Von Wagenknecht und Brecht
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Wie der berufliche Aufstieg in Deutschland über Jahrzehnte hinweg eine millionenfache Lebenserwartung wurde und warum wir uns daran erinnern sollten
Über kaum ein anderes Buch ist in letzter Zeit unter Linken derartig kontrovers, ja erbittert gestritten worden wie über das kürzlich erschienene Werk Die Selbstgerechten von Sahra Wagenknecht, auf das sich die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen.
Da das Buch aber erst Mitte April 2021 auf den Markt kam, bezogen sich die Kritiken nur auf einzelne, vorab veröffentlichte Auszüge. Umfassende Rezensionen, die das neue Werk in den Kontext früherer Positionen der Autorin stellen, stehen noch aus. Auch hier kann eine solche Rezension noch nicht geleistet werden. Angesprochen werden sollen hingegen einige zentrale Aussagen Wagenknechts.
Hier geht es um die Bedeutung der Alltagserfahrung, die große Teile der Bevölkerung mit der Entwicklung des Sozialstaats in den Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik gemacht haben. In dieser Zeit konnte eine soziale Absicherung der lohnabhängigen Bevölkerung erreicht werden, die noch heute in ihren zentralen Elementen besteht, wenn inzwischen auch das sozialstaatliche System durch vielfältige Angriffe des Kapitals und ihrer politischen Parteien seit der neoliberalen Wende Anfang der 1980er-Jahre erheblich geschwächt wurde.
Verlust an Gemeinsamkeit
Unter dieser Überschrift beschreibt Wagenknecht die Zeit, die "Millionenfache Aufstiegserfahrung", die "Sicherheit durch Normalität" bot: "In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in allen westlichen Ländern eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Damals haben die meisten Menschen optimistisch in die eigene Zukunft und in die ihrer Kinder geschaut." (14) "In allen westlichen Ländern genoss die harte Arbeit der Industriearbeiter Mitte des 20. Jahrhunderts hohen Respekt, ihre Werte und wichtige Elemente ihres Weltbildes prägten die öffentliche Debatte. Das galt für Frankreich und Großbritannien vielleicht noch mehr als für Deutschland. (63)
Später kam die Öffnung der Bildungswege auch für Arbeiterkinder hinzu: "Die Aufstiegserfahrung bezog sich anfangs noch kaum auf die Möglichkeit für Kinder aus dem Arbeitermilieu, ein Gymnasium besuchen und studieren zu können. Diese Chance gab es für eine größere Zahl erst Ende der Sechzigerjahre. Zunächst wesentlich prägender war die Möglichkeit, mit einer soliden Berufsausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung einen Lebensstandard zu erreichen, der Zugang zu den meisten Annehmlichkeiten der damaligen Konsumgesellschaft eröffnete, vom eigenen Auto über Fernseher und Waschmaschine bis zur Urlaubsreise." (65)
Es entstand ein für viele völlig neues Gefühl sozialer Sicherheit: "Die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte allmählich steigende Löhne und vielfach auch eine berechenbare Karriere, die Normalfamilie mit der zumindest in Zeiten der Kindererziehung nicht berufstätigen Frau wurde erstmals auch für Arbeiter und einfache Angestellte erschwinglich. Und alle lebten in der Erwartung, dass es ihren Kindern dereinst noch besser gehen würde als ihnen selbst." (65)
Bereits 2016 hatte Sahra Wagenknecht in ihrem Buch "Reichtum ohne Gier" diese besseren Zeiten beschrieben: "Nicht der Kapitalismus, sondern die Wohlfahrtsstaaten mit ihren sozialen Sicherungen und ihren gut ausgestatteten öffentlichen Bildungseinrichtungen hatten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dafür gesorgt, dass der Traum vom sozialen Aufstieg kein Traum bleiben musste."1
Was waren die Voraussetzungen für diese Entwicklung? "Hintergrund dessen war, dass der Staat dem Gewinnstreben Regeln und Beschränkungen auferlegt hatte, dass er mit hohen Körperschaftssteuer und Spitzensteuersätzen aktiv in die Einkommensverteilung eingriff, durch ein Netz sozialer Leistungen Sicherheit gewährleistete und viele lebenswichtige Bereiche von Bildung und Wohnung über die Strom- und Wasserversorgung bis zu Krankenhäusern und Kommunikationsdiensten weitgehend aus der Logik von Profit und Kommerz herausgelöst hatte und in öffentlicher Regie anbot." (64)
Doch heute ist "diese Sicherheit" Vergangenheit: "Heute dominieren Zukunftsängste, und viele befürchten, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst." (14) Die Armen haben es inzwischen wieder sehr viel schwerer: "Unsere angeblich offene Gesellschaft ist von Mauern durchzogen. Sozialen Mauern, die Kindern ärmerer Familien den Zugang zu Bildung, Aufstieg und Wohlstand viel schwerer machen als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts." (16)
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