Von Fernfuchtlern, Zeitungsratten und Knüppelwörtern

Der Streit um Peter Handke ist auch eine Auseinandersetzung um Literatur und Journalismus

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Die Ankündigung, dass Peter Handke den Nobelpreis für Literatur 2019 erhalten soll, hat international heftige Reaktionen ausgelöst. Von den einen wird der Schriftsteller als "Genozid-Leugner" kritisiert, für andere ist er "der größte Poet unserer Sprache".1 Doch während die zweite Position auf Handkes umfassendes Oeuvre von über hundert Werken basiert, beziehen sich die Vorwürfe nur auf einen kleinen Teil seines Schaffens.

In der Beschäftigung mit "Gerechtigkeit für Serbien" liegt der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Debatte

Die Kritik, die Peter Handke nun im Zuge der Nobelpreisverleihung wieder erfährt, wurzelt in seiner Beschäftigung mit Jugoslawien und fußt konkret auf seinem Bericht "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina", der in den Wochenendbeilagen der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. und 13./14. Januar 1996 unter dem Titel "Gerechtigkeit für Serbien" erschienen ist. Während die literarische Qualität des Reiseberichts aus Serbien auch von den meisten Kritikern anerkannt wurde, erhitzten Prolog und Epilog die Gemüter. Darin behauptete der Schriftsteller, dass zahlreiche westliche Medien ein negatives Jugoslawien-Bild verbreitet und Serbien über die Jahre hinweg über die belastenden Fakten hinaus kritisiert hätten.

Dass Handke nach Serbien gereist war, das als Hauptverantwortlicher der jugoslawischen Zerfallskriege galt, schlug Wellen, seine Medienkritik brachte das Fass jedoch zum Überlaufen. So bezeichnete er die FAZ als das "zentrale europäische Serbenfressblatt"2 und ihre Journalisten als "Tendenzkartätschen"3, während er dem Spiegel, der Zeit, Le Monde, Liberation, Le Nouvel Observateur, der New York Times und vielen anderen vorwarf, sie hätten über Jahre "immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe"4 gedroschen und seien deshalb "auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde […] wie jene im Kampfgebiet".5

Dabei galt diese Kritik nicht pauschal dem Kriegsjournalismus, sondern expressis verbis jenen, die mittels Leitartikel und Kommentare fernab des Krisengebiets die Konfliktparteien in Gut und Böse eingeteilt hatten:

Nichts gegen so manchen - mehr als aufdeckerischen - entdeckerischen Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Ortes verwickelt), hoch diese und andere Feldforscher! Aber doch einiges gegen die Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet.

Handke

Serbische Reaktionen

Der Reisebericht wurde im deutschsprachigen Feuilleton bis auf wenige Ausnahmen verrissen. Doch auch in Serbien löste er durchaus gemischte Reaktionen aus. So stimmte der Romancier Dragan Velikić, den Handke in Belgrad getroffen hatte, der Medienkritik zu und erinnerte daran, dass "die Völker des ehemaligen Jugoslawien nur Jetons auf dem Spieltisch Europas"6 seien, deren Wert sich nach den Gesetzen des Spieles verändere.

Einen positiven Aspekt hob auch der nach Nobelpreisträger Ivo Andrić meistübersetzte serbische Dichter Milorad Pavić, den Handke ebenfalls besucht hatte, hervor, indem er darauf hinwies, dass der Reisebericht vor allem der künstlichen und mechanischen Sprache der Berichterstattung über Serbien vorübergehend Einhalt geboten habe. Der Schriftsteller Mladen Markov äußerte in diesem Zusammenhang seine Hoffnung, dass zukünftig anstelle der schablonisierten Berichterstattung authentische Signale vom Balkan treten könnten.7

Die oppositionelle Übersetzerin und Herausgeberin Drinka Gojković kritisierte hingegen, der Kärntner Schriftsteller sei einer voreingenommenen, "trotzig-falschen" politischen Überzeugung aufgesessen und habe deshalb auch literarisch versagt. Den Menschen in Serbien empfahl sie, weder dem von Handke zugeschriebenen Stolz noch der vom Westen geforderten Scham aufzusitzen, sondern "sich an die kühle Aufarbeitung der Tatsachen zu machen, nicht mehr und nicht weniger".8

Ähnlich kritisch reagierte auch der damals in Wien lebende Architekt, Essayist und ehemalige Oberbürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanović. Er hatte Slobodan Milošević schon Ende der 1980er Jahre kritisiert und meinte an die Adresse Handkes, die richtige Hilfe eines Freundes hätte darin bestanden, "den Serben die Anerkennung ihrer Niederlage zu erleichtern, um sie zum Nachdenken über ihre Ursachen zu bringen".9 So aber bestehe die Gefahr, dass der Text in Serbien als Revision auf der Basis zukunftsprojizierter Gerechtigkeit gelesen werden könne. Dass Handke den in Opposition zu Milošević stehenden Teil der Gesellschaft in seinem Reisebericht ausgeklammert hatte, wurde auch vom serbisch-österreichischen Schriftsteller Milo Dor als zentraler Kritikpunkt gesehen.10

Medien ignorieren wissenschaftlich belegte Medienkritik

Obwohl diese Reaktionen aus Serbien zeigten, dass Kritik an der "Winterlichen Reise" von Anfang an berechtigt war, fokussierte das deutschsprachige Feuilleton einen anderen Aspekt, nämlich die Medienkritik. Paradoxerweise lag Handke dort mit seiner Einschätzung näher an der Realität, auch wenn er dafür fast durchwegs Ablehnung erntete. Dabei hatte eine wissenschaftliche Arbeit 1994 nachgewiesen, dass in den deutschen Zeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und tageszeitung tatsächlich "durch eine Einseitigkeit der Berichterstattung zugunsten der Slowenen und Kroaten"11 ein serbisches Feindbild aufgebaut worden war, indem Serben in den untersuchten Printmedien mit den meisten Stereotypen belegt worden waren.12

Dass in deutschsprachigen Medien einseitig über Jugoslawien berichtet wurde, haben inzwischen zahlreiche universitäre Forschungen von Doktoranden und Professoren belegt. Doch in den Leitmedien werden allem Anschein nach weder Dissertationen noch Sammelbände wissenschaftlicher Symposien ernsthaft wahrgenommen.13 Insofern ist es auch nicht überraschend, dass sich die Debatte um Peter Handke und Jugoslawien bis heute kaum verändert hat und die gegen den Schriftsteller vorgebrachten Argumente seit 23 Jahren nahezu dieselben sind. Dabei beruht die Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Wahrnehmungen, und es lohnt sich, einen näheren Blick darauf zu werfen.

Unterschiedliche Herangehensweisen führen zu Spannungsfeldern

Die Kritik an Peter Handkes Positionen zur Zeitgeschichte des postjugoslawischen Raums weisen unterschiedliche Wurzeln auf:

  1. Das Spannungsfeld der zeithistorischen Interpretation: Ein Grund für die heftigen Reaktionen auf Handke liegt in der Interpretation des Jugoslawien-Kriegs. Während viele Leitmedien seit 25 Jahren nahezu unverändert Serbien die Verantwortung für die Bürgerkriege zuschreiben, nimmt Handke ebenso einseitig die Gegenposition ein. Für eine Weiterentwicklung dieser antithetischen Positionen lohnt sich ein Blick in Holm Sundhaussens "Geschichte Jugoslawiens von 1943 bis 2011"14, das die verschiedenen Konfliktlinien ethnischer, religiöser und ökonomischer Natur analysiert und damit das Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates differenzierter beleuchtet.
  2. Das Spannungsfeld Erzählung - Gegenerzählung: Peter Handkes fast trotzig wirkendes Parteiergreifen für den Outlaw Serbien und sein Versuch, ein Gegen-Narrativ zum massenmedialen Konsens zu schaffen, musste in den Leitmedien auf Kritik stoßen, da diese das Masternarrativ, wonach Serben die Täter und Kroaten, Bosnier und Albaner die Opfer waren, vertraten. Während in der Wissenschaft die auf Quellen und Fakten basierende Dekonstruktion eines Masternarrativs, einer Meistererzählung, Teil der historiographischen Methode ist, fällt es dem Journalismus sichtlich schwerer, die einmal eingenommene Interpretation zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
  3. Das Spannungsfeld von Inhalt, Äußerung und Handlung und das Argument ad personam: Die polemisch bis aggressiven Äußerungen Peter Handkes ("Diese Zeitungsratten verdienen mit ihrer Nichtarbeit, mit ihren Fertigsätzen und Fertigbildern ein Heidengeld"15) boten Journalisten eine Angriffsfläche, auf die sie ausweichen konnten, um nicht über den Kern seiner Kritik diskutieren zu müssen. Und seine Handlungen, vor allem seine fragwürdige Teilnahme am Begräbnis von Slobodan Milošević, führten zu persönlichen Angriffen und dazu, Position und Autor für diskursunfähig zu erklären.
  4. Das Spannungsfeld Journalismus und Literatur: Journalismus soll die Realität gewichten und dadurch Orientierung schaffen, während die Literatur durch Gleichbehandlung relativiert. Indem sie das Nebensächliche, das vermeintlich Unbedeutende, den Außenseiter in den Mittelpunkt stellt, schenkt sie ihm überproportional Beachtung. So kritisierten Journalisten den Schriftsteller für seine Relativierungen, indem er "mit den kleinen Leiden in Serbien" daherkomme, wo doch "jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihac, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind".16
  5. Das Spannungsfeld Sprache: Während Journalisten aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie reißerische Begriffe und Sprachschablonen verwenden (Milošević als neuer Hitler), beschäftigen sich Schriftsteller mit dem Wesen der Sprache. Insbesondere ein sprachsensibler Autor wie Peter Handke, der mit "Kaspar" schon sehr früh in seinem literarischen Schaffen Sprache und Sprachlosigkeit in den Mittelpunkt gerückt hatte, musste sich durch die häufig auf Stereotype setzende journalistische Sprache irgendwann provoziert fühlen.

Sprachsensibilität, Bildkritik und differenzierte Geschichtsschreibung als Antrieb für Handkes proserbischen Standpunkt

Was aber hat Peter Handke dazu bewogen, sich - zum eigenen Schaden - so für Serbien zu verwenden? Was waren seine Gründe, sich in unkritische Nähe zum serbischen Machthaber zu begeben, ihn im Gefängnis in Den Haag zu besuchen17 und bei seinem Begräbnis im Mai 2006 eine Rede zu halten?

Im ORF-Interview sagte er dazu am 10. Dezember 2007, er sei "als privater Mensch hingegangen [..., als] Trauergast für das gestorbene Jugoslawien".18 Zudem sei es ihm unerträglich erschienen, wie über Milošević kurz nach dessen Tod als "der Schlächter vom Balkan" oder "der blutrünstige Killer" gesprochen worden war, denn: "Milošević war nicht Ceausescu, er war nicht Hitler. Ich weiß nicht, was er war. Es wäre wichtig für den Frieden zu wissen, wer er wirklich war."19

Bis heute hat diese Erklärung viele Kritiker nicht zufriedengestellt. Doch was steckt hinter dem Festhalten an Serbien? Neben den vielfältig geäußerten Vermutungen, Handke habe seine Jugoslawien-Nostalgie auf Serbien übertragen20, dürften drei Gründe dafür verantwortlich sein: Erstens seine Ablehnung, "dass Journalisten meinen, Geschichte schreiben zu dürfen"21, zweitens, "dass man so nicht schreiben darf über Jugoslawien"22, also die Sprachbilder, die "Knüppelwörter"23, und drittens die Kritik an einer verzerrenden, irreführenden Bildsprache:

Ich spüre manchmal, dass ein neuer Bildersturm an der Zeit wäre. Es geht nicht so weiter, es ist eine Beleidigung, eine Entseelung, eine Entleiblichung, was die Bilder mit uns machen.

Handke

Im Unterschied zu seinen anderen Werken wurden Handkes Texte zu Serbien mehrheitlich abgelehnt.24 Dies hat den Kärntner Autor im Februar 2006 angesichts der Tatsache, dass viele Buchhandlungen seine Bücher nicht mehr führten, zur Aussage veranlasst:

Daran seid auch ihr Kritiker schuld. Auf der einen Seite macht ihr im Feuilleton, wenn ich jetzt mal im Plural reden darf, einen Text wie den über meinen Besuch bei Milošević oder über meine Reise zu den Flüchtlingen in Serbien nieder, noch bevor ihr ihn gelesen habt, ihr blockt ab; und auf der anderen Seite, wenn Gestern unterwegs erscheint, seid ihr ganz offen und zeigt euch als feine, aufmerksame, sprachbewusste Leser.

Handke

Dass Peter Handke durch manche seiner Positionen seit Jahren polarisiert, führt dazu, dass seine Jugoslawien-Texte mit bestimmten Erwartungshaltungen gelesen werden. So verständlich dies ist, so schade ist es gleichzeitig. Denn eine genaue und möglichst vorurteilsfreie Lektüre würde nicht nur zu einer Weiterentwicklung der Debatte um den Schriftsteller beitragen, sondern könnte auch Anstoß sein, das Geschichtsbild über Jugoslawien anhand der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu überprüfen.

Kurt Gritsch ist promovierter Zeithistoriker und Autor des Buches "Peter Handke und 'Gerechtigkeit für Serbien'. Eine Rezeptionsgeschichte" (Innsbruck, Studienverlag 2009).

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