Von Krankheit X zu COVID-19
- Von Krankheit X zu COVID-19
- COVID-19 ist die Krankheit X
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Kaum aussagefähige Statistiken, Handel mit Wildtieren, Zerstörung von Ökosystemen: Pandemien sind nicht ein Teil unserer Kultur, sondern deren Folgen
Seit das SARS-CoV-2-Virus im Herzen Europas angekommen ist, wächst allerorts die Verunsicherung. Viele reagieren mit Blick auf die Situation in Norditalien mit großer Angst. Dabei hat sich an den harten Fakten, die wir über das neue Coronavirus seit nunmehr zwei Monaten kennen, kaum etwas geändert. Die Mortalität des SARS-CoV-2 wird offiziell mit bis zu 3,5 Prozent beziffert. Aufgrund der hohen Dunkelziffer an symptomarmen oder gar symptomlosen Trägern ist jedoch anzunehmen, dass die Zahl tatsächlich wesentlich niedriger anzusetzen ist, weit unter einem Prozent.
Die nationalen Statistiken sind zum Teil widersprüchlich. In ärmeren Staaten mit schwachen Gesundheitssystemen, aber auch infolge von Unterernährung, parasitärer Infektionen oder einer starken Feinstaubbelastung dürfte die Mortalität, wie die Zahlen aus dem Iran suggerieren, höher sein. Generell steigt sie mit zunehmendem Alter und mit der Anzahl von Begleiterkrankungen.
Die jüngsten Daten der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention, kurz C.D.C., belegen, dass bei Todesfällen in den USA jüngere Menschen viel stärker betroffen sind als etwa in Italien oder in China. Die Gründe dafür blieben zwar unerwähnt, könnten aber mit den Essgewohnheiten, der weit verbreiteten Übergewichtigkeit oder einem schlechteren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusammenhängen. Die auffallend hohe Sterblichkeit von bis zu 10% in Norditalien erklärt sich teilweise aus der Überalterung oder aus der hohen Feinstaubbelastung in den am stärksten betroffenen Gebieten, stellt die Experten dennoch vor ein Rätsel. Manche von ihnen gehen davon aus, dass das Virus Italien bereits sehr früh, möglicherweise im Januar erreichte und sich dann ungehindert in breiten Schichten der Bevölkerung auszubreiten begann.
La Repubblica berichtete in diesem Zeitraum von einer ungewöhnlichen Häufung schwerer Lungenentzündungen, die der Influenza zugeschrieben wurden. Auf der anderen Seite des Brenner-Passes sind in Deutschland mit über 25.000 nachgewiesenen Corona-Fällen bisher rund 100 Patienten verstorben, in Österreich sind es bei über 3600 Fällen 16 Todesfälle (Stand 23.03.).
Fragwürdige Statistiken
Die Aussagekraft der nationalen SARS-CoV-2-Statistiken ist kritisch zu hinterfragen. Generell gilt: Je höher die Testrate, desto glaubwürdiger die Zahlen. Die meisten Staaten Afrikas, krisengeschüttelte Regionen Mittel- und Südamerikas und Asiens Armenhäuser wie Bangladesch oder Myanmar haben keinerlei Kapazitäten, um mögliche Verdachtsfälle auf das neue Coronavirus zu testen.
COVID-19 bedarf einer elaborierten und teuren Labor- und Röntgen-Diagnostik. Zudem haben die maroden Gesundheitssysteme all jener Staaten mit anderen tödlichen Infektionen wie AIDS, Malaria, Dengue oder Lungenentzündungen durch Pneumokokken zu kämpfen. In wirtschaftlich führenden Staaten sind offizielle Statistiken wiederum nicht selten ein Spielball wirtschaftlicher und politischer Interessen.
In den USA, wo Präsident Trump noch Anfang Februar die Finanzierung des CDC stark beschnitten hat, könnten nun dramatischen Corona-Statistiken der Gesundheitsagenturen einen Weckruf an den notorischen Wirklichkeitsverweigerer im Weißen Haus auslösen. In Japan, wo Premierminister Shinzo Abe in an Kriegsrhetorik erinnernden Reden die Entschlossenheit seines Landes beschwört, die Olympischen Spiele in Tokio allen Widerständen zum Trotz austragen zu wollen, wachsen die Infektions- und Todeszahlen bei nur halbherzigen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verdächtig langsam. Russlands Führung behauptet, trotz wirtschaftlicher Nähe zu China, nur wenige Fälle nachgewiesen zu haben.
Es wird sich wohl nie klären lassen, wie viele Menschen sich in China, wo sich das Virus wahrscheinlich bereits seit Ende Oktober vergangenen Jahres auszubreiten begann, tatsächlich infiziert haben und wie viele daran gestorben sind, ohne zuvor getestet worden zu sein. Millionen Wanderarbeiter aus Wuhan trugen den Erreger in ihre entlegenen Dörfer und Kleinstädte. Aus den meisten wirtschaftlich unterentwickelten Staaten werden wir wohl nie verlässliche Daten erhalten.
Es ist die hohe Infektiosität, also die Anzahl jener Personen, die von einem Erkrankten angesteckt werden können, welche den Experten Sorgen bereitet, da auch bei einer relativ niedrigen Sterberate und einer hohen Zahl an Infizierten viele Patienten eine intensivmedizinische Betreuung benötigen bzw. sterben. Genau das beobachten wir gerade in Norditalien. Ein an der saisonalen Grippe Erkrankter infiziert, je nach Influenza-Stamm, im Schnitt zwischen 1,4 und 1,8 weitere Personen - eine mit dem Coronavirus infizierte Person kann bis zu 3 weitere Menschen anstecken. Daraus ergibt sich eine Verdoppelung der registrierten Fälle alle 3 bis 4 Tage. Die drastischen Maßnahmen, die die meisten Staaten nun ergreifen, dienen dem Hinauszögern jener Verdoppelungszeit, um zu erwirken, dass die Zahl der schweren Fälle langsamer ansteigt, um so die Kapazitäten des Gesundheitssystems zu entlasten.
In gut vernetzten Staaten des Westens ist die Dimension der sich anbahnenden Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik, auf jegliche Aspekte des Alltags für die Zeit nach der Corona-Krise in den Köpfen der Menschen noch kaum angekommen. Halten offene Demokratien dieser Probe stand? Wird der dramatische Einbruch der Weltwirtschaft Zustände wie in den 1930er Jahren auslösen, wie Massenarbeitslosigkeit, Verelendung, Umstürze, bewaffnete Konflikte, einen Überwachungsstaat? Oder wird die Weltgemeinschaft wertvolle Lehren aus der Epidemie ziehen, nutzt sie die Gelegenheit zu einem Neustart, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen?
Gegenseitige Beschuldigungen wie etwa jene Donald Trumps in Richtung Europa oder China - immer wieder spricht er vom "China-Virus" - sind Populismus in Reinkultur. Aber auch wir in Europa erleben zurzeit nationale Egoismen und Schuldzuweisungen: Skandinavische Staaten verorten die Schuld an der Ausbreitung des Virus bei Österreich. In Tirol, wo die Touristiker und Liftbetreiber trotz Häufung der Infektionen eine vorzeitige Beendigung der Schisaison hinauszögerten, weist man auf die Nähe zu Italien.
Dabei sind die Tatsachen, dass italienische Markenprodukte von billigen chinesischen Arbeitern in Norditalien hergestellt werden oder dass sich Menschen aus aller Welt in Ischgl in Massen in immer größeren Hotelburgen und auf naturraubenden Schipisten tummeln, zwei Seiten derselben Medaille. Es ist unser aller Handeln im grenzenlosen wachstumsfixierten Wirtschaftssystem.
Ökosysteme schützen
Es ist weder China noch sonst irgendeine einzelne Nation, die an der Pandemie Schuld trägt. Peter Daszak, britischer Zoologe, Krankheitsökologe und Präsident der in New York ansässigen EcoHealth Alliance dreht den Spieß um. Seit vielen Jahren warnt er vor dem ungehemmten Eindringen des Menschen in fragile Ökosysteme, in Kombination mit globalisiertem Handel und Verkehr, vor all dem, was zur Ausbreitung neuer Virus-Erkrankungen beiträgt.
Gerade dort, wo Land gewonnen wird, die Landwirtschaft intensiviert, Wälder gerodet, Straßen gebaut werden, dringen zwangsweise Menschen in Habitate von Wildtieren ein und werden von diesen mit neuartigen Viren infiziert. Das war in allen bisherigen Fällen so, ob Ebola, Marburg, MERS oder SARS - jedes Mal handelte es sich um Zoonosen, also von Tieren auf Menschen übertragene Erkrankungen.
Daszak kritisiert die reduktionistische Strategie beim Umgang mit Viren: Wir entdecken sie, identifizieren die Moleküle an ihrer Oberfläche, entwerfen mit Hightech Impfungen und sind dennoch den Viren stets hinten nach. Während COVID-19 sich flächenbrandmäßig ausweitet, haben wir nach wie vor keine Impfung gegen SARS-1, HIV oder Zika. Darüber hinaus gibt es über eine Million Viren, die SARS-CoV-2 ähneln. Allein in Fledermäusen hat Daszak 500 neue Coronaviren entdeckt.
Zheng-Li Shi vom Wuhan-Virologie-Institut, mit der Daszak seit vielen Jahren zusammenarbeitet und deren Team das SARS1-Virus aus Fledermäusen in Höhlen von Yunnan isolierte, warnte bereits 2005 vor neuen Pandemien, die von Coronaviren ausgehen könnten. Daszak appelliert nun an die Verantwortlichen, Pandemien als einen Prozess zu betrachten und sich nicht auf einzelne Pathogene zu konzentrieren. Man solle Menschen in ländlichen Gebieten unterstützen, Risiken zu minimieren und den Eingriff in Ökosysteme zu stoppen.
Am Pranger steht der Handel mit Wildtieren. Der Verzehr des sogenannten Buschfleisches in Zentralafrika oder Lebendtiermärkte in China sind relativ neue Phänomene. Im Reich der Mitte richtet sich das Angebot an zumeist wohlhabende Menschen, die exotische Tiere für eine Delikatesse halten. An den wet markets, wie jenem in Wuhan, wurden neben Meeresfrüchten auch Schuppentiere, Marderhunde, Riesensalamander oder Baby-Krokodile gehandelt. So könnte die Übertragung des neuen Coronavirus auf den Menschen das Resultat von Kontakt mit Blut und Fäkalien dieser Tiere sein, die zuvor von Fledermäusen infiziert wurden.
Bereits seit dem ersten SARS-Ausbruch 2002-2003 herrscht ein gestiegenes Bewusstsein in China, dass dieser Wildtierhandel Gefahren birgt. Präsident Xi Jinping kündigte neulich an, den Wildtierhandel "entschlossen zu ächten" und "hart durchzugreifen". Seitdem sollen bereits 3700 Märkte geschlossen und 16.000 Zuchtstätten versiegelt worden sein.
Weil aber die Wildtiere neben dem Gourmet-Aspekt auch eine wichtige Nahrungsquelle gerade für ärmere Menschen in Asien und Afrika darstellen, plädiert Peter Daszak für realistischere Maßnahmen wie etwa eine bessere internationale Regulierung, Überwachung und Aufklärung.