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Von der Lust, vernetzt zu sein

Cybererotik

Die Teletechnologien ermöglichen eine erotische oder vielleicht auch irgendwann sexuelle Begegnung aus der Ferne. Kulturkritiker sehen in solchen über die Technologie vermittelten Beziehungen in aller Regel nur eine Entfremdung. Erotik und sexuelles Begehren waren nie einzig an die körperliche Anwesenheit eines anderen Menschen gebunden. Doch der Cyberspace, der Telebeziehungen erlaubt, könnte die paradoxale Erfüllung einer Intimität unter der Bedingung äußerster Fremdheit ermöglichen, eine sexuelle Verschmelzung von einsamen Menschen, die buchstäblich ihren Abstand wahren und ihre individuellen Wünsche einlösen, ohne sich preisgeben zu müssen.

Technik - Befreiung aus dem Hier und Jetzt

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Sexualität und Erotik scheinen auf den ersten Blick etwas mit körperlicher Nähe zu tun zu haben. Gleichwohl ist das innige, leidenschaftliche oder wilde Sich-Verschmelzen der Körper stets nur eine Variante des sexuellen Begehrens gewesen. Vermutlich stand bereits seit je das Bild eines anderen Körpers dem direkten Begehren buchstäblich im Weg.

Nur der geringste Teil der Erotik ist jedoch mit einer direkten körperlichen Nähe zu einem anderen Menschen verbunden, auch wenn die Imagination davon beherrscht wird. Erotik geschieht weitaus mehr in der Imagination, und in ihr vermutlich auch nicht mit einem bestimmten Menschen, den es wirklich gibt und der für den Phantasierenden erreichbar ist.

Die erotische Imagination ist weitgehend situativ und richtet sich auf stereotypisierte Körperbilder, die durchaus von realen Menschen (Filmschauspielern, Popmusikern, Models oder anderen Bildern von Menschen der Aufmerksamkeitsindustrie [1]) stammen, aber mit ihnen als realen Personen ebensowenig zusammenfallen wie die Rolle, die der Imaginierende in der erotischen Situation selbst einnimmt.

Man verfällt all zu leicht der verführerischen Diagnose, all das, was der direkten Wunscherfüllung in der Wirklichkeit nicht dient, als entfremdet oder als Ersatz für ein fehlendes Objekt zu deklarieren. Man hat das Bild einer "ganzheitlichen" Sexualität vor sich, zu der alle Momente beitragen, während die "Abspaltung" einzelner Begehrensmomente, beispielsweise die Schaulust, die Imagination oder der stimulierende Konsum von erotischen Situationen in Medien, als neurotische Abweichung oder lediglich als Vorbereitung für das "Eigentliche" gilt. Aber warum sollte für Erotik oder Sexualität ausgeschlossen sein, was man etwa für Erkenntnis durchaus als selbstverständlich in Anspruch nimmt, nämlich daß sie nicht strikt zielorientiert ist?

Die Menschen als Angehörige einer werkzeug- und damit bildmachenden Gattung können Sexualität nicht unmittelbar und spontan praktizieren. Sie ist in Vorstellungen oder Projektionen eingebettet, die sie stets zu einer Geste stilisieren. Folglich ist das sexuelle Leben von Techniken geprägt: Techniken des Liebesvollzuges und seiner Inszenierungen, der "Balz" mit allen ihren Regeln und körperlichen Zurichtungen, der Empfängnisverhütung, der Ge- und Verbote und der Exteriorisierung von Wünschen. Sie heben zwar an und bleiben wohl immer gefangen in biologischen Schemata, aber sie werden auch über die biologischen Gegebenheiten durch die Exteriorisierung hinausgetrieben und verändert.

Wenn man daher an "Technik und Erotik" denkt, so sollte man nicht nur naheliegend an Instrumente, Maschinen oder Medien denken, sondern auch an Körpertechniken, soziale Regelwerke und mentale Maschinen wie die Sprache oder die Imagination. Beispielsweise haben Worte als mentale Repräsentanten eine doppelte Funktion. Sie sind Mittel, sich etwas, was nicht aktuell da ist, zu vergegenwärtigen und nahe zu rücken, aber sie dienen ebenso dazu, das, was nahe ist, zu entfernen, sich davon zu distanzieren und sich an einem anderen Ort zu plazieren. Sprechen kann ebenso wie das Bildermachen ein Instrument sein, einen Schritt aus der Nahumgebung und der Reaktionen auf sie herauszutreten, wodurch Worte und Bilder andererseits eine Eigenmacht gewinnen und sich deren Vorstellungswelt als Antrieb, Widerstand, Angst oder Enttäuschung in die Lebenswirklichkeit von einzelnen oder Kollektiven einschreibt.

Durch Techniken wollen Menschen nicht nur in die Wirklichkeit eingreifen, sondern sie suchen durch ihren Einsatz auch nach Wahrnehmungen oder Erlebnissen dessen, was sie bislang noch nicht erfahren haben oder machen konnten.

Medien leben von dieser Vorwegnahme und erfüllen diesen Wunsch gleichsam als Wahrnehmungswirklichkeit, wobei das Ungenügen an dieser die Perfektionierung der Technik vorantreibt mit dem Endziel, seinen Körper mitsamt seinen Erregungen in die mediale Welt mitzunehmen, ohne daß deren Erfahrungswirklichkeit sich mit der gewohnten Wirklichkeit decken soll. Jedes Medium ist ein Versprechen auf ein Unerfülltes, das Wirklichkeit werden soll, aber gleichzeitig den Standpunkt des Beobachters, dessen Anonymität und dessen "Blick von Nirgendwo" wahrt.

Durch Sprache, Erzählungen, Texte, Bilder oder Inszenierungen entsteht überhaupt erst eine Vorstellungswelt und wird als Konsequenz gleichzeitig versucht, den sich formierenden Vorstellungen Wirklichkeit zu verleihen, also gewissermaßen eine künstliche Welt zu schaffen, die sich über die gegebene legt und diese ausgrenzt wie der Rahmen eines Bildes die Umwelt, in der es sich befindet. Dabei ist es letztlich egal, ob es sich um Bilder, Erzählungen, Rituale oder andere Gestelle handelt. In Vorstellungswelten ist man nicht mehr identisch mit sich selbst, man ist ein anderer, projiziert sich in eine andere Situation. Künstliche Welten sind geschlossene Welten, gestaltet aus Worten und Bildern, was aber auch deren Umsetzung in andere Materialien und Mechanismen einschließt, die sie in dieser Welt ansiedeln (schließlich ist auch ein Bild oder ein Gedanke ein Objekt oder ein Vorgang in dieser Welt). Eingang aber soll in sie nur finden, was zur Maschinerie der Vorstellung paßt - jede Maschine funktioniert nur unter bestimmten Randbedingungen. Störendes wird ebenso wie in einem Experiment kontrolliert oder ausgeblendet. Imaginierte erotische Welten sind daher durch Regeln und Techniken geprägt, die Freiheitsgrade eindämmen, um das Begehren zu stilisieren, es vom Bezug zu einem konkreten Anderen gewissermaßen zu reinigen oder schließlich es ganz ohne ihn zu befriedigen, der dann gewissermaßen durch einen Avatar [2] oder eine andere Repräsentation vertreten wird.

Der werkzeugmachende und fabulierende Mensch überschreitet die Welt und auch die Regeln der jeweiligen Gesellschaft, die festlegen, was man machen darf und was nicht. In der Einsamkeit der Imagination, des Bildermachens oder Texteschreibens überspringt man ebenso leicht die einen in der Interaktion mit leibhaft anwesenden Anderen beherrschenden sozialen Verbote und individuellen Ängste wie in der einsamen Rezeption von derartigen exteriorisierten Vorstellungswelten. Auch der Rezipient fühlt sich in seinem Freiraum ungebunden, ist fasziniert von der Lektüre oder Wahrnehmung dessen, was er vielleicht nie selbst zu tun wagen würde, wenn ein anderer ihm leibhaft gegenüberstünde, der ein eigenes Zentrum in der Welt darstellt. Sartre hat diese Brechung der Imagination sehr schön in dem Kapitel "Der Blick" in "Das Sein und das Nichts"(Sartre, 1980) herausgearbeitet.

Wenn der Blick des anderen, verankert in seinem Körper, vernachlässigt werden kann, weil man Macht über ihn hat oder er nur ein Exemplar ist, kann er auch mit der eigenen Vorstellungswelt verschmelzen und daher zu einem reinen Objekt werden - diese Konstellation verbindet die Szenen in einem Film oder in einem Buch mit Situationen in der Wirklichkeit, beispielsweise einer Vergewaltigung durch die Ohnmacht des Opfers. Wegen dieser situativen Verwandtschaft ist sexuelle Gewalt wohl ein Hauptthema der Medien, die stets, gefangen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit, versuchen müssen, die Distanz der Vorstellungswelt zu durchbrechen und eine Intimität zu schaffen.

Pornographie und Voyeurismus stellen ein sexuelles Begehren, eine Intimität auf Distanz dar, die nicht gestört werden will durch die Intervention eines konkreten Anderen, der die Souveränität des Blicks zu bewahren sucht. Anders, wenn auch nicht ganz verschieden, ist es mit Inszenierungen, die eher Rollenspielen gleichen. Hier tritt die persönliche Beziehung in den Hintergrund, spielt Liebe und Reproduktion keine Rolle, sollte der Andere, gleich ob es sich um Prostitution, um eine mit Gewalt herbeigeführte Situation oder um ein Spiel wie bei den SM-Ritualen handelt, der Spiegel des eigenen Begehrens sein. Er wird damit gewissermaßen zum Werkzeug der eigenen Imagination.

Intimität im virtuellen Raum

Das Telefon zum Hören, das Fernsehen zum Sehen, die Systeme der Teleaktion zum Berühren und zur sensomotorischen Interaktion - all diese Apparate virtualisieren die Sinne, d.h. sie organisieren die Vergemeinschaftung von virtualisierten Organen.

Pierre Lévy

Die Entfernung vom anderen und die Anonymisierung der Beziehungen erfährt durch technische Mittel eine enorme Erweiterung. Medien haben bislang die Position des externen Beobachters kultiviert, der wie durch ein Fenster einer Szene zusieht, aber deren Bühne, selbst im Theater oder in der Oper, nicht betreten darf. Als externer Beobachter wird er nur indirekt, als einer unter vielen angesprochen, der austauschbar, niemand Bestimmter oder jeder ist. Auch wenn er sich mit einem Vorgang oder einer Person identifiziert, so bleibt er draußen, aber gleichzeitig bei sich, so nahe er auch der Szene kommen mag.

Der Trend, die Illusion und den externen Standpunkt des abgeschatteten Beobachters zu zerstören, ist eine Wunschgeschichte der Medien, die durch immer stärkeren Realismus einerseits und andererseits durch eine immer größere Einbeziehung des Zuschauers Stück für Stück verwirklicht wird, während gleichzeitig im realen Raum neue Formen der Distanzierung und Anonymisierung geschaffen wurden - von der Verdunkelung des Zuschauerraums über Peep-Shows, die die Körper der Schaustellenden und des Beobachters voneinander trennen, einigermaßen lebensechte Sexpuppen [3]für jeden Geschmack oder synthetischen Personen bzw. interaktiv steuerbaren Viedeobildern von echten Menschen, die man wie die berühmt gewordene virtuelle Valerie [4]verführen und beherrschen kann, bis hin zu künftigen Formen des Cybersex, die eine neue körperliche Intimität durch die Vernetzung des Fleisches und der Empfindungen bei Wahrung der Distanz schaffen. Der Nächste wird durch den Fernen ebenso ersetzt wie die Nächstenliebe durch die Liebe zum Distanzierten in der doppelten Wortbedeutung von räumlicher und psychischer Ferne.

In der bekannten Cybersexszene des Films "Lawnmooner Man" wurde diese Trennung sehr schön dargestellt. Der Mann und die Frau befinden sich hier im selben Raum, aber jeder der beiden kann sich nur innerhalb eines Rahmens bewegen. Die Kamera wechselt beständig von der virtuellen Szene, in der sich die computergenerierten Körper der beiden vereinigen, zur realen, in dem die beiden Körper sich lediglich einsam um sich herum drehen.

Urbanes Leben, also der Aufenthalt in einer der ersten künstlichen Welten, hat vermutlich die Lust an der Anonymität realer, aber kurzfristiger Beziehungen geschaffen. In der Masse tauchen die einzelnen unter, bewegen sich als Masken und können sich der erneuten Begegnung entziehen. Interaktive und vernetzte Medien erweitern nur die in der Urbanität angelegten Strukturen, sich als Fremder unter Fremden zu bewegen. Doch erst das Telefon hat in der Geschichte der Telemedien eine wirklich neue Situation geschaffen, in der sich räumlich entfernte Menschen, allerdings nur über Stimme und Gehör, in einem gemeinsamen, konsensuellen virtuellen Raum begegnen und eine erste Form der Tele-Intimität entsteht.

Dadurch lassen sich geliebte oder begehrte Menschen näherholen, aber auch Kontakte mit völligen Fremden herstellen, denen man manchmal auch nie begegnen will und vor allem nicht muß. Das Telefon war das erste Medium, das eine direkte Interaktion zu einem anderen Menschen ermöglicht hat, der sich nicht im selben Raum aufhält, in dem sich der eigene Körper befindet, was die Möglichkeit in sich birgt, jederzeit den Kontakt zu unterbrechen, ohne Antwort leisten zu müssen - zumindest so lange die eigene Nummer in der vordigitalen Zeit nicht auf dem Display des anderen auftauchte. Das Telefon war die erste Türe in den Cyberspace, die von anderen Medien vorbereitet, aber nicht eingelöst wurde, denn Medien scheinen stets die Funktion zu haben, die Menschen für ihre anstehenden Weiterentwicklungen zu trainieren, also über sich vorauszuweisen, ähnlich wie die Manufaktur dem Fließband vorherging.

Telebeziehungen verlangen andere Verhaltensregeln, vor allem aber eröffnen sie Spielräume, die erlauben, ein neues Verhalten auszuprobieren, sich eine andere Identität zuzulegen und die ansonsten eingehaltenen moralischen Normen zu überschreiten. Das kann in der Form geschehen, daß man andere Personen, die man nicht kennt, über das Telefon belästigt oder mit ihnen flirtet, aber auch durch neue Dienstleistungen wie dem Telefonsex, durch virtuelle Räume, in denen man sich akustisch mit mehreren anderen gleichzeitig befindet, oder durch das Angebot, über die Anwahl einer bestimmten Nummer mit irgend jemandem verbunden zu werden, der Interesse an einem Kontakt besitzt.

Dabei spielt eine große Rolle, daß die Anonymität gewahrt wird, daß sie nicht erkannt werden kann, daß man sich im virtuellen Raum wie während des Karnevals hinter einer Maske verbirgt und man sich nur zu erkennen gibt, wenn man dies will. Insofern sind die Technologien des Cyberspace eine Folge der Flucht aus den Regeln von lokalen Gemeinschaften und somit eine Verstärkung der Individualisierungstendenzen moderner Gesellschaften, deren letzte Bremse die erotische und sexuelle Intimität der physischen Körper ist. Der Zerfall der lokalen Gemeinschaften ging einher mit den Großfamilien, die Individualisierung mit dem der Kleinfamilie und der Verhütungsmöglichkeiten und Reproduktionstechnologien. Jetzt geht es um das Ende der körperlichen Nähe und damit vielleicht auch um das der sexuellen Differenz. Wenn die Reproduktion durch Technologie und ohne körperliche Nähe geleistet werden kann, spielt das Geschlecht des anderen keine Rolle mehr, das beim Cybersex schließlich auch nur noch Fake sein kann.

Und ich würde aufstehen", sagte sie, "und mich umdrehen, so daß ich dich nun ansehe, mit den Schienbeinen gegen den Sessel gestützt, und ich würde meinen Hisenknopf lösen." - "Und ich würde eine Hand ausstrecken", sagte er, "und deinen Reßverschluß nehmen und ihn langsam nach unten schieben, so daß ich gegen deinen Hügel stoße.

Nicholson Baker

Hinsichtlich des Telefons hat Nicholson Bakers Roman "Vox" (Baker, 1992) die erotische Faszination an der Tele-Intimität sehr schön dargestellt. Ein Mann und eine Frau, deren Geschlechtsidentität über das Telefon erkennbar ist, sind durch einen Vermittlungsdienst unter Wahrung ihrer Anonymität zusammengekommen. Sie suchen das erotische Abenteuer nicht nur im wirklichen Leben, sondern nutzen die technischen Möglichkeiten aus. Wie in einem Beichtstuhl tauschen sie mit vielen Details ihre erotischen Phantasien und Erlebnisse aus, kommen sich so vielleicht näher, als wenn sie sich wirklich getroffen hätten, und finden über die detailgetraue Erzählung ihrer Begegnung als einander noch Fremde zu einem gemeinsamen Orgasmus.

Aber weil diese Intimität sich unter den Bedingungen des sich gleichzeitig Fremdbleibens hergestellt hat, würde eine wirkliche körperliche Begegnung, die weniger Spiel erlaubt, ebenso seltsam sein, als wenn sich Menschen, die es gewöhnt waren, körperlich intim zu sein, nur noch im virtuellen Raum begegnen könnten. Zwar teilt der Mann am Schluß der Frau seine Telefonnummer mit und bittet sie, ihn wieder einmal anzurufen oder gar ihn zu treffen, aber es wird doch recht deutlich, daß ihre Tele-Intimität weder so noch so in dieser Intensität wiederholbar sein wird. Der Reiz besteht eben darin, sich nicht zu kennen und mit den eigenen Phantasien spielen zu können, die sich mit dem anderen nicht verschmelzen. Wahrscheinlich ist eben der Umstand, nicht mit seinem Körper im virtuellen Raum abgebildet zu werden, mit ein Grund, warum Videotelephon, Videokonferenztechnik oder Videomöglichkeiten wie CUSeeME im Web sich nur zögernd im privaten Bereich durchsetzen.

Erste Schritte zur Cybersextechnologie

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Das Telefon hat den Cyberspace eröffnet, der weitaus mehr verspricht, wenn er in die Computernetze übergeht. Noch ist der Cyberspace weitgehend stumm, spielt sich noch viel im Austausch von Geschriebenem ab, doch die Konturen der vernetzten Virtuellen Realität werden allmählich deutlich. Schon in den nur textbasierten MUDs - virtuellen Räume, in die sich viele Menschen gleichzeitig einloggen können - hat sich das Spiel mit einer verdeckten Identität [5] durchgesetzt. Der Mangel an Frauen war bislang groß, erklärt aber wohl nicht allein, warum Männer gerne Frauen und diese wiederum manchmal Männeridentitäten annehmen. Cross-dressing ist einer der Hits im Cyberspace, was gelegentlich auch zu Konflikten führt, wenn das Spiel in eine ernsthaftere Kommunikation umschlägt und man sich nachher betrogen fühlt, wenn der Partner seine Identität maskiert gehalten hat.

Als Vorteil der computergestützten Kommunikation wurde immer angesehen, daß die Körperidentität, mit der die personale Identität verschmolzen oder in der sie zumindest verankert ist, verborgen bleiben kann, daß also eine hinsichtlich des Geschlechts, der Rasse oder des Aussehens "gleich-gültige" Kommunikation im Cyberspace herrscht, der überdies, darin der urbanen Öffentlichkeit vergleichbar, die Begegnung mit fremden Menschen ermöglicht, die sich, repräsentiert durch irgendeinen Alias, in denselben virtuellen Raum eingeloggt haben. Da es sich dabei oft um Jugendliche oder zumindest junge Menschen handelt, spielen die Kontaktsuche und das Experimentieren mit Verhaltens- und Kommunikationsformen eine große Rolle.

MUDs sind entweder vorgefertigte Spielumwelten oder sie können von ihren Benutzern weiter gebaut werden. Bis vor kurzem nur in Worten realisiert, visualisieren sie sich jetzt mehr und mehr und können die Benutzer in einer grafischen Repräsentation, einem Avatar, auftreten, den sie sich entweder selber stricken oder aus einer Kollektion übernehmen. Zur Zeit werden immer mehr dreidimensionale grafische Welten [6] angeboten, durch die man mit einem Avatar navigieren kann. Auch hier gibt es die Möglichkeiten, sich seine eigene Räume oder "Welten" mit vorgefertigten Bauteilen einzurichten und sie ins Netz zu stellen. Gleichwohl beschränkt sich das Leben in solchen Cyberspace-Welten [7] noch weitgehend auf schriftliche Kommunikation. Und selbst wenn diese visualisiert sind, dann fehlt für die Tele-Intimität noch eine wichtige Komponente: die Taktilität.

Auch wenn man das nicht dramatisieren sollte, gibt es natürlich im Web die klassische Pornographie. Neu hingegen ist eine Art Cyberspace-Peepshow über Video, das allerdings eine ziemlich schlechte Auflösung hat und wegen der großen Übertragungszeiten nur als Einzelbilder übertragen wird. Mann kann, ähnlich wie beim Telefonsex, sich einloggen und dann ein Mädchen in einem Raum sehen, das sich auszieht und - vielleicht - auf die eigenen Wünsche reagiert: selbstverständlich gegen reichlich hohe Gebühren, denn in Wirklichkeit umgesetzte Vorstellungswelten sind Welten, die dem Markt, dem Organ der Aufmerksamkeit, gehorchen.

Aber die technische Entwicklung schreitet voran. Virtuelle Realität ist nichts anderes als der Versuch, den Körper in die künstliche Welt zu integrieren - zunächst als Bild, aber dann auch als empfindenden und reagierenden Körper. Virtuelle Realität aber erlaubt nicht nur, seinen Körper in die künstliche Welt mitzunehmen, sondern auch in einen simulierten Körper hinein zu schlüpfen, also sich zu maskieren. Körperliche Nähe wird bald keine Frage der räumlichen Nähe mehr sein, sondern der Schnittstelle mit dem Cyberspace, die Berührung erlaubt und die gleichzeitig die Grenze zwischen Körper und Maschine, zwischen wirklicher Erfahrung und Erfahrung der Wirklichkeit, zwischen Realität und Simulation verschwimmen läßt.

Stahl Stenslie und Kirk Woolford, zwei Künstler an der Medienhochschule Köln, haben 1994 eines der ersten Systeme für den Cybersex entwickelt. Es ging technisch darum, wie zwei Körper, die sich an verschiedenen Orten befinden, einander berühren können, und intentional darum, aus der Bindung an einen bestimmten Körper entfliehen und sich in den Augen des anderen einen neuen Körper geben zu können, dessen Erscheinung man selbst auswählt. Der Cyberspace eröffnet den Spielraum für eine multiple Persönlichkeit, die sich je nach Stimmung oder Kontext einen anderen Körper gibt und damit auch eine andere Kommunikations- und Interaktionsstruktur wählt.

Der Körper der Zukunft ist der schizoide Körper, der launische und flüssige Ausdruck von multiplen Ichs. Wenn man in den elektronischen Körper des Cyberspace schlüpft, dann zieht man eine Bekleidung von Möglichkeiten an und kann sich in alternative Persönlichkeiten verwandeln.

Stahl Stenslie

Für den Austausch von Stimulationen (Berührungen) müssen die sich im Cyberspace Begegnenden einen Anzug aus Latex oder Gummi anziehen, an dem mechanische und elektrische Stimulatoren angebracht sind, die die erogenen Zonen durch Vibratoren, Wärme oder Stromstöße erregen. Weil die "Berührung" aber noch recht grob und aufdringlich ist, stellten die beiden Künstler das System in einen sadomasochistischen Kontext, in dem auch durch Schmerzen die Präsenz des anderen erfahrbar wird. Jeder der Angeschlossenen kann sich, wiederum als Folge der technischen Beschränkung, aus einer Datenbank von Prototypen einen künstlichen Körper zusammenstellen, in dem er für den anderen erscheint. Berührungen können allerdings nicht durch die Bewegung des eigenen Körpers vermittelt werden, sondern lediglich durch einen Mausklick auf das Körperbild des anderen oder durch Übersendung von Berührungsprogrammen. Eingesperrt in den Anzug, ist man den "Berührungen" des anderen preisgegeben.

Ein interessanter Aspekt, den man im Prozeß der teletaktilen Kommunikation beobachten kann, ist das intime, aber anonyme Verhältnis der Teilnehmer. Ich bin auf das engste mit dem Körper des anderen vernetzt, wir sind an denselben Stromkreislauf angeschlossen, aber es gibt über die unmittelbare Verbindung hinaus keine weitere Verpflichtung. ... Realistisches Aussehen und realistische Identität werden triviale Sachverhalte. Jeder Teilnehmer wird unter der Maske einer gewählten Repräsentation ein gewisser Freiraum gewährt. Es gibt, wie jemand sagte, keine Nötigung, am nächsten Morgen zusammen zu frühstücken - im guten wie im schlechten Sinne.

Stahl Stenslie

Eine Weiterentwicklung dieses Systems stattete den Anzug mit Stimulatoren und Sensoren aus, so daß der eine Partner durch die (autoerotische) Berührung seines Körpers Stimulationen an den anderen und umgekehrt senden kann. Immer spielt die Möglichkeit, verbal miteinander in Kontakt treten zu können, eine große Rolle dabei, wie intensiv die Immersion in den Cyberspace gelingt. Doch ein wirklich körperlicher Dialog ist mit solchen primitiven Techniken nicht möglich.

Die weitere technische Entwicklung wird darin bestehen, die Teletaktilität im Sinne eines Körperdialogs zu verfeinern oder einen autoerotischen Feedback zu schaffen, der den angeschlossenen Körper direkt mit dem Computer vernetzt, wobei dieser die durch Sensoren aufgezeichneten Daten analysiert und audiovisuelle Simulationen und taktile Stimulationen zurücksendet: die Ablösung also vom menschlichen Gegenüber, der möglicherweise nur solange wichtig ist, solange der Computer nicht smart genug sein wird, durch differenzierte und sich den Aufzeichnungen anschmiegende Reize zu reagieren. Sollte dies aber jemals möglich werden, so steht der Zerebralisierung der Sexualität nichts mehr im Wege und würde der Computer zu einer Sexmaschine, die die Geschlechtsbeziehungen ersetzt.

Schon der primitive Cybersex läßt die Geschlechterdifferenz ebenso hinter sich wie die "Gefahr" der Reproduktion oder der Übertragung von Krankheiten. Möglicherweise wird es bald, den primitiven Mechanismus der Sexualität voraussetzend, ununterscheidbar sein, ob man mit einem anderen Menschen, einem virtuellen Agenten oder einem Computer flirtet oder zum Orgasmus kommt, während sich gleichzeitig im Cyberspace ein künstliches Leben entwickelt, das sich durch Rekombination und Selektion wie in Tom Rays "Tierra" reproduziert und in eine evolutionäre Drift eintritt.

Strange Days oder Reality-VR

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Die Phantasie ist natürlich immer einen Schritt voraus, um die Zukunft vorwegzunehmen und sich darauf einzustellen. Derzeit schaut sie nicht nur gebannt auf die Jahrtausendwende und auf die Auflösungserscheinungen der Industriegesellschaft, sondern auch auf den Übertritt ins postbiologische Zeitalter [8], auf die Verwandlung der Menschen in Cyborgs und auf neue Schnittstellen der Computersysteme mit dem Körper. Nur Science Fiction ist das bereits nicht mehr.

Überall auf der Welt forschen Wissenschaftler derzeit über Möglichkeiten, wie sich eine dauerhafte Kopplung des Gehirns mit dem Computer realisieren läßt. Es geht zunächst um die Ersetzung von geschädigten kognitive Funktionen, um Neurochips wie Hör- oder Sehprothesen oder um die Abnahme und Interpretation von Hirnwellen. Damit lassen sich die Aktivität bestimmter Hirnareale bei bestimmten Tätigkeiten analysieren und visualisieren. Wenn sie hinreichend genau differenziert und interpretiert werden, dann lassen sich auch allein durch die Auslösung bestimmter Hirnwellen, die man durch Feedback-Verfahren erlernen kann, Befehle an den Computer geben. Bislang kann man mit seinen Hirnwellen nur schlecht und recht einen Cursor über einen Bildschirm steuern oder es lassen sich Aktivitätszustände des Gehirns oder bestimmter Areale aufzeichnen. Gleichwohl ist die Schnittstelle Gehirn-Computer eine der zentralen Herausforderungen der Computertechnologie.

Haben Sie nicht Lust, mal richtig die Sau rauszulassen? Alles das, wovon Sie bisher nur geträumt haben ... wie's wohl sein mag, in der Haut eines anderen zu stecken, und sei's nur für zwanzig Minuten? In der Haut eines Typen, der mit der Magnum in der Hand den Schnapsladen ausräumt, das Adrenalin in seinen Adern zu spüren, den Nervenkitzel, die wahnsinnige Angst - zu fühlen, wie es einem heiß und kalt den Rücken runterläuft. Oder in der Hut des Typen mit der heißen Philippina als Freundin, zwanzig Minuten lang ... die richtigen zwanzig Minuten, versteht sich.

James Cameron

Ein neuer Einfall ist es also bestimmt nicht, den James Cameron, der Drehbuchautor von "Terminator", ins Zentrum seines neuen, von Kathryn Bigelow verfilmten Buchs "Strange Days" stellte, weswegen er in seinem Vorwort vielleicht nachdrücklich darauf hinweisen mußte, daß er ihn schon Mitte der 80er Jahre hatte. Aber sei's drum: die Verbindung der VR- mit der Neurotechnologie wird von ihm gleichwohl bis ins Extrem durchgespielt. Den Charme des Buches macht wohl auch aus, daß seine Handlung nicht irgendwann spielt, sondern in naher Zukunft. Genauer gesagt, es beginnt am 30.12.1999, kurz vor Ende des Jahrtausends, in Los Angeles, der Modellstadt der Zukunft, deren Ordnung auseinanderfällt, in der Gewalt, ein Bürgerkrieg von jedem gegen jeden herrscht, fast jeder jeden verrät und die Branche der Sicherheitsdienste in voller Blüte steht. Wer es kann, verbarrikadiert sich in seinen Häusern und Wohnvierteln, während eine neue High-Tech-Droge, natürlich ursprünglich aus dem James-Bond-Arsenal der Geheimdienste stammend und wie einst VR nun auch für Unterhaltungszwecke vermarktet, für das notwendige Stimulans im Hotel am Abgrund sorgt.

Man muß es einfach erlebt haben. Darauf kommt es an im Leben. Dabeisein ist alles. Genau darum geht's. Man ist dabei. Man ist selbst aktiv, man sieht, hört ... fühlt.

James Cameron

Mit einem SQUID (Supercomputing QUantum Interference Device) ist es möglich, die Erlebnisse einer Person mit ihrer individuellen Wahrnehmung und Emotionen detailgetreu aufzunehmen und diese "kortikalen Mitschnitte" dann wieder in das Gehirn eines anderen Menschen einzuspeisen, der sie nun als die seinen erlebt. Störungen aus der realen Umwelt können das Eintauchen in die Erlebniswelt eines anderen natürlich stören, weswegen sie tunlichst ausgeblendet werden müssen. So müssen diejenigen, die den SQUID zur Aufnahme tragen, beispielsweise möglichst vermeiden, sich in einem Spiegel zu verdoppeln. Denn dann wird der Nacherlebende jäh aus der Simulation gerissen, weil er merkt, daß es nicht er ist, der sich vor dem Spiegel befindet.

Der mit dem SQUID in die Virtuelle Realität einziehende Realismus ist nicht nur ein Ersatz für fehlende Erlebnisse - endlos trauert beispielsweise Lenny immer wieder den Erlebnissen mit seiner Freundin nach, die in verlassen hat -, sondern er unterliegt auch dem medienimmanenten Zwang zur Steigerung der Sensationen, in die man mitgerissen und hineingezogen wird. Erfahrungen der Gewalt, der sexuellen Enthemmung, des Todes sind wie bei allen Medien die Renner der Reality-VR, die man durch die Wiedergabe der Aufzeichnungen eines beteiligten Zeugen nacherlebt.

Iris sieht sich selbst mit den Augen des Trägers ... ihre aufgerissenen Augen, ihre bleichen Lippen, ihr verheultes Gesicht. Sie ist ihm hilflos ausgeliefert, fühlt dasselbe wie er.

James Cameron

Wegen der gar nicht beabsichtigten Aufzeichnung der Ermordung eines bekannten schwarzen Rapsängers durch Polizisten - Rodney King läßt grüßen - kommt die reichlich blutrünstige und ziemlich banale Geschichte in Gang. Der heruntergekommene ehemalige Polizist und jetzige High-Tech-Drogendealer Lenny wird allmählich zum strahlenden Helden, der zusammen mit einer Bekannten und der sich parallel mit ihr entwickelnden kitschigen Romanze das Verbrechen aufdeckt und die Bösen jagt, deren einer natürlich derjenige ist, an den er seine große Liebe verloren hat. Bei Anbruch des Jahres 2000 gibt es natürlich hollywoodgemäß für Lenny und seine Freundin ein Happy End, nachdem die Verwendung des SQUID einen Höhepunkt erreicht hat. Die Zeugin des Mordes wird nämlich schließlich von dem Bösen, der seine Tat mit einem SQUID aufzeichnet und der ein vermeintlich naher Freund Lennys ist, überfallen. Nachdem er sie in seiner Gewalt hat, zieht er ihr ebenfalls eine mit seinem SQUID verbundene Sensorkappe über, so daß sie ihre Vergewaltigung und anschließende Ermordung gleichzeitig mit ihrer Demütigung und Angst aus dessen Perspektive, aus seiner Lust und seinem Orgasmus heraus erleben muß. Und die Aufzeichnung dieser Tat wird natürlich wieder von jedem aus der Ich-Perspektive erfahren, der dadurch zum virtuellen Vergewaltiger und Mörder wird. Eine monströse Szene, die das Prinzip der Reproduktion genial ausspielt, aber in der oberflächlichen, nur aus Stereotypen bestehenden Geschichte und ihrem seltsamen Gemisch aus erhobenem Zeigefinger gegenüber den verderblichen, in die Realität umschlagenden Konsequenzen einer solchen Technik und der Faszination an ihr verschenkt wird. "Strange Days" beschäftigt sich zwar mit der Schnittstelle zwischen dem Realen und Simulierten, doch das Simulierte ist nur ein Abbild, eine Art Film oder Reality-TV und derjenige, der die Simulation erlebt als wäre sie seine Erfahrung, ein Einsamer, in seiner Höhle Eingesperrter, von der Umwelt Abgeschlossener.

Virtuelle Realität oder Telepräsenz geht zwar einher mit dem Ausschluß der Nahumgebung, denn das Eintauchen in die virtuelle Welt setzt normalerweise die Ausblendung des Raums voraus, in dem sich der Angeschlossene mit seinem Körper befindet. Von der Überblendung beider Räume wollen wir hier nicht sprechen, denn diese dient, wie bei einem Jetpiloten, meist nur als Mittel, sich in einem unbekannten oder von den menschlichen Wahrnehmungsorganen nicht erfaßbaren Raum zu orientieren.

Bislang jedenfalls gleichen die Schnittstellen mit dem virtuellen Raum eher Ritterrüstungen, die man sich überzieht und die das Gefühl der Immersion nur dann erzeugen können, wenn beide Räume sich nicht überschneiden, auch wenn Wahrnehmung und Restkörper dissoziiert sind, man sich also gleichwohl gleichzeitig in zwei Räumen aufhält. Wenn man an Erotik oder gar Sexualität im Televirtuellen denkt, dann spielt eine große Rolle, wie weit man seinen Körper in den virtuellen Raum hineinbringen kann, wie weit also die herkömmliche Erfahrung des Imaginären als Einweg-Fenster, durch das man sieht und hört, sich in eine Tür verwandelt, durch die man eintreten kann. Aber die simulierte Welt, in die man eintritt, ist eben nicht nur eine Reproduktion oder Verdopplung der ersten Welt, denn hier hat man die Chance, gleichzeitig eine körperliche Intimität in Echtzeit mit einem anderen zu realisieren und als ein anderer aufzutreten, als eine Maske, die nicht gelüftet werden kann - absolute Fremdheit und Intimität, folgenloser Sex, der ganz zum Spiel wird, reine Verführung und ein masturbatorischer Orgasmus mit einem anderem, der möglicherweise auch gar kein Mensch mehr sein muß, sondern nur noch ein virtueller Agent: eine virtuelle Marylin Monroe oder Klaudia Schiffer oder einfach ein Programm, das sich auf die individuellen Wünsche einstellt.

Aspekte der Vorgeschichte

Wenn die virtuelle Lust der sexuellen Telepräsenz künftig die wirkliche Liebe der verkörperten Menschen ablösen sollte, dann könnten nur noch die nicht bloß unterentwickelten, sondern auch 'medial' schlecht ausgerüsteten Gesellschaften das Überleben der Menschheit sicherstellen. Nachdem die Callgirls ebenso wie die 'Straßenmädchen' dertechnischen Arbeitslosigkeit ausgesetzt wurde, wird die Kybernetik der künftigen Liebestransporte bald das Männliche und das Weibliche aus einer Menschheit entlassen, die durch die Vorzüge der Sexmaschinen der medialen Masturbation gänzlich disqualifiziert ist.

Paul Virilio

Das Faszinierende an der teletechnisch vermittelten Begegnung mit anderen Menschen besteht vor allem darin, daß man sich mit dem Körper nicht gemeinsam mit anderen Verkörperten in einem wirklichen Raum befindet, sondern daß das Geheimnis der Ferne bestehen bleibt, so nahe der andere einem auch kommen mag.

Aber es gibt auch ältere Geschichten, die vor der Zeit der Computer, der Virtuellen Realität und des Cyberspace geschrieben wurden und die Faszination zum Ausdruck bringen, in eine künstliche Welt einzusteigen. Im Zeitalter des Films war jedoch die Imagination noch weitaus mehr damit beschäftigt, die technischen Wirklichkeit einer erotischen Begegnung im Virtuellen zu lösen, und beschäftigte sich eher mit der Vergeblichkeit einer wirklichen Begegnung.

Noch auf der Basis der Filmtechnik hat Adolfo Bioy Casares diese Faszination in seinem Roman "Morels Erfindung" behandelt, der sich direkt anlehnt an H.G.Wells "Dr. Moreaus Insel", aber auch im Kontext der Erzählungen über die Erschaffung von künstlichen Menschen wie die Pygmalion-Sage, Hoffmanns "Sandmann", Shelleys "Frankenstein", Vernes "Karpatenschloß" oder Villiers "Eva der Zukunft" steht.

Ganz im Schema utopischer Erzählungen sucht ein Flüchtling auf einer ihm empfohlenen Insel Schutz, von der es hieß, daß vor vielen Jahren dort von einigen Menschen Gebäude gebaut wurden, sie aber jetzt verlassen sei. Der Flüchtling jedoch entdeckt bald, daß die Insel gelegentlich weiterhin von einer Gruppe Menschen bewohnt wird. Er verliebt sich in Faustine, eine schöne Frau, bemerkt dann aber, daß sie ihn nicht wahrnimmt und daß das Verhalten der Menschen einer Theateraufführung gleicht, weil immer Szenen stereotyp wiederholt werden. Auch weitere Besonderheiten fallen ihm auf: die Menschen tanzen beispielsweise bei Regen und Sturm, im Aquarium, aus dem der Flüchtling verweste Fische herausgeholt hatte, schwimmen plötzlich wieder dieselben Fische herum, manchmal gibt es zwei Sonnen oder zwei Monde, oft sind die Menschen einfach verschwunden. Schließlich kann der Flüchtling eine Rede von Morel, dem Besitzer der Insel, erlauschen, der die anderen wissen läßt, daß er alles mit einer neuen "photographischen" Technik aufgezeichnet habe, was sie in den letzten sieben Tagen gemacht hatten.

Morel, getrieben von einer offenbar unerwiderten Liebe zu Faustine, will wenigstens im Reich der Bilder ewig mit ihr zusammenleben. Seine Technik zeichnet alle visuellen, auditiven, taktilen und olfaktorischen Informationen auf und dann tritt, "sobald die Sinne versammelt sind", die "Seele" hervor. Dieser multimediale Film allerdings kann nicht animiert werden.

Als ich nach langwieriger Arbeit diese Daten harmonisch zusammenfügte, sah ich mich wiedererschaffenen Personen gegenüber, die zwar verschwanden, wenn ich den Projektionsapparat ausschaltete, die zwar nur jene vergangenen Augenblicke, in denen die Aufnahme gemacht wurde, durchlebten und sie, wenn sie abgelaufen waren, von neuem durchlebten ... und doch waren sie für niemanden von wirklichen Personen zu unterscheiden (sie bewegten sich in einer Welt, die mit unserer Welt zufällig in Berührung getreten war ... ).

Adolfo Bioy-Casares

Der Flüchtling versucht dann, die Maschinerie zu erkunden, die sich tückischerweise auch selber aufzeichnet, so daß bei Betrieb, der abhängig ist von den Gezeiten, Bild und Gegenstand zusammenfallen oder sich überlagern. Eine Tür, die bei der Aufnahme geschlossen war, läßt sich also auch dann nicht öffnen, wenn lediglich die Projektion läuft. Es handelt sich dabei offenbar um eine der Holographie nachempfundene Technik, die es einem beliebigen Zuschauer gestattet, sich gleichzeitig in der wirklichen und in der virtuellen Welt zu bewegen. Nachdem der Flüchtling die Apparatur beherrscht und bemerkt hat, daß Pflanzen oder Tiere nach der Aufnahme sterben, beginnt er, sich selber in die sieben, von Morel aufgezeichneten Tage einzubauen und dies so zu machen, daß jeder uneingeweihte Zuschauer vermuten müßte, daß er und Faustine ineinander verliebt seien und seine Liebe von ihr erwidert werde. Klar ist, daß sie sich niemals im Reich der Schatten begegnen werden, auch nicht in ihrer virtuellen Existenz, die mit dem Tod bezahlt wird. Gewonnen wird die Ewigkeit, doch die Rolle des äußeren Beobachters, auf den alles zugeschnitten ist, verhindert den Eintritt der Lebendigen und die filmische Aufzeichnung ein virtuelles Leben in eigener Dynamik.

Kultiviert aber wurde schon lange, zumal im Christentum, die Erotik der Ferne, die Vermählung mit einem fernen Liebhaber, und eine entsexualisierte, sich vom Zwang der Natur und den Erregungen des Körpers befreiende Erotik, die man auch Vergeistigung nennt und die mit Askese einhergeht. Geduldet wurde Sexualität vom Christentum - in der Ideologie, nicht in der Lebenswirklichkeit selbstverständlich - als zu regelnder Mechanismus der Reproduktion für das gemeine Volk, das keinen Triebverzicht zu leisten imstande ist, denn der irdische Leib war nur ein Gefängnis, ein machtvolles Instrument des Teufels.

Trotzdem konnte sich eine ganz und gar körperlose Existenz als Wunschbild nie durchsetzen, denn das Christentum war gleichzeitig behext vom Glauben an die Wiederauferstehung, an eine andere, irgendwie parallele Welt, in die man eintritt, wenn man diese Welt verläßt. Christus, der menschgewordene Gott und der gottwerdende Mensch, hatte die Metamorphose vorexerziert: die Verwandlung des Gottes in Fleisch und die Transsubstantion des Fleisches in einen Gott, die in den zu Kulten verwandelten Mahlzeiten immer nachgefeiert wurde.

Stets konnten die Götter, zumal bei den Griechen, sich leicht eine andere Gestalt verleihen, mühsam von den Menschen durch Masken oder durch Trance nachgestellt. Doch immer hat die Sterblichen von den Unsterblichen eine Kluft getrennt, die jene höchstens einmal, nach ihrem Tod, übertreten konnten. Sicher, in der quasi-monotheistischen, aber schon durch die Dreifaltigkeit gebrochenen christlichen Vorstellung ist die Kluft tief ausgeprägt, wenn es auch hinreichend Zwitterwesen wie die Heerscharen der Engel gab und manche bevorzugte Menschen nach der Wiederauferstehung nahe an Gott waren.

Ungelöst jedenfalls blieb, was nach dem Tode mit in die andere Welt genommen wird. Wie würde der gekreuzigte Jesus im Himmel aussehen mit seinen Wunden, die ihn entstellen? Und wie die Scharen der verzückten Märtyrer, die seinem bedingungslosen Gang in die andere Welt nachfolgten? Wie werden die Ungeborenen, die früh Gestorbenen, die Kranken, Alten und körperlich Zerschlissenen in den Himmel eintreten? Das hat die Menschen offenbar beschäftigt, denn im Himmel wollte man keine kranken, alten oder entstellten Leiber. Gut, daß Christus, das Vorbild, in der Blüte des Mannesalters, mit ungefähr 30 Jahren, aus dem Leben geschieden ist, kein Jüngling mehr, aber auch kein alter Mensch mit Falten, dickem Bauch und manch anderen Spuren, die das Leben einzeichnet. In einen ebensolchen Leib, so war das Versprechen etwa von Augustinus, werde jeder sich verkörpern, wenn er Christus nachfolgt und in den Himmel einkehrt. Genauso wie von Jesus die Wunden seiner Kreuzigung nicht mehr sichtbar sind, so werden die Getreuen in einem makellosen Leib, gerade im richtigen Alter, wiederauferstehen und ihr ewiges Leben als Klons feiern.

Der Cyberspace eröffnet die Möglichkeit des Paradieses und eines neuen Körpers für jedermann. Mag sein, daß darüber eine neue, historisch unbekannte Wertschätzung des nicht idealen Körpers eintritt, daß die perfekten Körper der Models an Bedeutung verlieren, die uns stets behext haben, von der Kunst oder der Werbung gefeiert und in Form einer Imitatio reproduziert wurden. Der Bruch zeichnet sich in den Bildern der modernen Kunst bereits ab, doch der Zwiespalt zwischen der eigenen Wunschidentität und der gegebenen wird solange bestehen bleiben, bis die Gentechnologie möglicherweise das Switchen zwischen den Körperbildern erlaubt und auch das reale Selbst auf diese Weise nicht mehr körperlich in einem Gefängnis verankert ist. Inzwischen spielt man im Cyberspace mit der Geschlechtsidentität und der erotischen Intimität aus der Ferne und kultiviert gleichzeitig, wie beim Wrestling und Body-Building oder durch kosmetische Operationen, den obsoleten, der Vergänglichkeit, der Krankheit oder Zwängen ausgesetzten Körper, der immer mehr zum Bild wird und sich virtualisiert.

2) Unter Cyborgs (Neologismus aus Cybernetics und Organism) versteht man Menschen, deren natürlicher Körper durch irgendwelche Techniken, beispielsweise neurotechnologische Implantate, erweitert wurde.

3)"Das eigene Avatar kann aussehen, wie man es selber haben will, bis an die Grenzen der eigenen Ausrüstung. Wenn man häßlich ist, kann man seinen Avatar zu einer Schönheit machen ... Man kann im Metaversum wie ein Gorilla oder ein Drachen oder ein giganticher sprechender Penis ausstehen." (Stephenson, 1994, S. 47) Wer sich keine maßgeschneiderten Avatars kaufen kann und nicht weiß, wie man sich solche programmiert, muß diese von der Stange nehmen. Je nach Geld verfügen die Avatars dann auch nur über ein mehr oder weniger begrenztes Reportoire an Gesichtszügen und sind die körperlichen Details unterschiedlich detailliert.

Stephensons Schilderung ist nicht reine Science-Fiction, denn es gibt für die Einrichtung einer virtuellen Welt und für die Repräsentation durch einen Avatar bereits Datenbanken mit vorfabrizierten 3-D-Modellen, die man kaufen kann: "Anbieter von Web chat lines oder virtuellen Welten bestärken die Benutzer darin, aus den von ihnen angebotenen Datenbanken an Bildern, 3D-Gegenständen und Avatars auszuwählen. Ubique's Site weist auf "Ubique Furniture Gallery" hin, in der man sich Bilder unter solchen Kategorien wie "Büroeinrichtung", "Computer und Elektronik" und "menschliche Ikons" auswählen kann. VR-SIG aus England bietet einen Supermarkt für VRML-Gegenständen (Virtual Reality Modelling Language, mit der man im Web 3D-Bilder generieren kann) an, während Aereal eine Virtual World Factory zur Verfügung stellt. Letztere will die Schaffung einer maßgeschneiderten virtuellen Welt besonders einfach machen: 'Schaffen Sie sich Ihre persönliche Welt, ohne selbst programmieren zu müssen! Sie müssen lediglich die leeren Stellen ausfüllen und dann entspringt Ihre Welt!' Schon bald werden wir einen richtigen Markt für detaillierte virtuelle Szenarien, Charaktere mit programmierbaren Verhaltensweisen und sogar ganzen Welten haben (eine Bar mit Gästen, eine Straße in der Stadt, eine berühmte historische Episode etc.), woraus ein Benutzer seine eigene "einzigartige" virtuelle Welt zusammenstellen kann." (Lev Manovich: Virtuelle Welten, in Telepolis (http://www.ix.de/tp)

Literaturangaben

Baker, N. (1992): Vox. Reinbek bei Hamburg

Bioy-Casares, A. (1975): Morels Erfindung. Frankfurt/M.

Brown, P. (1994): Die Keuschheit der Engel. München

Lévy, P. (1996): Entflammte Körper. Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I", S. 82

Maes, P. (1996): Künstliches Leben trifft auf Unterhaltung: Lifelike Autonomous Agents", in Kunstforum International Bd. 133 "Zukunft des Körpers II"

Oki, Keisuke (1996): Synchronizität im Computerzeitalter, in Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I"

Ray, T. (1996): Netlife - das Schaffen eines Dschungels im Internet. In S. Iglhaut, A. Medosch, F. Rötzer (Hrsg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis. Mannheim

Sartre, J.-P. (1980). Das Sein und das Nichts. Hamburg, S. 338-397

Stenslie, S. (1996): Vernetzung des Fleisches. Kunstforum International, Bd. 132 "Zukunft des Körpers I"

Steels, L. (1996): Die Zukunft der Intelligenz, in Kunstforum International Bd. 133 "Zukunft des Körpers II"

Virilio, P. (1996): Von der Perversion zur sexuellen Diversion, in Kunstforum International, Bd. 132 "Die Zukunft des Körpers I"


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[7] http://www.communities.com/habitat.html
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