Vulnerable Gesellschaft: Wenn Angst die Politik bestimmt

Schützende Hände über dem Kopf und dahinter Mund mit Pflastern zugeklebt

Frauke Rostalski ist Rechtswissenschaftlerin und Philosophin. Sie kritisiert Abgabe von Freiheiten an staatliche Regulierung zur Risikovermeidung. Ein Telepolis-Interview.

Die Eskalation im russisch-ukrainischen Krieg seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 dauert inzwischen über 1.000 Tage an.

Über eine Million Tote und die Gefahr einer Ausweitung des Krieges durch weitere Raketenlieferungen der Nato an die Ukraine erhöhen den Druck auf die Bundesregierung, für einen Waffenstillstand zu wirken. In einem Appell sprechen sich 38 Menschen des öffentlichen Lebens für Friedensverhandlungen aus.

Die Rechtswissenschaftlerin und Philosophin Frauke Rostalski ist eine der Unterzeichnerinnen des Appells.

Im Telepolis-Interview spricht sie über die Bedrängnis pazifistischer Positionen, die Ausdehnung staatlicher Regulierung in Lebensbereiche, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Resilienz und darüber, warum es wichtig ist, ethische Grundlinien in politischen Debatten zu untersuchen.

▶ Sie haben den "Appell der 38: Eine Minute vor 12!" unterzeichnet. Frau Rostalski, was hat Sie dazu bewegt?

Frauke Rostalski: Ich sorge mich um eine weitere Eskalation des Krieges und darum, wie sehr unser eigenes Land darin involviert wird. Die Lieferung von Taurus-Raketen bedeutet dabei eine neue Qualität des Konflikts und unserer eigenen Beteiligung daran. Es ist nicht lange her, dass sich diejenigen rechtfertigen mussten, die sich offen für einen Krieg aussprachen. Heute geraten pazifistische Positionen in Bedrängnis. Das muss sich wieder ändern.

Die Angst vor der Verwundbarkeit und der Preis für die Sicherheit

▶ Die von Bundeskanzler Scholz – als Reaktion auf den Ukraine-Krieg – ausgerufene "Zeitenwende" bringt eine zunehmende Militarisierung und Versicherheitlichung aller gesellschaftlichen Bereiche zum Ausdruck. In Ihrem neuen Buch "Die vulnerable Gesellschaft" schildern Sie, dass in einem allgemeinen Klima der Unsicherheit und Verwundbarkeit die Bereitschaft wächst, Freiheitseinschränkungen hinzunehmen. Welche Folgen dieser Vulnerabilität machen Sie aus?

Frauke Rostalski: In meinem Buch beschreibe ich, wie sehr sich unsere Gesellschaft in eine "vulnerable" gewandelt hat. Deren Merkmale sind eine erhöhte Verletzlichkeit und damit einhergehende Risikoaversion, die in der gesteigerten Bereitschaft mündet, Eigenverantwortung abzugeben und stattdessen auf staatliche Regulierung zu setzen.

Das zeigt sich im Recht mittlerweile sehr deutlich anhand einer Vielzahl von Gesetzen, die in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zulasten individueller Freiheit staatliche Regulierung ausweiten. Insoweit liegt es auch nahe, dass sich das gewachsene Sicherheitsbedürfnis und der Wunsch, der Staat möge es schon richten, auf Risiken ausdehnt, die außerhalb der eigenen Landesgrenzen ihren Ausgang nehmen.

Jedoch muss der Schluss, dass staatliche Maßnahmen mehr Sicherheit gewährleisten, nicht immer richtig sein – ganz unabhängig davon, wie man generell dazu steht, dass individuelle Freiheit mehr und mehr zulasten staatlicher Eingriffsbefugnisse reduziert wird. Es kommt durchaus auf die Art der Maßnahme an, wie sich in Hinblick auf den Krieg in der Ukraine und den Plan, Taurus-Raketen dorthin zu liefern, zeigt.

▶ Welche Alternativen sehen Sie zu einer Gesellschaft, deren Leitgedanke die Angst um die eigene Verwundbarkeit ist?

Frauke Rostalski: Grundsätzlich halte ich es für eine gute Entwicklung, wenn sich die Mitglieder einer Gesellschaft der eigenen Verwundbarkeit ebenso wie der des Gegenübers bewusst werden. Damit geht eine höhere Sensibilität für das Leid anderer einher, was dazu führen kann, dass wir besser miteinander umgehen.

Problematisch wird es nach meinem Dafürhalten allerdings, wenn der beschriebene Reflex entsteht, aus eigener oder fremder Verletzlichkeit einen normativen Anspruch abzuleiten, der auf immer weitergehende staatliche Freiheitseingriffe zur Gewährleistung von mehr Sicherheit gerichtet ist. Das kann gute Rechtsentwicklungen nach sich ziehen, muss es aber nicht.

Vor allem dann, wenn es dazu führt, dass wir uns gegenseitig in unserer freien Rede beschneiden, sehe ich dies sehr kritisch. Insoweit läge eine Alternative zur vulnerablen Gesellschaft in einer höheren Resilienz der Bürgerinnen und Bürger, also darin, dass man sich wieder mehr zumutet an Eigenverantwortung und privater Konfliktlösung.

Nicht jedes Risiko muss vom Staat übernommen werden. Natürlich gilt das nicht für einen Krieg in Europa, es gilt aber für eine Vielzahl der Rechtsentwicklungen, die wir zum Beispiel im Strafrecht in den letzten Jahren erlebt haben.

▶ Welche Rechtsentwicklungen meinen Sie beispielsweise?

Frauke Rostalski: Ich denke dabei beispielsweise an die Ausweitung der Beleidigungsdelikte, insbesondere die Vorschrift des § 188 StGB – gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung – die, wie wir zuletzt immer häufiger sehen, regelrecht ausufernd zum Einsatz kommt, um selbst einfache Beleidigungen von Bürgern gegenüber führenden Bundespolitikern hart zu ahnden.

Ein weiteres Beispiel für die Ausweitung unserer Gesetze zum Schutz von Verletzlichkeiten sind die Vorschriften zur Ahndung des sogenannten Dead Namings – das Ansprechen des anderen mit dem Namen, den der Betreffende vor seiner Transition trug – oder der "Gehsteigbelästigung". Diskutiert wird gegenwärtig außerdem, ob das "Catcalling" künftig bestraft werden sollte.

Alle drei Fälle zeigen, wie bagatellhaftes Verhalten mehr und mehr einer gesetzlichen Regulierung unterworfen wird – eine Entwicklung, die ich für einen freiheitlichen Rechtsstaat nicht unproblematisch finde.

Diskursregeln sollten auch bei Debatten über Kriege gelten

▶ Der Appell der 38 fordert: "Wir appellieren an alle politischen Akteure: Vergessen wir unsere Differenzen und handeln gemeinsam, um das Schlimmste zu verhindern!" Welche Rolle messen Sie ethischen Diskursen zur Bewältigung dieser Krise bei? Wie kann der Deutsche Ethikrat dazu beitragen?

Frauke Rostalski: Der Umgang mit einem Krieg in Europa, der von Anfang an und auch fortwährend nationale Interessen berührt und Risiken für uns birgt, ist eine Herausforderung, die unbedingt der offenen gesellschaftlichen Debatte bedarf.

Leider haben wir von Beginn des Krieges an eine insoweit wenig förderliche Gesprächskultur erlebt, in der zum Beispiel Kritikerinnen und Kritiker der Lieferungen schwerer Waffen massiv persönlich angegriffen wurden, ohne dass deren Sachargumente eine angemessene Würdigung erfahren haben. Dabei ist es gerade der offene Diskurs, der die Stärke der Demokratie ist.

Es erweist sich als gefährlich, hierauf zu verzichten, indem Diskursbeschränkungen Einkehr halten.

Der Deutsche Ethikrat hat sich vor ungefähr einem Jahr mit dem Thema der Debattenkultur in Deutschland befasst, wenngleich lediglich im Zusammenhang mit einem der anderen großen Kulturkämpfe unserer Tage: der Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Die Erkenntnisse dazu, welche Diskursregeln gelten und gewahrt werden sollten, lassen sich aber auf die Debatte über den Krieg in der Ukraine übertragen. Letzterem hat sich der Deutsche Ethikrat als Thema nicht angenommen, was ich bedauere. Der Debatte hätte es gut getan, die ethischen Grundlinien, anhand derer Entscheidungen verlaufen können, zu analysieren und näher darzulegen.

Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Medizinstrafrecht an der Universität zu Köln. Ferner ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrates. Ihr neues Buch "Die vulnerable Gesellschaft" erschien im September 2024 bei C.H. Beck.