Von der Politik des Elends und dem Elend der Politik
Die erneute, aber längst ranzige Debatte über Hartz IV folgt einem Sozialabbau-Gesetz
Eine "wichtige Debatte über die Zukunft des Sozialstaates" sei mit den Äußerungen von Außenminister Guido Westerwelle über Hartz IV und "anstrengungslosen Wohlstand" angestoßen worden, erreichen uns die Meldungen aus den Sphären der Politik. Das ist beunruhigend. Denn man fragt sich, was wurde eigentlich in den vergangenen fünf Jahren seit Einführung von Hartz IV debattiert? Hatten wir sie nicht schon bis zum Erbrechen diese Kampagnen gegen "Sozialschmarotzer" und "Missbrauch", für "härte Strafen" und "Lohnabstand"?
Geradezu wellenartig wärmen Politiker vor Wahlen wie jetzt in Nordrhein-Westfalen unbeirrt und in schamloser Instrumentalisierung die seit Jahren immer wieder vorgetragenen Stereotypen auf. Ist es Mai, sollen die Langzeitarbeitslosen Spargel stechen. Ist es Winter, sollen sie Schneeschippen, wie jüngst Westerwelle fordert. Ist es Sommer, sollen sie das Heu bündeln. Doch kaum sind des FDP-Vorsitzenden Worte zu Schlagzeilen geworden, ist der Schnee längst weggetaut – all dies sind unpraktikable, populistische Vorschläge und das Unlautere daran ist, dass dies wohl selbst die Politiker wissen. Ähnlich bei den "harten Strafen". Mehr Strenge für den, der angebotene Arbeit willkürlich ablehne, fordert CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. Dabei sieht das Gesetz längst vor, bei Regelverstößen die Geldleistungen auf Null zu setzen. In Trier ist daran ein geistig Verwirrter gestorben. Was will die Politik hier verschärfen – den Arm abhacken?
Zentralorgan für Sozialschmarotzerbekämpfung
Wie ausführlich diese Debatten geführt wurden, lässt sich anhand des Zentralorgans für Sozialschmarotzerbekämpfung, der "Bildzeitung", nachvollziehen. Die Bildzeitung, Deutschlands größtes tägliches Boulevardblatt mit einer Auflage von 3,5 Millionen, flankiert seit Jahren Hartz IV in der ihr eigenen sozialdemagogischen Tradition. Bereits mit ihrer Kampagne gegen "Florida-Rolf" im Jahre 2003 hatte sie gezeigt, wie man durch Schlagzeilen Gesetzesänderungen erzwingt. Bei "Florida-Rolf" handelte es sich um einen Deutschen, der nach einer gescheiterten Ehe 1979 nach Florida kam und dort als Immobilienmakler arbeitete. Durch eine Krankheit wurde er 1985 erwerbsunfähig, ein Gutachter bestätigte, dass bei einer Rückkehr nach Deutschland eine erhöhte Selbstmordgefahr bestehe. Das Sozialamt stimmte dem Wohnsitz in Florida zu und überwies ihm die zustehende Sozialhilfe.
Diesen Fall nutzte die Bildzeitung für eine ihrer regelmäßigen Kampagnen gegen angebliche "Sozial-Schmarotzer" und zeichnete das Bild eines Mannes, der am Strand von Florida unter Palmen von den Steuergeldern der hart arbeitenden Bürger lebt: "Sozialamt zahlt sogar die Putzfrau", so die Bild-Schlagzeile vom 21. August 2003. Im Gefolge der Presseberichte verschärfte die Bundesregierung das Bundessozialhilfegesetz innerhalb der Rekordzeit von wenigen Wochen.
Doch "Florida-Rolf" war nur der Auftakt zu einer massiven Kampagne, in der wellenartig Beispiele des angeblichen Missbrauchs von Sozialleistungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden und die so für den gesetzgeberischen Sozialabbau durch "Hartz IV" das Feld pflügte.
Vom "Luxusleben" in Florida auf Staatskosten in 2003 ginge es über zum Luxusleben auf Mallorca: "Erwischt! Frechste Sozialabzockerin", titulierte Bild am 13. März 2006. Nach der "frechsten Sozialabzockerin" wurde acht Monate später, am 19. Dezember 2006 "Deutschlands frechster Arbeitsloser" präsentiert. Im Superlativ schwingt mit, dass es neben dem gezeigten "Fall" jede Menge "normal frecher" Arbeitslose gibt. Am 13. Februar 2008 schließlich Klartext: "Zu viele Arbeitslose drücken sich vor der Arbeit!" und am 1. September 2008: "So wird bei Hartz IV abgezockt."
Dies sind nur einige Beispiele für eine ganze Batterie an Bild-Schlagzeilen, mit denen der bisherige Sozialstaat sturmreif geschossen werden sollte, und Bild war natürlich nicht alleine: "Hier golft ein Hartz IV-Empfänger" titulierte etwa die Münchner Abendzeitung am 11. April 2006. Diese meldet allerdings auch am 13. Februar 2008: "Arbeitsloser hungert sich zu Tode", während am gleichen Tage die Arbeitslosen sich bei Bild eben vor der Arbeit drücken.
Permanentes Wiederkäuen derselben Parolen
Der sozialdemagogische Fahrplan von Bild bei der Anprangerung des angeblichen "Sozialschmarotzertums" ist dabei stets derselbe und wird von Politikern aufgegriffen. Man zerrt einen angeblichen oder tatsächlichen Missbrauch von Sozialleistungen an das Tageslicht, verquickt ihn mit Hinweisen auf die angebliche Dunkelziffer weiterer Fälle und konstruiert so ein Versagen oder eine Fehlkonstruktion des Sozialstaates. Der Einzelfall wird zum Indikator für angebliche grundsätzliche Mängel bei der Gewährung von Sozialleistungen.
Diese unzulässigen Verallgemeinerungen und die Diskriminierung von Gruppen wie Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose, die einseitige Darstellung von Tatbeständen und die Zurschaustellung von sozial verwundbaren Menschen mit geringen Möglichkeiten der Gegenwehr sind Bestandteile und Konstruktionsmerkmale der Sozialdemagogie. Sie perpetuiert das Märchen von den arbeitsscheuen Arbeitslosen und liefert der Subjektivierung von objektiven Lagen Vorschub: Es liegt am Arbeitslosen selbst, an seiner Einstellung, ob er wieder einen Job findet - und nicht an der objektiven Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Jetzt wiederholt "Bild" ebenso wie Westerwelle diese Kampagne, man bemüht sich nicht einmal mehr, die Schlagzeilen zu ändern. Am 30. Januar 2010 heißt es wieder "Deutschlands frechster Arbeitsloser", der Titel ging diesmal von Henrico F. (37) über an Arno D. (54). Und am 3. Februar 2010 wird wieder mal getitelt: "So wird bei Hartz IV abgezockt."
Es geht also um das permanente Wiederkäuen derselben Parolen, und das seit Jahren. Es ist das Elend der Politik, dass diese willfährig vor Wahlen aus der Politik des Elends von Langzeitarbeitslosen Honig und Wählerstimmen saugen will. Bereits aus dem Jahre 2001 stammt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin über Faule Arbeitslose. Politische Konjunkturen einer Debatte. Wie ranzig diese Debatte ist, dokumentieren die Worte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom April des gleichen Jahres: "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft."
Die Studie jedenfalls kommt zu dem Schluss, aus historischer Sicht kämen diese Debatten freilich nicht unerwartet: "Rückblickend könnte man sogar von einem arbeitsmarktpolitischen Reflexautomatismus sprechen: Immer wenn Regierungen ein bis zwei Jahre vor der Wahl stehen und die Konjunktur lahmt, wird die Alarmglocke 'Faulheitsverdacht' geläutet, auch wenn es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Arbeitslosen fauler geworden sind." Dies sei ein "fast prognosefähiges Gesetz".