Vor dem Gipfel: Warum Schweden nicht der Nato beitreten sollte
Die USA drängen. Sollte die Türkei nächste Woche grünes Licht geben, wäre der Weg frei für Schweden. Die Nato-Expansion macht Europa aber unsicherer. Ein Blick hinter die Kulissen.
Vor dem Nato-Gipfel, der am kommenden Dienstag im litauischen Vilnius stattfindet, bekräftigte US-Präsident Joe Biden, dass er "Schwedens Mitgliedschaft in der Nato voll und ganz unterstütze" und der Ratifizierung des Antrags "mit Spannung entgegensehe". Das sagte er bei einem Treffen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson im Oval Office des Weißen Hauses am Mittwoch.
Die Genehmigung des Nato-Beitrittsantrags von Schweden ist – anders als bei Finnland, dessen Antrag bereits angenommen wurde – seit einiger Zeit ins Stocken geraten, da die Türkei und Ungarn ihn blockieren. Die Erweiterung der Nato erfordert die einstimmige Ratifizierung durch die bestehenden 31 Mitglieder.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verlangt für die Zustimmung von Schweden, dass es noch schärfer gegen Anhänger kurdischer Oppositionsbewegungen wie der Arbeiterpartei PKK vorgeht. Die schwedische Regierung kam einigen der Forderungen nach, doch die Türkei ist weiter unzufrieden. Die jüngste Verbrennung von Koranseiten vor eine Moschee in Stockholm durch einen Iraker hat sicherlich kaum geholfen, Istanbul zu beschwichtigen.
Spitzendiplomaten aus der Türkei und Schweden haben sich gestern im Nato-Hauptquartier in Brüssel getroffen, um das weitere Vorgehen auszuloten. Was immer dabei herausgekommen ist, es wäre besser, wenn Schweden den Antrag zurückzieht und nicht der Nato beitreten würde.
Der Grund dafür ist recht simpel: Die Schweden sollten ihre Neutralität weiter behalten, weil das, was man sich wie die Finnen von einem Nato-Beitritt verspricht, nämlich mehr Sicherheit und Schutz vor einem vermeintlichen Angriff Russlands, auf einer Fata Morgana aufbaut. Zudem hat es Auswirkungen, die Europa und die Welt tatsächlich unsicherer machen.
Man sollte sich dabei vor Augen halten, warum die Nato gegründet wurde und welchen tatsächlichen Zweck sie verfolgt. Offiziell wurde im Kalten Krieg darauf verwiesen, dass das Militärbündnis Westeuropa vor den sowjetischen Invasoren schützen soll, die jederzeit zum Angriff bereit seien, während in den Medien permanent vor der russischen Bedrohung gewarnt wurde.
Wie wir aus unterschiedlichen Quellen wissen, sahen die US-Planer in Russland jedoch überhaupt keine militärische Bedrohung, sondern eine ideologische und politische. Ein einflussreicher Kopf im Kalten Krieg, George Kennan, hat das klar ausgedrückt.
1946 hielt er die russische Gefahr für derart hoch, dass, gegen Kriegsvereinbarungen verstoßend, Deutschland geteilt werden müsse. Der Grund dafür sei die Notwendigkeit, so Kennan, "die westlichen Zonen Deutschlands zu retten, indem man sie gegen Einflüsse aus dem Osten abschottet", aber nicht durch militärische Gewalt, sondern durch "politische Penetration", bei der die Russen Vorteile besäßen.
Überall, wo die USA ihre Interessen bedroht sahen, wurde in der Nachkriegszeit der Kreml als die eigentliche Gefahr ausgemacht, wo tatsächlich Moskaus "Arm" meist weit und breit nicht zu sehen war, von Indonesien über Vietnam bis nach Lateinamerika. Der Kreml wurde zur Metapher, wie Noam Chomsky es einmal ausdrückte, für alles, was der US-Kontrolle aus den Händen zu gleiten drohte.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand die Nato Anfang der 1990er-Jahre dann aber nicht, wie man hätte erwarten können. Die Gefahren, die russischen Horden, waren ja verschwunden. Die Nato wäre gemäß offizieller Begründung also gar nicht mehr notwendig gewesen.
Die Nato erhielt in der Öffentlichkeit nun eine andere Rechtfertigung. Das Bündnis werde weltweit die westliche Werteordnung und den Handel sichern, hieß es nun. US-Präsident Bill Clinton brachte die neue Nato-Doktrin so auf den Punkt: "einseitig zu handeln, wenn es notwendig ist", um lebenswichtige Interessen zu verteidigen, wie z.B. "den ungehinderten Zugang zu wichtigen Märkten, Energielieferungen und strategischen Ressourcen zu gewährleisten."
Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer wies auf einer Nato-Tagung im Juni 2007 an, dass "Nato-Truppen Pipelines bewachen müssen, die Öl und Gas transportieren, das für den Westen bestimmt ist", und ganz allgemein die von Tankern genutzten Seewege und andere "entscheidende Infrastrukturen" des Energiesystems schützen müssen. Der Zuständigkeitsbereich der Nato wurde global.
Dafür wurde das Konzept der "humanitären Intervention" entwickelt, ein Sonderrecht, das ausschließlich für die USA und ihre Nato-Verbündeten gilt. Niemand sonst kann ein solches Recht beanspruchen.
Mit dieser Doktrin marschierte man in den Balkan und in Afghanistan ein. Der Globale Süden protestierte gegen das Konzept und die illegalen "humanitären Interventionen". Die Einwände wurden aber nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Gegen Versprechungen an Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Osterweiterung der Nato von den USA dann vorangetrieben. Aus diplomatischen Depeschen wissen wir, dass Moskau dabei Georgien und die Ukraine als absolute rote Linie betrachtete.
US-Diplomaten warnten Washington eindringlich und immer wieder, dass ein weiteres Vordringen Richtung Ukraine, die Falken und Hardliner in Russland stärke und ein militärisches Eingreifen Russland nicht ausgeschlossen werden könne.
Auf dem Nato-Treffen in Bukarest 2008 drängte die US-Regierung trotzdem auf einen Beitritt der Ukraine zur Nato. Deutschland und Frankreich bremsten.
2014 fand dann ein Staatscoup in der Ukraine statt, unterstützt von den USA und seinen Nato-Verbündeten. Die Ukraine wurde destabilisiert, Russland annektierte völkerrechtswidrig die Krim und ein Bürgerkrieg im Donbass im Osten entbrannte, wo viele russischstämmige Ukrainer leben.
Nach diplomatischen Versuchen der Konfliktbeilegung (Minsk II) überfiel Russland schließlich vor gut einem Jahr die Ukraine und hält seitdem den Donbass besetzt.
Moskau ist nicht suizidal veranlagt
Soweit zur Geschichte. Die Frage ist nun: Was bringt vor diesem Hintergrund ein Nato-Beitritt Schwedens an zusätzlicher Sicherheit gegen eine vermeintliche Bedrohung vonseiten Russlands?
Wer behauptet, eine Nato-Mitgliedschaft würde dem skandinavischen Land, ohne gemeinsame Grenze mit Russland, mehr Sicherheit geben, der setzt implizit voraus, dass an sich eine Gefahr besteht, dass Russland Schweden überfallen will bzw. es ein denkbares Szenario dafür gibt.
Aber warum sollte Russland Schweden angreifen? Es heißt: Den brutalen Überfall auf die Ukraine hat auch niemand konkret vorhergesagt. Das stimmt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied.
Moskau sieht in der Ukraine – die bis zu seinem Zerfall Teil der Sowjetunion und stark russisch geprägt war – existenzielle Sicherheitsinteressen betroffen, worauf politische Analysten insbesondere in den USA immer wieder verwiesen haben. Und das war allen politisch Beteiligten im Zuge der Osterweiterung der Nato, wie Dokumente und diplomatische Depeschen belegen, auch bekannt.
Schweden spielt dagegen in einer geopolitisch komplett anderen Liga, im Westen. Daher gibt es jetzt auch keine russischen Bomben auf Helsinki und Stockholm, obwohl beide auf dem Weg in die Nato sind.
Dass Moskau Schweden bombardiert oder dort einmarschiert, setzt zudem fast logisch voraus, dass die russische Führung suizidal veranlagt ist. Denn ob mit oder ohne Nato-Mitgliedschaft Schwedens würde es die Zerstörung Russlands nach sich ziehen.
Die europäischen Staaten, die USA und die Nato würden ja einen russischen Angriffskrieg auf westliches und EU-Territorium nicht tatenlos hinnehmen – und die USA und Nato-Partner sind ja auch in der Vergangenheit immer wieder Nicht-Nato-Ländern beigesprungen und haben interveniert, wenn man die eigenen Interessen gefährdet sah, von Asien, über den Balkan und Afrika bis nach Lateinamerika.
Moskau weiß sehr wohl, dass Schweden, wie Finnland, Polen oder Tschechien, rote Linien der USA, der EU und der Nato darstellen. Das ist der entscheidende Unterschied zur Ukraine.
Ganz abgesehen davon, dass Russland es nicht einmal schafft, das rund hundert Kilometer Luftlinie von der russischen Grenze entfernte Kiew einzunehmen. Wie soll es irgendetwas ausrichten in Skandinavien oder sonst wo in Westeuropa?
Im Zuge der Invasion ist eine Mehrheit in Schweden nun grundsätzlich positiv gegenüber der Nato eingestellt. Wie Andrea Seliger auf Telepolis aber schreibt, hat es seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Schweden keine öffentliche Debatte mehr gegeben über die Preisgabe der Neutralität und einen Nato-Beitritt.
Die Schweden sollten diese Debatte aber führen und sich genau überlegen, ob sie ihre Neutralität wirklich aufgeben wollen.
Denn so unnötig ein Beitritt zur Nato in Bezug auf zusätzliche Sicherheit gegenüber vermeintlicher russischer Aggression ist, so schädlich wirkt er langfristig auf die Stabilität Europas und der Welt.
Die weitere Ausdehnung des Nato-Gebiets dient ja lediglich dazu, die Konfrontation mit Russland, einem Land, das sich von dem gegnerischen Militärbündnis seit den 1990er-Jahren zunehmend eingekreist fühlt, weiter zu verstärken, was über Bande auch die Blockverhärtung mit China vorantreibt.
Das macht niemanden in Europa und der Welt sicherer. Im Gegenteil. Die Nato ist ja nicht, wie oben geschildert, eine gemeinwohlorientierte Allianz, sondern ein hochgerüstetes Militärbündnis mit aggressiven globalen Dominanzinteressen, angeführt von den Vereinigten Staaten.
Die Länder des Globalen Südens haben das immer wieder zu spüren bekommen. Daher reihen sie sich jetzt auch nicht ein in den Club der Ukraine-Waffenlieferanten und fordern Friedensverhandlungen so bald als möglich.
Wenn Schweden neben Finnland – und wer weiß, wer noch einsteigen will – der Nato beitritt, ist es auch ein Signal, dass eine eigenständige europäische Sicherheitsarchitektur unabhängig von den USA weiter an Wert verliert und zur bloßen Utopie verkommt. Es gibt heute nur noch wenige neutrale Nicht-Nato-Staaten in Europa: Österreich, Irland, die Schweiz und Malta.
Charles de Gaulle in Frankreich und Willy Brandt in Deutschland haben noch das Konzept eines gemeinsamen Europa vom Atlantik bis zum Ural vorangetrieben. Diese Idee ist weiter richtig und sollte wachgehalten werden, trotz Krieg.
Was immer man von Wladimir Putin hält – er hat grausame Dinge getan, wie im Übrigen alle US-Präsidenten und viele Nato-Verbündeten –: Er war jedoch lange offen, was seine Reden zeigen, für eine gemeinsame, Russland einbeziehende Sicherheitszone für Europa.
Wenn der Krieg, hoffentlich bald, in Verhandlungen befriedet werden kann, dann sollte man diese Tür wieder öffnen, statt die toxische Nato-Sicherheitsdoktrin weiter in Europa zu forcieren.
Darum kann man den Schweden nur raten: Bleibt neutral!