Von Wagenknecht und Brecht
Seite 2: Keine Verklärung der Vergangenheit
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Kritiker Wagenknechts werfen ihr nun vor, in ihrem neuen Buch diese vergangenen Zeiten zu glorifizieren und zugleich ihre Schattenseiten zu ignorieren. Es wird gefragt: Waren die 1950er und 1960er-Jahre bis zum Einsetzen der Studentenbewegung nicht zugleich auch bleierne Zeiten, geprägt von einem aus der NS-Zeit übernommenen autoritären Staates, von einer bedrückenden gesellschaftlichen Atmosphäre der Prüderie und des Muffs sowie eines penetranten Antikommunismus?
All dies bestreitet Wagenknecht gar nicht. Sie sieht sehr wohl, dass der Slogan "'nivellierte Mittelstandsgesellschaft' natürlich ein Mythos" war. "Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard eines ungelernten Arbeiters und dem der Wirtschaftseliten, deren Besitztümer Nazidiktatur und Weltkrieg vielfach unbeschadet überstanden hatten, war nach wie vor riesig, und es gab nicht nur unverändert großen Reichtum, sondern auch nach Jahren des Wirtschaftswunders immer noch viele Menschen, die sich nach der Decke strecken mussten und ziemlich arm waren.
Dass die Erzählung von der 'nivellierten Mittelstandgesellschaft' dennoch so überzeugend wirkte, lag daran, dass im Deutschland der fünfziger bis Siebzigerjahre beruflicher Aufstieg eine millionenfache Lebenserwartung wurde und letztlich jeder in irgendeiner Form vom Wirtschaftswachstum profitierte, wenn auch einige mehr und andere weniger." (64)
Insofern habe es zwar nie eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" gegeben, "aber es gab in allen westlichen Ländern eine Epoche, in der es tatsächlich für nahezu alle und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärts ging. Sie endete in den Achtzigerjahren". (65)
Die Bedeutung der Erinnerung an bessere Zeiten
Auch wenn sich die Zeiten geändert haben, so sind doch diese Erfahrungen im Alltagsbewusstsein von Millionen lebendig geblieben sind: "Bis heute bestätigen Befragungen, dass der Wunsch nach Sicherheit und Kontinuität eine zentrale Rolle im Leben der Arbeiter spielt. Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen für Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens, das möglichst bis zur Rente durch nichts aus der Bahn geworfen werden soll, gehören zu elementaren Bedingungen für das, was viele Arbeiter unter einem guten Leben verstehen. Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener führen können." (62)
Es sind Erinnerungen an bessere Zeiten, die auch Bertolt Brecht in den "Flüchtlingsgesprächen" hervorhebt. Geschrieben hat er den Text in dunklen Zeiten - im finnischen Exil, während des Krieges. In den Gesprächen lässt er den deutschen Emigranten Ziffel "seinen Unwillen gegen alle Tugenden" zum Ausdruck bringen:
Eine Zeitlang hat‘s ausgesehen, als ob die Welt bewohnbar werden könnte, ein Aufatmen ist durch die Menschen gegangen. Das Leben ist leichter geworden. Der Webstuhl, die Dampfmaschine, das Auto, das Flugzeug, die Chirurgie, die Elektrizität, das Radio, das Pyramidon kam, und der Mensch konnte fauler, feiger, wehleidiger, genusssüchtiger, kurz, glücklicher sein. Die ganze Maschinerie diente dazu, dass jeder alles tun können sollte. Man rechnete mit ganz gewöhnlichen Leuten in Mittelgröße. Was ist aus dieser hoffnungsvollen Entwicklung geworden? Die Welt ist schon wieder voll von den wahnwitzigsten Forderungen und Zumutungen. Wir brauchen eine Welt, in der man mit einem Minimum an Intelligenz, Mut Vaterlandsliebe, Ehrgefühl, Gerechtigkeitssinn und so weiter auskommt, und was haben wir?
Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, 1989, Suhrkamp Verlag, Seite 121 f.
Brecht wusste um die große Bedeutung von Erinnerungen an bessere Zeiten, da sie Verhältnisse zum Tanzen bringen können. Die Menschen revoltieren nämlich in der Regel nicht, weil sie ein abstraktes Zukunftsprogramm durchsetzen, sondern weil sie die einmal erlebten, besseren Zeiten zurückhaben wollen. Sie stellen die einfache, aber umstürzlerische Frage: Weshalb geht heute nicht mehr, was doch gestern noch möglich war?
Die Vorstellung von besseren einstigen Zeiten stand auch bei großen geschichtlichen Umwälzungen regelmäßig Pate. Für die Anführer im deutschen Bauernkrieg war es die Vorstellung von verloren gegangenen paradiesischen Zeiten einer Gleichheit unter den Menschen, die sie beim Aufstand gegen die Feudalherren leitete. "Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?" lautete ihr Schlachtruf. Die französischen Revolutionäre von 1789 meinten eine römische Republik wieder herstellen zu müssen. Dafür hüllten sie sich in römische Gewänder und nannten sich Senatoren. Die so imaginierten Verhältnisse wurden natürlich nirgends wiederhergestellt. Doch nur mithilfe dieser Kraft der Erinnerung konnte Neues geschaffen werden.
Wie Bertolt Brecht, so weiß auch Sahra Wagenknecht um die Sprengkraft der Beschwörung einstiger besserer Zeiten. Bessere Zeiten haben aber nicht nur die Lohnabhängigen in der alten Bundesrepublik kennengelernt, dies gilt auch für viele einstige DDR-Bürger. Dies bleibt in ihrem Buch aber leider unerwähnt.
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