Von Schulden und Jobs
Die Krise der US-amerikanischen Arbeitsgesellschaft ist aufs Engste mit der Schuldenkrise verflochten, die Washington derzeit paralysiert
Auch nahezu drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers scheint die amerikanische Ökonomie weit von einer Stabilisierung entfernt. Neben der eskalierenden Schuldenkrise sieht sich die amerikanische Politik verstärkt mit einem weiteren ökonomischen Brennpunkt konfrontiert, der die Wiederwahl von Präsident Barack Obama ernsthaft gefährdet: Im vergangenen Juni generierte die amerikanische Wirtschaft gerade mal 18.000 neue Arbeitsplätze, wodurch der Anstieg der Arbeitslosenquote in den USA sich im dritten Monat in Folge fortsetzte und inzwischen die offizielle Marke von 9,2 % erreichte. Prognostiziert wurden 90.000 neue Jobs. Die Vereinigten Staaten bräuchten als Einwanderungsland ein monatliches Wachstum von 300.000 Arbeitsstellen, um die Arbeitslosenquote signifikant zu senken.
Wirtschaftswissenschaftler erwarteten einen signifikanten Neuaufbau von Arbeitsplätzen nach den sehr schlechten Zahlen vom Mai 2011, als hohe Energiepreise und die Auswirkungen des Erdbebens in Japan die Wirtschaft belasteten - nur 24.000 Arbeitsplätze wurden im Mai in den gesamten USA neu geschaffen. Die Prognosen einer spürbaren Wirtschaftsbelebung in den USA in der zweiten Hälfte dieses Jahres scheinen sich somit als Wunschdenken zu entpuppen. Sollte die Arbeitslosigkeit bis zu den Wahlen im kommenden Jahr nicht spürbar sinken, könne Präsident Barack Obama seine Wiederwahl vergessen, kommentierte das linksliberale Nachrichtenmagazin The Nation die beständig steigende offizielle Arbeitslosenquote, die ohnehin das wahre Ausmaß der Krise der amerikanischen Arbeitsgesellschaft verschleierte:
Die offizielle Arbeitslosenrate von 9,2 % - angestiegen von 9,0 % vor zwei Monaten und 9,1 % vor einem Monat - ist nur ein fader Schatten der realen Rate. Kategorisiert in der offiziellen Bezeichnung U6-Arbeitslosigkeit beinhaltet die reale Arbeitslosenrate die offiziell arbeitslos Gemeldeten, wie auch die Unterbeschäftigten und diejenigen Amerikaner, die die Arbeitssuche bereits aufgegeben haben. Sie steht bei mehr als 16 % landesweit.
Normalität einer hohen Arbeitslosigkeit
Dabei scheinen tatsächlich die Auseinandersetzungen um die Staatsverschuldung in den Vereinigten Staaten bereits zu diesem hohen Niveau der Arbeitslosigkeit beigetragen zu haben, da hierdurch das Verbrauchervertrauen der amerikanischen Konsumenten eingebrochen sei, was zu einem Rückgang der in den USA immens wichtigen privaten Nachfrage geführt haben dürfte. Der Kampf zwischen Republikanern und Demokraten um die konkrete Ausgestaltung des mit einer Erhöhung der Schuldenbremse einhergehenden Sparpakets lässt auch die Unternehmensinvestitionen erlahmen, da viele Betriebe aufgrund der Kürzungen und Steuerungen einen weiteren Einbruch der Massennachfrage befürchten. Zudem konnten viele Unternehmen während der vergangenen Rezession ihre Produktivität und Profite rasch steigern, da sie es lernten "mehr Arbeit und Einnahmen aus einer reduzierten Belegschaft herauszupressen."
Bereits jetzt sind seit dem Ende der Rezession 493.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor der Vereinigten Staaten abgebaut worden, weil die unter immer größeren Schuldenbergen leidenden Kommunen oder Bundesstaaten diese nicht mehr finanzieren können. Allein im vergangenen Juni wurden 39.000 Angestellte von staatlichen Stellen entlassen, wodurch der bescheidene Zuwachs der Beschäftigung im privaten Sektor nahezu vollständig amortisiert wurde. Seit dem Auslaufen der enormen amerikanischen Konjunkturprogramme liegt auch der US-Bausektor darnieder, der während der Immobilienblase zu einem der wichtigsten Konjunkturmotoren Amerikas zählte. Inzwischen sollen aufgrund eingebrochener staatlicher Aufträge rund eine Million der Beschäftigten im Bauwesen arbeitslos sein, erklärte Obama.
Selbst wenn die Konjunktur in den USA wieder anspringen sollte, werde die hohe Arbeitslosenquote noch eine lange Zeit bestehen bleiben, warnte jüngst der Chef der amerikanischen Notenbank Ben Bernanke. Tatsächlich verbleibt die Arbeitslosenquote in den USA auf einem historisch hohem Niveau, wenn die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Rezession offiziell vor zwei Jahren überwunden wurde. Bei den vorangegegangenen Rezessionen von 1974 und 2001 erfolgte in den Vereinigten Staaten sehr schnell ein Rückgang der Arbeitslosigkeit, der diesmal ausbleibt. Ausgelöst wurde dies bleibend hohe Niveau der Erwerbslosigkeit durch einen historisch einmaligen Einbruch des Beschäftigungswachstums im privaten Sektor, der aber aufgrund der amerikanischen Konjunkturpakete nach Krisenausbruch eine Zeit lang durch staatlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten kompensiert werden konnte.
Konfrontiert mit dieser langfristigen Entwicklung, die keinen kurzfristigen Ausweg aus der Krise der Arbeitsgesellschaft offen lässt, besteht der ideologische Reflex der Volkswirtschaftslehre darin, das höhere Niveau der Arbeitslosenquote zur neuen kapitalistischen "Normalität" zu erklären. Aufgrund von zunehmender Rationalisierung, dem Fortschritt der Informationstechnologie und dem immer späteren Renteneintrittsalters vieler Amerikaner, die aus finanziellen Gründen länger arbeiten müssen, werde höhere Arbeitslosigkeit die "neue Normalität" darstellen, argumentierte das bekannte Finanzportal Seeking Alpha:
Automatisierung und technologischer Fortschritte senken die Produktionskosten und erhöhen den Lebensstandard der Bevölkerung. Aber die Automatisierung schafft auch Arbeitslosigkeit. Die Rate der Automatisierung erhöhte sich rapide seit dem Durchbruch des Internets und Arbeitgeber brauchen heute einfach weniger Arbeiter, um dieselbe Arbeit zu verrichten.
Wachstum ohne Jobs
Dieser Rationalisierungen äußern sich auch auf volkswirtschaftlicher Ebene in einer wachsenden Produktivität der Gesamtwirtschaft, die im Fall der USA zuletzt bei rund 2 % lag. Dies bedeutet ebenso, dass selbst bei einem Wirtschaftswachstum von 2 % kaum neue Arbeitsplätze entstehen, da die wachsende Warenmenge auch mit derselben Anzahl von produktiveren Arbeitskräften bewältigt werden kann. Erst ab einem spürbar stärkeren Wachstum von 3 oder 4 % des Bruttoinlandsprodukts würden tatsächlich massenhaft neue Arbeitsplätze in den USA entstehen.
Diese Ausführungen lassen sich sehr gut empirisch belegen. Der langfristige Abbau der Beschäftigung im produzierenden Gewerbe der USA gewann tatsächlich in den 90er Jahren an Dynamik, nachdem das Beschäftigungsniveau bereits seit den achtziger Jahren stagnierte:
Dieser Abbau der Beschäftigung ist aber nicht hauptsächlich auf die Verlagerung ins Ausland zurückzuführen, wie immer wieder auch in den Vereinigten Staaten argumentiert wird. Das Outsourcing von Produktionskapazitäten ins Ausland dürfte bei der Krise der amerikanischen Arbeitsgesellschaft nur eine marginale Rolle gespielt haben. Denn gerade in der Periode, in der die Beschäftigung der amerikanischen Industrie rapide abnimmt, verzeichnete diese eine enorme Expansionsphase, wie an dem von der amerikanischen Notenbank errechneten Index der Industrieproduktion ersichtlich wird:
Beim Vergleich dieser beiden Charts werden die enormen Rationalisierungsschübe deutlich, denen die amerikanische Wirtschaft ausgesetzt war. Dennoch konnte bis 2007 das potemkinsche Dorf einer heilen amerikanischen Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten werden, die ein weitaus höheres Wirtschaftswachstum und niedrigere Arbeitslosenraten aufwies als etwa Deutschland. Hier kommen wir auf die eingangs des Artikels erwähnte Schuldenkrise zurück, denn dieser Schein einer funktionierenden Ökonomie konnte nur durch ausufernde Verschuldung aufrechterhalten werden, die im Rahmen der diversen amerikanischen Spekulationsblasen (etwa mit Hightech-Aktien oder Immobilien) immer weiter expandierte - und hierbei viele Jobs im Baugewerbe oder den Finanzsektor schuf. Insbesondere die 2007 geplatzte Immobilienblase erwies sich als ein regelrechtes Arbeitsbeschaffungsprogramm: Im Juli 2006 gab etwa das Ministerium für Immobilienwesen in Kalifornien bekannt, dass in diesem Bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat 500.000 offiziell angemeldete Makler tätig seien. Somit kam damals auf 55 erwachsene Kalifornier ein Immobilienhändler.