erscheinen: Die Print-Presse ist relativ frei, prangert öffentlich Korruption an, beschwert sich über Missstände und kritisiert sogar den Präsidenten – was in vielen anderen arabischen Ländern undenkbar ist. Andererseits wurde z.B. die (ohnehin kaum erfolgreiche) christliche Missionstätigkeit in Algerien gesetzlich unterbunden. Interessanterweise wurde dies mit dem Schutz der in Algerien lebenden Christen begründet. Diese Begründung ist zwar gut nachvollziehbar - ein Eingriff in die Religionsfreiheit bleibt es trotzdem. Auch der Unterschied zwischen den de-facto-Möglichkeiten für Frauen in Algerien und ihrer de-jure-Rechtsstellung versinnbildlicht diese Kluft.

Wirtschaftlich geht es mit Algerien bergauf – zum großen Teil mit bedingt durch die Ölpreisentwicklung. 2005 stellten Öl und verwandte Produkte 98% des algerischen Exports dar - insgesamt 43,4 Mrd. US-$. Das Geld wird auch dringend benötigt, um die anderen Probleme Algeriens anzugehen: Algerien ist ein (zu) junges Land. Das Median-Alter beträgt 25,5 Jahre, was bedeutet, dass die Hälfte aller Algerier jünger als 25,5 Jahre ist. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit hoch, und die Wohnraumsituation miserabel.

Über Kompensationsgeschäfte mit China ließ sich Algerien den neuen Flughafen von Algier bauen, ebenso aber auch zahlreiche neue Wohnblocks für die expandierende Bevölkerung. Jeder westliche Beobachter fragt sich nach kurzer Zeit, warum die Algerier nicht selbst auf den Baustellen arbeiten und damit gleichzeitig das Arbeitslosigkeitsproblem verringern, aber überzeugende Antworten sind nicht zu erhalten. Offensichtlich glaubt man, die Chinesen würden den Wohnraum schneller und besser bereitstellen, wenn man sie allein arbeiten lässt.

Weil die algerische Wirtschaft komplett davon abhängt, sind auch Wohl und Wehe des algerischen Staats vom Ölpreis abhängig. Das war nicht immer so. Als Algerien 1962 unabhängig wurde, war es der größte Weinexporteur der Welt und mit 18 Millionen Hektoliter Wein der viergrößte Produzent der Welt. Rund 50% des Exports bestanden aus Wein - damit wurden 30% des Bruttosozialprodukts verdient. Aufgrund diverser Faktoren – französischer Boykott, islamisches Unbehagen gegen Alkohol, Vernachlässigung wegen der Erdöleinnahmen – blieben davon 2004 lächerliche 245.470 Hektoliter Wein übrig. Erst Bouteflikas Regierung ging eine Diversifizierung der Wirtschaft energisch an, indem sie z.B. Kredite an Weinbauern vergibt.

Algier. Bild: Peter Riedlberger