Vorstoß für Bürgergeld-Streichung: Dauerkampagne gegen arme Menschen
Angriffe auf Bürgergeldbezieher von SPD bis AfD: Gemeint sind alle Lohnabhängigen. Warum das so ist – und was die Antwort sein sollte. Ein Kommentar.
Die "sozialen Hängematten" wurden in den letzten Tagen politisch und medial wieder eifrig bemüht. Dort sollen sich nicht etwa steuervermeidende Konzerne tummeln, sondern Bürgergeldbezieher, die nicht jede Lohnarbeit um jeden Preis annehmen wollen.
Die würden es in der sozialen Hängematte bequem machen, aus der sie unbedingt verscheucht werden müssen, wenn es nach Politikern von SPD bis AfD sowie diversen Medien geht. Der jüngste Vorstoß kam von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der harte Sanktionen für Bürgergeldbezieher fordert, die sich angeblich nicht genügend um Lohnarbeit bemühen.
Zwei Monate kein Geld für Nahrungsmittel
Um den Druck auf diese Menschen zu erhöhen, will er die vollständige Streichung der Regelsätze für Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Körperpflege, Strom und Mobilität für zwei Monate ermöglichen.
Die CSU versucht das nun zu übertreffen, indem sie eine unbefristete Streichung vorschlägt.
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Sozialchauvinismus gegen Bürgergeldbezieher – selbst drei Bier zur EM sind zu viel
Die Kampagne ist schon alt und der Vorwurf, Leistungsbezieher würden es sich auf Staatskosten gemütlich machen, hatte schon vor fast Jahrzehnten Erwerbslose um Anne Seeck animiert, eine sozialaktivistische Gruppe zu gründen, die sich "die Hängematten" nannte. Bei ihren Aktionen kamen selbige neben Liegestühlen auch schon mal zum Einsatz.
Von (Lohn)arbeit soll man leben können, ohne auch
So gingen "die Hängematten" mit Humor ein sehr ernstes Problem an. Es heißt ganz einfach, dass man von Lohnarbeit leben können muss, aber ohne auch. Was sich vielleicht zunächst paradox anhört, ist längst trauriger Alltag in Deutschland. Viele Menschen in Vollzeitjobs können von ihrer Lohnarbeit nicht mehr leben.
Deshalb gibt es so viele "Aufstocker", die neben ihrer Lohnarbeit noch Hartz IV – beziehungsweise neuerdings Bürgergeld – beziehen müssen. Daran sind nun aber keineswegs die Menschen schuld, die angeblich nicht jede Arbeit zu jeder Zeit annehmen.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Durch den verstärken Druck auf Menschen, die auf Lohnersatzleistungen angewiesen sind – und damit auf im ökonomischen Sinn arme Menschen – wird die Zahl derer wachsen, die von ihrer Lohnarbeit nicht leben können.
Preisdumping für die Ware Arbeitskraft
Profitieren wird davon nur das Kapital, weil der Preis der Ware Arbeitskraft sinkt. Das war das Ziel der Hartz-IV-Maßnahmen, das ist auch das Ziel der ständigen Angriffe auf einkommensarme Menschen, die doch nicht bereit sind, jede Arbeit anzunehmen.
Dass es dagegen so wenig wahrnehmbaren gemeinsamen Widerstand von Menschen, die noch in Lohnarbeit sind, und Erwerbslosen gibt, ist eine Folge der Spaltung, die von den Staatsapparaten bewusst verschärft wird, damit eben beide Gruppen nacheinander ihre Rechte verlieren.
Deshalb wird das Ressentiment der "ehrlichen Arbeiter" gegen die, die es sich angeblich in der Hängematte bequem gemacht haben, geschürt. Das hat vor mehr als 15 Jahren funktioniert, als der freche Erwerbslose Arno Dübel mit Hassbotschaften bombardiert wurde, weil er in einer Fernsehshow gesagt hatte, für diese schlecht bezahlte Arbeit stehe er nicht vom Sofa auf – und wenn sich so viele um Arbeit drängten, lasse er gerne andere vor.
Stolz auf Opferbereitschaft für Staatsinteressen
Das Buch, das Britta Steinwachs und Christian Baron im Verlag Edition Assemblage unter dem Titel "Faul, frech, dreist" zu dieser Hetze herausgegeben haben, ist noch immer ein wichtiges Dokument über die Wirkungsweise des Sozialchauvinismus. Nicht wenige Menschen, die selbst erwerbslos sind, haben sich davon angegriffen gefühlt, weil da einer nicht die Opfer für die Staatsinteressen bringen will, die sie selber täglich bringen.
Statt die Erkenntnis an sich heranlassen, dass diese Opferhaltung keine Lösung ist und gemeinsamer Widerstand was verändern könnte, wird dann der Hass gegen die geschürt, die praktisch zeigen, dass sich arme Menschen nicht fügen müssen. Auf dieses Ressentiment bauen alle diese staatlichen Kampagnen gegen Arme auf, auch die jüngste.
Der Schrecken des Hartz-IV-Regimes soll wieder spürbar werden
Genau das ist auch der Zweck von Heils Kampagne, die von manchen Mitgliedern seiner Partei kritisiert, dafür von CDU/CSU bis AfD gelobt und teilweise gesteigert wird.
Der SPD-Minister will damit offen deutlich machen, dass das Hartz-Regime unter dem Namen Bürgergeld weiter besteht und so viel Angst auslösen soll, dass die Bereitschaft, Arbeit um jeden Preis anzunehmen, noch weiter steigt. Das war der Zweck des Hartz-IV-Regimes. In der letzten Zeit wurde der Eindruck vermittelt, manche Sanktionsmechanismen würden entschärft.
Doch das war ein Missverständnis. Das wird vor allem durch die falsche Auslegung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Kürzungen von Hartz IV aus dem Jahr 2019 gefördert. Das wurde oft so interpretiert, als könnten allerhöchstens 30 Prozent vom Bürgergeld gekürzt werden, weil sonst das absolute Minimum zum Lebensunterhalt nicht mehr gewährleistet sei.
Urteil erlaubt harte Sanktionen, bis sie ihren Zweck erfüllt haben
Was oft vergessen wird. Das Urteil lässt auch weitreichendere Kürzungen durchaus zu, wie der für juristische Fragen zuständige taz-Journalist Christian Rath klarstellte:
Ist Heils Plan also verfassungswidrig? Nein, denn bei einer Art der Pflichtverletzung ist laut Bundesverfassungsgericht eine Totalstreichung des Regelsatzes als Sanktion möglich: Wenn die "Aufnahme einer angebotenen zumutbaren Arbeit" abgelehnt wird. Denn damit habe es der Leistungsberechtigte in der Hand, seine menschenwürdige Existenz selbst zu sichern.
Christian Rath, taz
Das Bundesverfassungsgericht betonte denn auch, die Streichungen müssten sofort aufgehoben werden, wenn der Betroffene bereit ist, einen Job anzunehmen – wenn die Sanktionen also ihren Zweck erfüllt haben. Das bedeutet auch, dass von der Justiz keine Unterstützung zu erwarten ist, wenn man gegen den aktuellen Angriff auf einkommensarme Menschen vorgehen will.
Dabei sollte man sich lieber an den Protesten orientierten, die im Sommer 2004, also vor bald 20 Jahren, von Magdeburg aus erst in ganz Ostdeutschland und dann auch in der ganzen Republik für große Diskussionen sorgte.
Das deutsche Sanktionsregime hat lebensgefährliche Folgen
Dabei sollte nicht nur gegen weitere Verschärfungen des Sanktionsregimes, sondern auch gegen die alltägliche Praxis in den Ämtern vorgegangen werden. In der aktuellen Wochenzeitung Freitag berichtet Helena Steinhaus von der Initiative Sanktionsfrei an einigen Beispielen über die alltäglichen Demütigungen von Bürgergeld-Bezieherinnen und -beziehern auf den Ämtern:
H. ist an HIV erkrankt, wofür es beim Bürgergeld zehn Prozent Aufschlag für gesunde, also teurere Ernährung gibt. Das wären ab Januar 56 Euro im Monat. Für das kommende Jahr wird ihm dieser Mehrbedarf trotz ärztlicher Bescheinigung einfach verwehrt.
Sanktionsfrei lehnt Widerspruch ein und springt auch finanziell solange ein, bis der Fall geklärt ist. Das kann Monate dauern, wenn H. Glück hat, manchmal auch Jahre. Denn für einen Eilantrag ist die Sache nicht existenzgefährdend genug.
Helena Steinhaus, Wochenzeitung Freitag
Dabei handelt es sich nicht um ein Einzelbeispiel eines rachsüchtigen Bearbeiters. Es gibt viele solcher Fälle:
F. hat drei Kinder, sie ist alleinerziehend. Ihr Bürgergeld wird zum 1. Dezember komplett eingestellt. Der Grund? Sie hat aus einem Heizkosten-Guthaben laufende Kosten gezahlt. Sie hätte das Guthaben beim Jobcenter melden müssen, worauf es ihr vom Regelsatz abgezogen worden wäre.
"Ich weiß nicht, wie ich Strom, Miete, Weihnachten unter einen Hut kriegen soll", sagt F. Vorläufige Leistungseinstellungen sind besonders perfide. Selbst wer schnell reagiert, steht erstmal vor dem Nichts. Das ist übrigens eine so genannte "Ermessensentscheidung". Die Person hinterm Schreibtisch könnte auch anders handeln, die Gesetze wären flexibel. Sanktionsfrei unterstützt finanziell und juristisch.
Helena Steinhaus, Wochenzeitung Freitag
Krieg nach innen, Krieg nach außen
Es wäre also eine neue Kampagne nötig, die sich der langfristigen Aufgabe stellt, das Sanktionsregime zu Fall zu bringen. Mit diesem Selbstbewusstsein, könnte man auch Bündnispartner gewinnen. Dabei sollte man auch den Zusammenhang mit der massiven Militarisierung Deutschlands herstellen.
Ein Land, das nach den Erklärungen von Bundesverteidigungsministers wieder kriegsfähig werden will und sich seine Einflusszone in der Ukraine etwas kosten lässt, bezweckt mit den Krieg gegen die Armen zweierlei: Mehr Gelder fließen in die Rüstung, die Rüstungskonzerne steigern ihre Gewinne, aber die Armen müssen den Gürtel enger schnallen.
Entrechtung und Militarisierung gehen Hand in Hand
Diese kapitalistische Gesetzmäßigkeit wird hier wieder einmal unter Beweis gestellt. Zudem geht es auch die Zurichtung des Subjekts zur Kriegsfähigkeit. Menschen geben eher das Kanonenfutter in künftigen Kriegen, wenn sie schon vorher entrechtet wurden und sich nicht gegen die staatlichen Eingriffe gewehrt haben.
Umgekehrt gilt: Mit Menschen, die solidarisch für ihre Rechte eintreten, ist schwerer Krieg zu führen. Es wäre daher notwendig, eine Kampagne gegen Krieg nach innen und nach außen zu beginnen. Denn die Angriffe auf die Bürgerbezieher und die staatlich propagierte Kriegsfähigkeit gehören zusammen.
Der Autor hat mit Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Harald Rein das Buch "Klassenlos sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten" herausgebracht.