Von Flaneuren und Goldgräbern
Urbanität heute - oder: Wie weit ist es eigentlich bis in die Dritte Welt?
Eigentlich genügt ein Blick auf Jarkarta und Kairo, auf Mexico, Kalkutta oder Lima. "Ist er nicht auf seiner ersten Reise, so weiß der Mensch, dass Städte wie diese eine Kehrseite haben: Man braucht nur einen Bogen zu gehen und hat schon Morianas verborgenes Gesicht vor Augen, eine Fläche mit verrostetem Blech, Sackleinwand, nägelbespickten Balken, rußschwarzen Rohren, Haufen von Büchsen, Brandmauern mit verwaschenen Inschriften, Stuhlgerippen ohne Flechtsitze, Stricken, die nur noch dazu taugen, sich an einem morschen Balken aufzuhängen." Was Italo Calvino beschreibt, ist die zwar selten trostlose, immer aber mitleidlose Wirklichkeit der Metropolen. Die andere, die harte Seite. Viele, wenn nicht die meisten Bewohner sind tagtäglich mit ihr konfrontiert. Was dazu führt, dass Metropolen nicht mehr als Orte, sondern eher als Identitäten verstanden werden; nicht mehr als räumlich fassbare Bezugspunkte, sondern nur noch als verdinglichte Erwartungshaltung. Gleich, auf welchen Kontinent - es sind wahre Massen, die hierhin strömen, um ihre Zukunft zu sichern.
Unser historisches Verhältnis zur Stadt, so befand der Philosoph Boris Groys vor einiger Zeit, sei vom utopischen Traum nach vollständiger Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der eigenen Umwelt geprägt. Zwar sind Anspruch und Wirklichkeit, das lehrt schon der Lebensalltag, selten einmal deckungsgleich. Aber in kaum einen Handlungsfeld klaffen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander wie im Urbanismus.
Im Projekt "Stadt" verbinden sich mit einer Lebens- und Sozialform gleichzeitig Realitäten wie Wünsche. Stadt ist so verstanden ein analytischer und ein normativer Begriff. Das Verständnis von Urbanität als Vorstellung "guten Lebens" wirkt ebenso normativ, wie es die analytische Betrachtung der Stadt bestimmt. Stadtbilder und -geschichten geben besondere Antworten auf allgemeinere Fragen nach Identität, d.h. danach was Menschen (geworden) sind und gemacht haben. Städte bilden den Widerstreit zwischen Allgemeinplätzen, übergreifenden Strömen und besonderen Räumen ab, sie geben universellen Entwicklungen eine jeweils besondere lokale Form.
Als Georg Simmel 1903 schrieb, die Stadt sei keine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt, lebte gerade einmal ein knappes Zehntel der Menschheit in Großstädten. Heute ist es mehr als die Hälfte. Und mit der drastisch zunehmenden Verstädterung werden die räumlichen Formen des Zusammenlebens immer bizarrer. Zwar gibt es viele Regionen, die von urbanen Schrumpfungserscheinungen geprägt sind - wie es das Forschungs- und Ausstellugsprojekt "shrinking cities" unlängst eindrucksvoll illustriert hat. Aber aus globaler Perspektive fallen sie quantitativ kaum ins Gewicht. Was man beschwichtigend Verstädterung nennt, wird durch einen kontinuierlichen Zustrom von Arbeitssuchenden, vom Land "vertriebenen" Migranten genährt, welche im Zuge der - eher wirtschaftlichen denn gesellschaftlichen - Modernisierung in der Stadt eine neue, bessere Lebensgrundlage erhoffen. Dieses Problem auf eine individualistische Goldgräber-Mentalität zurückzuführen, greift indesssen zu kurz. Stehen die Städte doch unter dem Druck der fortschreitenden Tertiärisierung ihrer Wirtschaft, einer grenzüberschreitenden Arbeitsteilung, der Transnationalisierung der Produktion, der Segregation ihrer Bevölkerung usw.
Hinter der nüchternern Betrachtung von Fakten und Tendenzen verbirgt sich ein weiteres Bild. Denn zu den immensen realen Problemen gesellt sich bei vielen (Groß)Städten ein bestimmtes Negativ-Image. Gerade das bengalische Kalkutta genießt dieses zweifelhafte Privileg: "Warum nicht ein Gedicht über einen Haufen Scheiße schreiben, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte. Wie es wimmelt, stinkt und lebt und immer mehr wird." Günther Grass, von dem diese Worte stammen, ist nicht der einzige, den die ehemalige Hauptstadt Britisch-Indiens an seine ästhetischen, moralischen und psychischen Grenzen geführt hat. Schon der erste Generalgouverneur Kalkuttas, Robert Clive, sah in ihr den verdorbensten Ort der ganzen Welt. Mahatma Gandhi bezeichnete sie als sterbende Stadt, und auch für den indisch-karibischen Schriftsteller V.S. Naipaul ist Kalkutta eine Stadt ohne Zukunft, wenn er schreibt: "Alle ihre Leiden sind Leiden des Todes. Ich kenne eigentlich keine andere Stadt, die noch hoffnungsloser wäre."
Fast jede Darstellung einer großen Millionenstadt der sogenannten Dritten Welt könnte den Untertitel eine Metropole in der Krise tragen. Aber mit kaum einer anderen Stadt ist die Vorstellung von Armut, Krankheit, Elend, Tod, Verfall und Hoffnungslosigkeit so eng verbunden wie mit Kalkutta der Hauptstadt des indischen Bundesstaates West-Bengalen. In der Tat: Lärm, Gestank, Massenarmut und das bekannt hitzköpfige Temperament der Bengalis haben Kalkutta zu einem brodelnden Hexenkessel werden lassen.
Der Kulturschock, den der westliche Besucher erlebt, ist überwältigend - in der vollen Bedeutung des Wortes, weil Elend und Chaos Kalkuttas alle Sinne erfassen. Es mag dazu beigetragen haben, dass Fernsehen, Schriftsteller oder Journalisten wohl öfter über Kalkutta berichtet haben als über andere Städte - sehr zum Missfallen der Inder, die sich darüber beschweren, dass im Westen überwiegend die negativen Seiten ihres Landes herausgestellt werden. Dabei war dieses Kalkutta, das heute die unlösbaren Probleme der Stadtentwicklung in der Dritten Welt demonstriert, bis zur Unabhängigkeit und Teilung Indiens nach London die zweitgrößte Stadt des britischen Weltreiches, die größte und reichste Stadt Indiens, sein wichtigster Hafen und sein bedeutendster Industriestandort. Es war die koloniale Stadt par excellence, der Brückenkopf der Briten in Indien, von dem aus das Hinterland ausgebeutet wurde, auch zum Vorteil indischer Eliten in Kalkutta. Doch dann begann der "Abstieg": Die Verarmung des Hinterlandes, die Bevölkerungsexplosion, schließlich nach der Teilung Indien auch noch die Flüchtlinge aus dem östlichen Bengalen, all das lenkte wahre Zuwandererströme in die Stadt. Zugleich jedoch stagnierte die Wirtschaft und bot keine neuen Arbeitsplätze mehr; das ohnehin diffizile Gleichgewicht von Einwohnerzahl und Lebensmöglichkeiten war zerstört. Einst von den Briten für maximal eine Million Menschen geplant, platzt der "Alptraum" Kalkutta längst aus allen Nähten. Innerhalb von 30 Jahren wuchs die Einwohnerzahl von 4,4 Mio. im Jahre 1961 auf über 12 Mio. Anfang der 90er Jahre. Und heute spricht man von 17 bis 20 Mio., freilich ohne es statistisch belegen zu können.
Wie bei einem See, der zu viele eingeleitete Fremdstoffe nicht mehr aufnehmen kann, kam es zum Umkippen Kalkuttas. Die dramatischen Folgen dieser brisanten Mischung aus Bevölkerungsexplosion und ökonomischer Talfahrt begegnen einem auf Schritt und Tritt: Mit Delhi gehört Kalkutta zu den sieben Städten der Erde mit der schlimmsten Luftverschmutzung. Das mörderische, schwül-heiße Klima zusammen mit der abgasgeschwängerten Luft hat dazu geführt, dass fast die Hälfte aller Bürger an Bronchitis, Lungenentzündung, offener Tuberkulose und anderen Atemwegserkrankungen leiden. Bleihaltig wie die Luft ist auch das Trinkwasser, da die Rohre des städtischen Wassernetzes noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Allerdings sind eh nur die Hälfte aller Einwohner ans Netz angeschlossen. Kanalisation gibt es nur im Stadtzentrum, so dass jedes Jahr zur Monsunzeit die Straßen mit von Exkrementen durchsetztem Hochwasser überspült werden. Da regt das jeden Tag mehrmals zusammenbrechende Stromnetz inzwischen schon niemanden mehr auf. Am bedrückendsten sind jedoch die Folgen der hoffnungslosen Überbevölkerung. Auf einem Quadratkilometer drängeln sich mehr als 35.000 Menschen. Zwei Drittel der Bevölkerung Kalkuttas leben in offiziellen, von der Regierung anerkannten Slumgebieten, den sogenannten Bustees. Für umgerechnet etwa drei Euro im Monat hausen sie in primitiven Hütten aus Lehm, Wellblech und alten Holzkisten. Das in den Slums oft eng geknüpfte Netz sozialer Bindungen und zumindest einige wenige sanitäre Einrichtungen lassen diese Menschen jedoch zu den Privilegierten zählen. Darunter kommen die Squatters, die als wilde Siedler unter erbärmlichen Verhältnissen in aus Stoff und Plastikplanen gefertigten Behausungen leben, die sie für die Nacht an Hauswänden aufschlagen. Am dreckigsten im wahrsten Sinne des Wortes geht es jedoch den knapp eine Million Menschen, die außer einem Blechnapf allenfalls eine dreckverkrustete Bastmatte besitzen. Auf den Gehsteigen, in Hauseingängen, unter Ochsenkarren, neben Abfallbergen und offenen Kanälen, zwischen Ratten und räudigen Hunden fristen sie ihr Dasein.
Bei aller Drastik ist Kalkutta doch nur ein Beispiel, und keineswegs ein präzedenzloses. Denn Bilder wie diese prägen sich all jenen ein, die eine Megacity aufmerksam durchstreifen: Es ist die unmittelbare, kognitive, haptische Erfahrung dessen, was Migration, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot usw. in Städten und Agglomerationen namentlich der Dritten Welt bewirken bzw. hinterlassen. Zusammen mit exorbitanten Geburtenraten bedingt dies eine akute, ja explosive Situation. Kein Platz, kein Job, kein Geld - was tun?
Als Konsequenz haben die ärmeren Bevölkerungsgruppen sich zu einem großen Teil auf informelle und illegale Weise mit Obdach versorgt. Man zieht in die Slums oder wird Squatter. In schon bebauten, verdichteten Stadtbereichen geschieht dies entweder durch Überbelegung und Aufstockung bestehender Wohngebäude. (In Kairo sterben jährlich Dutzende durch den Kollaps völlig überladener Baustrukturen!) Oder auf Flächen, die aus topographischen Gründen (Sumpf, Steilhang etc.) von konventioneller Bebauung frei geblieben sind. Hauptsächlich aber wird an den Stadtrandzonen unautorisiert, ohne Baugenehmigung auf oft infrastrukturell noch ganz unversorgtem Acker- oder Brachland durch kleine Bauhandwerksfirmen und/oder Selbsthilfe gebaut - oder genauer: eine Behausung aus allen möglichen (Abfall)Materialien zusammengeflickt. Gecekondu werden solche Siedlungen genannt, Favela und Bidonville, Barriada oder Bustees. Groß sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht. In Städten wie Karachi, Nairobi, Rio de Janairo oder Jarkata sind die Quartiere aus Wellblech und Pappe zu riesigen Kolonien zusammengewachsen. Sechs, acht Menschen hausen in einem winzigen Raum, fast immer ohne Wasser und ohne Latrinen. Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Gänge zwischen den Hütten in einen abgrundtiefen Morast. Der Kot steht den Menschen buchstäblich bis zu den Knien.
Was man erlebt, ist eine Kakophonie der gegenwärtigen Stadt, ein Zerrbild dessen, was in unserem Kulturkreis als Urbanität beschworen wird. Doch wenn dies nun keine beklagenswerten Auswüchse sind, keine bloßen Wucherungen, sondern Vorwegnahmen globaler Entwicklungen? Denn allen himmelschreienden Zuständen zum Trotz scheint ja der Satz zu gelten: In der Stadt hungert es sich besser. Und tatsächlich haben selbst die schlimmsten Monsterstädte ein Mindestmaß an Infrastruktur und - vor allem - Attraktivität zu bieten, auch wenn letztlich nur ein geringer Teil der Zuwanderer in deren Genuss kommt. Aber ihr sichtbares Vorhandensein erzeugt eine offenbar unwiderstehliche Hoffnung.
Doch die ist trügerisch, auch in der Ersten Welt. Die moderne Wirtschaftsstruktur garantiert keineswegs (mehr) die Integration in das gesellschaftliche System. Sie macht die ‚globale’ auch zu einer ‚dualen’ Stadt. Einerseits verdeutlicht die Gentrification, die von Verdrängungsprozessen begleitete Aufwertung von Stadtquartieren, in einer für die Betroffenen sehr unmittelbaren Art und Weise, dass und warum es mit der angeblichen Dezentralisierung im Zuge der Dienstleistungsgesellschaft nicht weit her ist. Andererseits ruft die global city, die Schaltzentrale der Weltwirtschaft, förmlich nach einem enggewebten Netz eben auch persönlicher Beziehungen. Die Eliten sind selbst im Zeitalter fortschrittlichster Kommunikationssysteme auf der Suche nach einem räumlichen Umfeld, das die Vibrationen, Schwingungen der wirtschaftlichen Dynamik fühlbar macht.
Freilich sieht sich die Stadtentwicklung mit einem fundamentalen Problem konfrontiert, welches der renommierte Planer Rem Koolhaas folgendermaßen formuliert hat:
How to explain the paradox that urbanism, as a profession, has disappeared at the moment when urbanisation everywhere - after decades of constant accerleration - is on its way to establishing a definitive, global ‚triumph’ of the urban scale?
Planung steht in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht eben hoch im Kurs. In gewisser Weise gilt sie als ein Relikt des "Kalten Krieges", und mit ihm glaubte man die Welt vom modernen Planungswahn befreit. Dies kommt nicht von Ungefähr: Denn was sich seit 1945 urbanistisch durchsetzte - und nach wie vor gilt -, ist eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Und das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt.
In den Text der Stadt sind seit je kulturpessimistische Energien eingeflossen. Nachdem Alexander Mitscherlich in den sechziger Jahren die "Unwirtlichkeit der Städte" weltanschaulich auf den Begriff gebracht hatte, dauerte es zunächst einige Jahre, ehe sich der postmoderne Zeitgeist mittels eines Wortspiels in den achtziger Jahren der "Unwirklichkeit der Städte" zu öffnen vermochte. Das klang inszeniert und künstlich, war aber auch eine Art Neuentdeckung des Städtischen als Gestaltungs- und Phantasieraum. Man nahm nun weit mehr wahr als nur den Waschbeton der Fußgängerzonen und die abendliche Verödung der Innenstädte nach Büro- und Ladenschluss. Seither ist die Stadt nicht mehr nur Wohn- und Wirtschaftsraum, sondern auch bevorzugte Austragungsfläche der Eventgesellschaft.
In und mit der Stadt läßt sich die schleichende Verschiebung der gesellschaftlichen und kulturellen Gewichte erahnen. Es ist eben jenes "Unsichtbare", dem der Schriftsteller Italo Calvino so beredt nachspürte:
Es scheint, dass die Stadt von der einen Seite zur anderen perspektivisch weitergeht und ihr Repertoire von Bildern multipliziert; doch sie hat keine Dichte, sie besteht nur aus einer Vorderseite und einer Rückseite, wie ein Blatt Papier mit einer Figur hier und einer Figur dort, die sich nicht ablösen und nicht ansehen können.
Im Ergebnis solcher Prozesse werden Städte möglicherweise nicht mehr als Orte, sondern eher als Identitäten verstanden: Sie stellen heute weniger einen geographischen Bezugspunkt dar als vielmehr eine verdinglichte Erwartungshaltung.
Doch damit ist so etwas wie Stadtpolitik keineswegs entbehrlich geworden. Gerade weil sie mit der Befriedigung der alltäglichen Lebensbedürfnisse zu tun hat, liegt ihre zentrale Aufgabe nach wie vor darin, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen der Orientierung am Gemeinwohl und der Optimierung von Eigentums- und Individualrechten Einzelner. Stadtplanung ist dabei, um einen Gedanken des Kultursoziologen Lucius Burckhardt aufzugreifen, ein Zuteilen von Bequemlichkeiten und von Leiden. Denn alles was Stadtplanung bewirkt, bringe irgendwelchen Leuten Vorteile und anderen Nachteile. Damit aber müsse man umgehen. Und die Architektur übernimmt als räumliches System noch immer Ordnungsaufgaben innerhalb der Gesellschaft. Allerdings muss man sich dessen neu bewusst werden.
Alle Bilder wurden im Januar 2011 in Kalkutta aufgenommen. Christoph Knoch ist freier Fotograf in München.