Vorreiter der Rechtsentwicklung in Europa
Wer den Brexit finanzierte, sich als Klassenkämpfer ausgab und die späte Rache am Wohlfahrtsstaat - Brexit: Die ungeschriebene Geschichte
"Wir wollen die Kontrolle zurück." Dass diese abstrakt richtige Parole der Brexiteers sich gegen "die EU" als Bürokratie und nicht vor allem gegen die hinter ihr stehenden Kapitalisten richtete, vor allem auch nicht gegen die im eigenen Land - das ist die bisher massivste Form des Populismus und der politischen Rechtsentwicklung in Europa - mitverursacht von der EU selbst.
Enteignung der Kriegsgewinnler, Wohlfahrtsstaat
Die Arbeiterklasse in Großbritannien hatte, ähnlich wie in Skandinavien, durch ihre Kämpfe nach dem 1. Weltkrieg politisches Gewicht gewonnen. Es blieb im 2. Weltkrieg verdeckt, wie immer in imperialistischen Kriegen. Der von den Leitmedien inszenierte Kriegsheld Churchill erwies sich sofort mit Kriegsende als gar nicht so beliebt. Er verlor die erste Nachkriegswahl krachend an die Labour Party.
Die durch ihre Kriegsgewinne erblindeten Kapitalisten mussten Zugeständnisse machen, wie sie in diesem Ausmaß nirgends sonst in Westeuropa erreicht wurden: Die privaten Kriegsgewinnler der Bergwerke und der Stahl- und Kohleindustrie wurden enteignet. Die Gewerkschaften gewannen an Ansehen, die öffentliche Infrastruktur mit Schulen, Wasser, Schienenverkehr, Post wurde ausgebaut, ebenso das öffentliche und weithin kostenlose Gesundheitssystem und genossenschaftliche Wohnungen.
Die Zustimmung zu den Reformen war sehr breit. Die Gewerkschaften wurden selbstbewusster. Die ersten Tory-Regierungen mussten noch in den 1970er Jahren heftige Streiks, Lohnerhöhungen und verbesserte Arbeitsbedingungen gerade der Bergarbeiter zähneknirschend hinnehmen.
Thatcher: Umfassend vorbereiteter Gegenschlag
Die Konterrevolution kam nur langsam in Gang. Die herrschende Klasse musste sich auch geistig regenerieren. Das dauert meistens eine Weile. Aber ab 1979 wedelte die neue Tory-Ministerpräsidentin Margret Thatcher bei ihren Parteitagsauftritten demonstrativ mit der neoliberalen Bibel - Friedrich von Hayeks "Die Verfassung der Freiheit", zuerst erschienen 1960 in London.
Als 1981 in den USA Thatchers Busenfreund Ronald Reagan Präsident wurde, gab das neuen Auftrieb. Reagan zeigte gleich, wie man eine geschlossen streikende, an zentraler Stelle agierende Gewerkschaft zerschlägt, mit strategischer Vorbereitung, mithilfe von Polizei-Prügeln, Armee als Streikbrecher, in die Gewerkschaft eingeschleusten Geheimdienst-Mitarbeitern, Entlassungen, Gefängnis, Nichtauszahlung der Löhne, inszeniert als "nationaler Notstand".1
Kohlevorräte aus dem Ausland, Polizei, Geheimdienst
Die Thatcher-Regierung bereitete ihren Gegenschlag sofort mit Regierungsbeginn 1979 vor, heimlich. Zunächst sollte der politische, symbolkräftige Kern der Arbeiterklasse vernichtet werden: Die Gewerkschaft der Bergarbeiter, die National Union of Mine Workers, NUM. Die Inszenierung: "20 verstaatlichte Bergwerke sind unrentabel, sie müssen geschlossen werden!" Es gab keine Verhandlungen mit den Gewerkschaften. Es ging aber nicht um die Bergwerke, sondern um die Bergarbeiter, um ihre Gewerkschaft. Die 20 Bergwerke waren unter den 70 Bergwerken ausgesucht, weil dort die Bekämpfung der NUM den besten Erfolg versprach. Die 20 sollten nur der Anfang sein.
Die Regierung legte durch Käufe im Ausland riesige Kohlevorräte an ("Streikbrecherkohle"), baute dafür Häfen aus. Die staatliche Elektroindustrie wurde verpflichtet, Kohle durch Öl zu ersetzen - dafür erhielt der mit Reagan eng verbundene, betrügerische US-Konzern Enron die Aufträge. Berittene Sonderstaffeln der Polizei wurden aufgestellt, der Geheimdienst hörte ab, nicht gewerkschaftlich organisierte LkW-Fahrer wurden rekrutiert. Die Sozialgesetzgebung wurde geändert: Familien von Streikenden sollten keine Beihilfen bekommen. Auch die Konfiszierung des NUM-Vermögens wurde vorbereitet. Den Gewerkschaften der Dockarbeiter und Eisenbahner, die sich dann mit den Bergarbeitern solidarisierten, wurden umstandslos Lohnerhöhungen bewilligt. Dagegen: 11.000 Streikende wurden verhaftet, gegen 8300 wurde wegen Landfriedensbruch ermittelt.2
Klassenkampf von oben - überraschend für die da unten
Auf diesen differenzierten Klassenkampf von oben war die Gewerkschaft nicht vorbereitet. Sie hatte sich mit ihren Erfolgen im Wohlfahrtsstaat eingerichtet, in dem es angeblich keine Klassen mehr gab.
Der aufopferungsvolle, mehrmonatige Streik, von vielen verschiedenen Gruppen in England wie international unterstützt, auch von vielen Frauengruppen, brach zusammen, auch weil der Kampf schnell zum Systemkampf wurde. Deshalb zogen sich die Führungen der Labour Party und der meisten anderen Gewerkschaften zurück. Da wirkte sich aus, dass die USA mithilfe der CIA nach dem Krieg Labour und den Gewerkschaftsdachverband TUC antikommunistisch umgekrempelt hatten.
Für den Sieg hat die Regierung den Staat hoch verschuldet, da galt kein neoliberales Spardiktat: Kohlevorräte, Hafenausbau, mehr Polizei, dann die teuren Zechen-Stilllegungen, mehr Sozialhilfe, Regionalhilfen für die untergehenden Kohlereviere. Seitdem wird die Kohle im großen Stil aus Australien, Kolumbien und den USA importiert, wo die Arbeitsstandards so niedrig sind: "Globalisierung".
Die Niederlage - dauerhaft, mit Wirkung in ganz Europa
"Der Streik war der größte und wohl wichtigste Arbeitskampf in der europäischen Nachkriegsgeschichte.... Die Industrie ist verschwunden, die Gemeinschaften sind zerstört. Auch in Europa wäre vieles anders gekommen, hätten die Bergarbeiter damals gewonnen."3
Der Streiks und die Niederlage wirkten auch deshalb auf den Kontinent, weil Großbritannien seit 1973 Mitglied der EWG war. Zunächst hatte nach dem Krieg die Elite nostalgisch mit dem ehemaligen Kolonialminister Winston Churchill von der alten Herrlichkeit des Commonwealth geträumt und empfand das neue Gebilde in Westeuropa als Konkurrenz.
Die alte Herrlichkeit war aber vorbei. Großbritannien war nach dem Krieg bei den USA hochverschuldet, US-Konzerne investierten mit vielen Vergünstigungen, US-Militär errichtete Stützpunkte. Die USA übernahmen traditionelle britische Einflussgebiete wie Griechenland, die Türkei, den Iran, Saudi-Arabien und mehrere Inseln rund um den Globus. Der US-Einflussagent Monnet drängte den geschwächten Freund zum Eintritt in die EG. Die Wall Street wollte von der Londoner City stärker auf Westeuropa zugreifen. Tories wie Labour stimmten zu.
"New Labour" demütigt die Arbeiterklasse weiter
Nirgendwo sonst in Europa wurde eine selbstbewusste und organisierte Arbeiterklasse in ihrem Kern so schnell so hart besiegt und gedemütigt wie in Großbritannien. Dabei war die kompakte Brutalität der fanatisierten Frau Thatcher nur der Anfang. Nach der unvermeidlichen moralischen Abwirtschaftung der Thatcher-Tories war es die "Arbeiter"partei Labour, die die Wahl gewann. Aber unter dem Demagogen Anthony Blair und seinem Nachfolger Gordon Brown mit "New Labour" - diese Abfolge wird "Blatcherism" genannt- wurde die Demütigung der schon Gedemütigten noch ein heftiges Stück weiter getrieben.4
Nach "New Labour: Die Torys beschimpfen die faulen Arbeiter
Und auch das war noch nicht das Ende: Nach der Abwirtschaftung von "New Labour" folgte noch eine Steigerung: Die konservative "Regierung der Reichen" - 23 der 29 Minister waren Millionäre - unter dem Tory David Cameron beschimpfte Arbeitslose als "Prolls" (Abschaum), als "dick, faul und dumm", bei anderer Gelegenheit als Sozialbetrüger, Drogenabhängige und Alkoholiker. Die Regierung ließ Sozialwohnungen abreißen, weil sich darin "verkommene Familien" breit machen.5
Das asoziale und arrogante Millionärspack baute den von New Labour eingeführten zero hour contract aus: Arbeit auf Abruf ohne feste Arbeitsstunden, notfalls ohne eine einzige Arbeitsstunde in der Woche. 2013 schätzte die größte Gewerkschaft UNITE die Zahl auf 5,5 Millionen Beschäftigte unter diesem angstvollen Warte-Regime.6 Mehr als in allen anderen EU-Staaten muss hier auch am Wochenende gearbeitet werdn, 30 Prozent aller Beschäftigten sind betroffen.7 Prekarität reicht weit in das akademische Personal hinein: Befristete Verträge für Lehrer und Lehrende an den Hochschulen, die keine Elite-Universitäten sind.
Während die korrupten westlichen Leitmedien über die Seelen- und Schwangerschaftsfreuden der Royal Family berichten, berichtet weithin ungehört der UN-Sonderbeauftragte Philipp Alston: Im letzten Jahrzehnt verdoppelte sich die Zahl der Milliardäre, 14 Millionen Menschen leben in Armut, darunter Millionen Niedriglöhner auch im öffentlichen Dienst, 1,5 Millionen vegetieren als mittellos dahin. Öffentliche Bibliotheken und Jugendzentren sind geschlossen. Und der Brexit wird Niedriglöhner und Arbeitslose am härtesten treffen.8
Brexit-Kampagne: Die EU als Ersatzfeind
Die national wie international diskreditierten Kapitalisten im gesamten US-geführten Kapitalismus suchen verzweifelt nach neuen Beherrschungsmethoden und neuem Personal. Nach der Flucht von Labour beim Bergarbeiterstreik, nach den Demütigungen durch Thatchers Tories und Blairs New Labour und wieder Camerons Tories waren die beiden politischen Parteien so unbeliebt wie noch nie.
Gegen allmählich um sich greifende Kritik, gegen zunehmende Gewerkschaftsproteste und gegen den Wiederaufstieg einer nur zaghaft erneuerten Labour Party unter Jeremy Corbyn inszenierten Unternehmer, Gossenpresse und konservativ lackierte Politiker die EU als Ersatzfeind.
Wenn es in England zu Reformen, gar Enteignungen und Rück-Verstaatlichungen käme, wenn die Niedriglöhnerei bekämpft würde wie von Corbyns Labour Partei versprochen, dann wäre neben der einheimischen Elite vor allem US-Kapital betroffen. Es dominiert nicht nur in den Unternehmen, sondern auch im Finanzstandort City of London.
Transatlantische Finanziers
Die Brexit-Partei UKIP und die Kampagne Leave.EU wurden von aggressiven britischen Jungunternehmern und Bankern finanziert, darunter Richard Smith, Christopher Harborne, Jermy Hosking und Georger Farmer - alle frühere Tory-Bespender.9 Der bekannteste Sponsor der Brexit-Kampagne war Arron Banks. Der junge Multimillionär raffte in wenigen Jahren eine Finanz- und Versicherungs-Holding zusammen, zu der auch Diamanten-Bergwerke in Afrika und zahlreiche Briefkastenfirmen in der Karibik gehören. Er spendete insgesamt über 7 Millionen Pfund und öffnete seine Büros in Bristol für die Kampagne.10
Die meisten Spenden kamen von US-Stiftungen. Die heimlichen Gelder flossen über britische Think Tanks wie Institute of Economic Affairs, Policy Exchange, TaxPayers Alliance und Adam Smith Institute. Spender waren u.a. die Chase Foundation, die Templeton Foundation (Templeton = einer der großen Kapitalorganisatoren wie BlackRock) und die Rosenkranz Foundation.11
Kapitalisten-Lobby als Arbeiterfreunde
Den Brexiteers, deren Führungspersonal aus der Tory-Partei kam, gelang es, die verhaltene Wut der Gedemütigten gegen "die EU" zu lenken. Vorkämpfer Johnson gab sich nach seinem Vorbild Donald Trump als Klassenkämpfer. Auf perverse Weise entdeckten sie heuchlerisch die Arbeiterklasse, umgaben sich mit Arbeitern, besuchten Fabriken, reichten angetan mit Schutzhelm und Arbeitskleidung grinsend Arbeitern die Hand und versprachen neue Arbeitsplätze und neuen Wohlstand - wenn endlich die Fesseln der EU gesprengt würden.
In kolonialer Tradition hatten die Reichen besonders viele Arbeitsmigranten aus armen Regionen in das Land der hohen Arbeitslosigkeit geholt, aus Pakistan, Indien, Bangladesch, dann aus Osteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien, Litauen. Gerade in der von Oligarchen und Steuerflüchtigen aller Länder bevölkerten Hauptstadt London lässt man sich gern und billig bedienen. Aber das konnten die Reichen, ihre Politiker und Medien schnell umdrehen und gegen Ausländer hetzen, die "unseren Arbeitern" die Arbeitsplätze wegnehmen.
Heuchlerische Re-Industrialisierung à la Trump
Die Demagogen wissen: Die Zustimmung zu unserem Regime ist so brüchig wie nie. Wenn die Kritik in die richtigen Bahnen umschlägt, sind wir weg. Deshalb agieren Johnson & Co als die nur notdürftig verkleideten Vertreter der kapitalistischen Klasse und als die radikalisierte Neuauflage von Thatcher. Die Gossenpresse des Multimilliardärs Murdoch (The Sun...), die gegen Schwule und Linke hetzt, ist eine wichtige Bastion. Johnson & Co wollen deshalb, was der Blatcherism und zuletzt Cameron nicht geschafft haben: Den mit noch Resten der Liberalität dahinsiechenden Staatssender BBC abschalten oder privatisieren. Johnson hat allen Ministern verboten, dem netten BBC Interviews zu geben: Wieviel Angst muss man da haben!
Für das mit den USA erhoffte Freihandelsabkommen haben US-Investoren schon ihre Bedingung - und damit auch ihre alten Wünsche - angemeldet: Auch das vom Blatcherism immer noch nicht ganz privatisierte Gesundheitswesen endlich verkaufen! Allerdings nur die lukrativen Teile! So kann Johnson dem Publikum vorlügen, er wollte "die NHS" nicht privatisieren.12
Selbst das EU-Arbeitsrecht zu arbeiterfreundlich
Die alten gewachsenen Beziehungen mit den Commonwealth-Staaten wie Kanada und Australien sollen ausgebaut werden, vor allem mit der ehemaligen Kronkolonie Hongkong: Von dort aus soll der Zugang zu China intensiviert werden, um die Folgen von Trumps Handelskrieg auszunutzen. Wie Trump will Johnson neue Industrien aufbauen - mithilfe der ansonsten angeprangerten Todsünden, nämlich hohen staatlichen Zuschüssen, wie dies Trump etwa bei Neugründungen in den USA durch den taiwanesischen Niedriglohn-Organisators Foxconn praktiziert, der aus China abzieht.
Gleichzeitig will Johnson mit einem neuen Gewerkschaftsgesetz das Streikrecht noch weiter einschränken: Urabstimmungen im Betrieb sollen verboten werden. Selbst die meisten EU-Richtlinien und deren niedrige Standards zum Bereich Arbeit gingen den Tories schon immer zu weit, etwa zu Pausenzeiten, Jahresurlaub, Elternzeit, Leiharbeit, Mutterschaftsurlaub.13 Die radikalisierten "Konservativen" wollen etwas ähnliches wie die polnischen Regierungspopulisten: Erst die Linken vernichten, dann den besonders Braven unter den Verarmten ein paar Wohltaten gewähren. Nach dem Brexit versprach Johnson: Wir erhöhen den Mindestlohn um 53 Cent!
Corbyns lascher Sozialdemokratismus
Gegen die tiefe Erniedrigung der abhängig Beschäftigten kam die kurzzeitige und zugleich lasche sozialdemokratische Erneuerung unter Corbyn nicht an. In der Hochzeit der Brexit-Auseinandersetzung und zur Parlamentswahl im Dezember 2019 legte die Corbyn-Mannschaft das "Labour Party Manifesto 2019" vor. Da werden zwar brav alle sozialen Ungleichheiten bei Löhnen, Renten, Mieten, Gesundheitsversorgung, Internetzugang aufgezählt, und und es wird versprochen, dass die von Labour geführte Regierung das ändern würde.
Angekündigt wird das größte Investitionsprogramm der modernen Zeit für die Infrastruktur mit einer "grünen industriellen Revolution." Der englische Staat soll "fairer" werden, der sich "um alle kümmert" und "Reichtum und Macht mit allen teilt".
"Wir alle werden gewinnen." Das ist die neue Gemeinschaftlichkeit im "Postkapitalismus", wie es auch der ebenso ultraradikale wie opportunistische Globalisierungskritiker und Corbyn-Berater Paul Mason vertritt.14 Da werden großflächige Rück-Verstaatlichungen versprochen - aber wie man den heute so fest wie nie an der Macht sitzenden Kapitalisten etwas wegnehmen kann, und dass man denen ordentlich weh tun muss - keine Strategie.
Kapitalismus-Kritik? Nichts davon
Da blitzt nicht in der kleinsten Andeutung der Klassenkampf auf, der hier benannt und geführt werden müsste, nicht mit, sondern gegen die "Reichen". Der Begriff Kapitalismus und Kapitalisten taucht nirgends auf, kein Konzern, keine Bank, kein noch so aggressiver Investor wird benannt, nicht einmal die City of London wird erwähnt: Sie verschwindet hinter dem Abstraktum "die Finanzindustrie". Bekämpft und eingeschränkt sollen nicht die Unternehmenseigentümer werden, sondern lediglich die "kurzfristige Gier" der ansonsten Ungenannten.
Im Manifest wird nicht zu verstärkter, neuer Organisation der abhängig Beschäftigten, der alten und der neuen aufgerufen. Nein. "Nur wenn wir zurück zur alten Stärke finden", werde man in der "stolzen Tradition der historischen Gewerkschaftsbewegung wieder vorankommen": Reine, naive Nostalgie. Die Jahrzehnte der Anpassung und die Demütigung der abhängig Beschäftigten durch New Labour" ausblendet.
Entsprechend lasch fielen die Vorschläge für die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte aus. Der Mindestlohn sollte auf 10 Pfund (damals 11,20 Euro) erhöht werden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sollten "Mindeststandards" etwa beim Zero Hour Contract, bei Arbeitszeiten und über "anständige Löhne" aushandeln. Diese Softsprache mit "fair" und "anständig", Lieblingsbegriffe in der EU und bei der Unternehmerlobby, setzen auf Ausgleich und nicht auf sanktionsbewehrten Rechtsanspruch.
Beschäftigte sollten "bis zu 10 Prozent" der Unternehmensaktien erwerben, ein Drittel der Mitglieder im Aufsichtsrat stellen und über die Bezahlung der Direktoren mitbestimmen dürfen. In einem Nebensatz wird erwähnt, dass die Arbeitsgesetze mit den Konventionen der ILO in Übereinstimmung gebracht werden sollen, aber ohne zu erwähnen, dass die ILO inzwischen an die westliche "Globalisierung" angepasst wurde. Und die Versöhnung mit der EU kommt auch noch dazu: Im Unterschied zu den Tories solle man doch wieder zu den EU-Arbeits-Richtlinien zurückkehren!
Kritik an der EU? An der Aufrüstung? Fehlanzeige
Und zur EU hatte das Manifest nichts zu sagen wie schon Labour während des ganzen Brexit-Konflikts. Labour schwankte inhaltslos zwischen Raus aus der EU und In der EU bleiben, ohne den prokapitalistischen Charakter der EU auch nur anzudeuten.
Und ach, fast hätten wir das Wichtigste vergessen: Bei Labour und im Manifest kein Wort zu Aufrüstung und Kriegsgefahr. Keine Erwähnung, dass England nach den USA schon jetzt den höchsten Rüstungshaushalt in der EU hat, gemessen am Bruttosozialprodukt, mit den USA immer wieder in völkerrechtswidrige Kriege zieht und aktiv mitmacht beim Aufmarsch gegen Russland.
Das war nicht die Sprache für die lange Ausgebeuteten und Entrechteten. Hunderttausende Jugendliche in ihrem ersten neuen Aufbruch machten begeistert mit in der Labour-Jugendorganisation Momentum, aber den realen Klassenkampf und dann die Niederlage konnten sie nicht verstehen.