Vorladung nach Sibirien
Moskau demonstriert auf europäisch-russischem Gipfel Stärke - und Brüssel buhlt um gute Beziehungen zu China und Russland
Offensichtlich muss sich EU-Europa an die Rolle des Bittstellers gewöhnen: Moskau hatte das EU-Russland-Treffen nach Chabarowsk ins fernöstliche Sibirien verlegt - über zwölf Flugstunden von Brüssel entfernt. Wohl um das Interesse der Europäer an den bilateralen Beziehungen zu testen und um zu demonstrieren, wer von wem abhängig ist. Die EU-Spitzenbürokratie machte gute Miene und war sichtlich bemüht, Moskau nicht erneut zu verärgern - ebenso wenig wie Peking auf dem vorangegangenen EU-China-Gipfel
EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner versuchte noch wenige Tage vor dem Treffen im äußersten Osten Russlands, die Wogen zu glätten. Es gebe mit Moskau unnötige Reibereien und Meinungsverschiedenheiten, räumte sie gegenüber der "Berliner Zeitung"ein. Und betonte: "Es gibt überhaupt keinen Grund für Misstrauen."
Das sieht Russland freilich ganz anders. Die einseitige Parteinahme der Europäer für Tiflis im militärischen Konflikt um Abchasien und Südossetien im vergangenen Jahr hat Moskau ebenso verärgert wie zu Monatsbeginn die Begründung einer neuen "Östlichen Partnerschaft" der EU (vgl. Die EU sucht neue Partner im Osten..) mit früheren Sowjetrepubliken, die der Kreml zum Teil als Verbündete, zum Teil als Einflussgebiete betrachtet. Zumal diese ausdrücklich mit der Absicht geschaffen wurden, unabhängiger von russischen Energielieferungen, bzw. dem möglichen Zugriff Moskaus auf Transportwege zu werden.
Streitpunkt Energieversorgung
Gerade Energie- und Rohstoffressourcen aber hatte der Kreml erst kürzlich offiziell zum Machtmittel erklärt. In der neuen, von Präsident Dmitri Medwedew unterzeichneten Sicherheitsdoktrin heißt es, dass diese genutzt werden sollten, um Russlands Rolle in der Welt zu stärken und auszubauen. Ganz in diesem Sinne forderte Medwedew auf dem Gipfel die EU ultimativ auf, sich zur Sicherung der Energielieferungen an einem Kredit für die Ukraine zu beteiligen.
Russland hat seinen Angaben zufolge Zweifel, ob Kiew die bis zum Winter benötigten 19,5 Milliarden Kubikmeter Gas bezahlen kann. "Wir sind bereit, dem ukrainischen Staat zu helfen", so Russlands Staatschef. Die EU und Staaten, die an einer zuverlässigen Energiezusammenarbeit interessiert seien, sollten aber "einen Hauptteil" übernehmen.
Streitpunkt in Chabarowsk war weiterhin der von Russland geforderte Abschluss einer neuen Energie-Charta, die von Brüssel jedoch abgelehnt wird. Bisher hält sich Moskau zwar an die 2000 geschlossene Charta, hat das Dokument aber nicht ratifiziert. Der Vertrag, der eine Liberalisierung des Energiemarktes vorsieht, birgt nach russischer Ansicht die Gefahr, das Pipelinesystem entmonopolisieren zu müssen. Andererseits bleibt bei nicht vollständiger Umsetzung des Abkommens der europäische Markt für russische Energieunternehmen geschlossen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte nach dem Treffen, die EU sei bereit, die russischen Vorschläge zu prüfen - wohl nicht zuletzt, um weitere Verstimmungen in Moskau zu verhindern.
Ohnehin hatten Brüssel und die EU-Staaten in dieser Woche einige Arbeit, um die Beziehungen zu den asiatischen Großmächten zu kitten. Denn auch vor dem Treffen mit der chinesischen Staatsführung am Mittwoch in Prag war Krisenmanagement gefordert. Schon lange stehen die Treffen der Europäischen Union mit China unter keinem guten Stern. Hatte sich die deutsche Regierungschefin Angela Merkel vor zwei Jahren den Zorn Pekings zugezogen, als sie den Dalai Lama zum Gespräch empfing, war es im vergangenen Dezember der französische Präsident und damalige EU-Ratsvorsitzende Nicolas Sarkozy, der nach seinem Treffen mit dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter bei der chinesischen Führung in Ungnade fiel.
Das Verhältnis zu Peking
Während nach dem tête-à-tête im Kanzleramt jedoch "nur" eine monatelange bilaterale Eiszeit folgte, nahm Peking für den Sarkozy-Affront gleich in ganze EU in Sippenhaft: Der 11. chinesisch-europäische Gipfel in Lyon wurde abgesagt. Nun musste sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ins Zeug legen, um vor dem Nachholtermin des Treffens in dieser Woche in Prag weitere Verstimmung zu verhindern: Der Außenamtschef sieht Klärungsbedarf und will der Washingtoner Bitte, eine größere Gruppe Uiguren aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo in Deutschland aufzunehmen, nicht unbedingt nachkommen. Denn die Regierung in Peking hält die Häftlinge für Terroristen und verlangt deren Auslieferung.
Dass gerade Berlin auf eine Normalisierung des Verhältnisses zu Peking setzt, ist nicht überraschend. Schließlich lag Deutschland nach Angaben der EU-Kommission im vergangenen Jahr mit 34 Milliarden Euro auf Platz eins der EU-Exporteure nach China, gefolgt von Frankreich, Italien und Gr0ßbritannien. Mit einem Warenwert von 51 Milliarden (21 Prozent der EU-Gesamtbilanz) war die Bundesrepublik zugleich größter Importeur. Insgesamt hat sich der Warenhandel der "EU27" mit dem asiatischen Staat zwischen 2000 und 2008 wertmäßig mehr als verdreifacht: die Ausfuhren nach China stiegen von 26 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 78 Milliarden 2008 - China ist zum zweitgrößten Handelspartner der EU nach den USA avanciert.
Gerade in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sehen sowohl die EU als auch China - die Weltbank geht in diesem Jahr vom schwächsten chinesischen Wirtschaftswachstum seit 19 Jahren aus - ihr Heil nicht zuletzt in der weiter verstärkten Zusammenarbeit. "Handel und Investitionen werden uns aus der aktuellen Krise herausführen", erklärte die Brüsseler Handelskommissarin Catherine Ashton vor wenigen Tagen in Peking. Streit um Uiguren oder den Dalai Lama können da nur stören.
Die Vermeidung kritischer Themen
Dieses Interesse hat sich auch auf dem Gipfel widergespiegelt: Zwar gab es keine formale Abschlusserklärung sondern lediglich eine gemeinsame Presseerklärung. Darin beschränkten sich beide Seiten im Wesentlichen darauf, den Ausbau der bilateralen Beziehungen abzufeiern und eine Erweiterung des Handels- und Wirtschaftsdialogs anzukündigen. Dass die greifbaren Ergebnisse mager blieben, liegt sicher an den Differenzen. Mehr aber noch dürfte der Versuch dahinter stecken, strittige Themen, zu denen man sich sonst positionieren müsste, zu deckeln.
So soll auch das Tibet-Problem angesprochen worden sein, jedoch nur als Nebenthema und ohne Erwähnung in dem Pressestatement. Schließlich sind die Olympischen Spiele in Peking Geschichte - und Chinas Führung reagiert weniger gereizt auf die Versuche ihrer Kritiker, die Tibet-Politik in die Öffentlichkeit zu bringen. Zumal die internationalen Medien nach dem Sport-Großereignis kaum noch Interesse daran zeigen, das chinesische Vorgehen in der Bergregion zu verfolgen und die verschiedenen Tibet-Aktivisten ihre Kampagnen größtenteils aufgegeben haben. Brüssel mag diese Entwicklung durchaus freuen, schließlich wollte man mit der Tibet-Frage das gegenseitige Verhältnis (offizielle bilaterale Beziehungen bestehen seit 1975) nie belasten und hatte eher pro forma auf Menschenrechtsrechtsverletzungen in dem Gebiet verwiesen.
In der 1995 von Brüssel vorgelegten langfristigen Strategieplanung für die EU-China-Beziehungen beschränkte sich die Kommission auf gerade einen Satz zu Tibet: Die Gewährleistung der Minderheitenrechte sei unzureichend. Statt dessen wird Chinas Rolle für internationale Stabilität, die Weltwirtschaft und als Markt für die europäische Wirtschaft hervorgehoben.
Für das Wohlwollen bedankte sich Peking mit einem eigenen Papier zum chinesisch-europäischen Verhältnis. In dem Dokument von 2003 wird von "reifen Beziehungen" gesprochen und konstatiert: keine wesentlichen Interessenkonflikte. Unterschiedliche Ansichten zu verschiedenen Fragen existierten aber sehr wohl. Ausdrücklich sind diese Differenzen in den Zusammenhang mit verschiedenen historischen Erfahrungen, kulturellen Traditionen, einer unterschiedlichen Wirtschaftsentwicklung und anderen politischen Systemen gesetzt.
In der 2006 erneuerten EU-Planung für China kommt noch nicht einmal mehr der Begriff Tibet vor, wie auch in der gemeinsamen Erklärung zum Abschluss des 10. EU-China-Gipfels im Dezember 2007. Immerhin jedoch hat es bei der jüngsten Runde im institutionalisierten europäisch-chinesischen Menschenrechtsdialog eine Diskussion über Tibet gegeben. Konkrete Details allerdings mochten beide Seiten nicht mitteilen.
Künftiger Streitfall: die Afrika-Politik?
Auch über andere Konfliktpunkte in den europäisch-chinesisch Beziehungen ist nur wenig zu hören. Der Dialog über den weltweiten Klimaschutz und Chinas Anteil daran läuft zwar, hat bislang aber keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Selbst die gewachsene Zahl von Warnmeldungen über gefährliche Produkte aus China, seit Jahren ein medialer Dauerbrenner, wird sehr zurückhaltend kommentiert. Dabei hatte das EU-Alarmsystem RAPEX erst vor wenigen Tagen in seinem Jahresbericht für 2008 mitgeteilt, dass insgesamt 909 RAPEX-Meldungen zu besonders gefährlichen Produkten Erzeugnisse betrafen, die in China hergestellt wurden - ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 52 auf 59 Prozent aller gemeldeten Fälle.
Und verklausuliert bleiben auch die Aussagen zur Afrika-Politik Chinas und der EU, obwohl hier das größte Konfliktpotenzial in den kommenden Jahren liegen dürfte. Während die Europäer - wenn auch inkonsequent - in ihrer Afrika-Politik durchaus Entwicklungsaspekte berücksichtigen, wird Peking vorgeworfen, auf der Jagd nach Rohstoffen und Energiequellen diese Fragen ebenso zu ignorieren wie die dramatische Menschenrechtssituation in vielen afrikanischen Staaten. Offen ausgesprochen wurde das jedoch auch in Prag nicht. Dafür allerdings brachte Peking ein Thema vor, das die Europäer lieber weiter in der Schreibtischschublade gesehen hätten: die Aufhebung des Waffenembargos gegen China. Seit Jahren fordert Peking dessen Ende, und seit Jahren drückt sich die EU vor einer Entscheidung. Auf dem nächsten EU-China-Gipfel, der für das zweite Halbjahr in Peking vereinbart wurde, könnte es weit kontroverser als in Prag zugehen.