WDR sieht kein Problem in unverpixeltem Sylt-Video
Persönlichkeitsrechte müssen zurückstehen, wenn öffentliches Interesse groß ist. Täter sind für ihr Handeln verantwortlich. Anmerkungen zu einer erfolglosen Programmbeschwerde.
Als sich nach Pfingsten 2024 die Öffentlichkeit mit einer Party auf Sylt beschäftigte, wurde auch das für den Skandal ursächliche Video in zahlreichen Medien verbreitet, welches zuvor in Sozialen Netzwerken kursierte.
Auch der WDR brachte es in seiner Nachrichtensendung "Aktuelle Stunde" am 25. Mai 2024 und band einen Auszug auch in die Online-Berichterstattung ein.
Die Besonderheit dabei: Die Personen, die "Deutschland den Deutschen, Ausländern raus" sangen, wurde nicht unkenntlich gemacht. Am Ende des Fernsehbeitrags wurde darauf explizit hingewiesen. Und auch im Web erschien eine redaktionelle Anmerkung dazu:
Der WDR hat sich entschieden, die Personen in dem Video nicht unkenntlich zu machen, da es sich um ein zeitgeschichtliches Ereignis handelt und dies stärker wiegt als die Interessen der gezeigten Personen.
Außerdem haben sie sich selbst in eine zumindest halb-öffentliche Lage gebracht und mussten damit rechnen, dass diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen.
WDR.de, Fassung vom 25. Mai 2024
Mehr als zwei Wochen blieb das so. Dann entschied sich die Redaktion, die Personen doch zu verpixeln, ergänzte die ursprüngliche Begründung der Berechtigung einer identifizierenden Berichterstattung, befand aber:
Aufgrund der abnehmenden Aktualität haben wir entschieden, die Personen auf dem Video nachträglich unkenntlich zu machen.
WDR.de, Fassung vom 18. Juni 2024
In der Öffentlichkeit wurde die Verbreitung des Sylt-Videos und entsprechender Fotos daraus von Anfang an heftig diskutiert. Juristen wurden befragt, wie der Vorgang einzuschätzen sei – sie kamen zu verschiedenen Ergebnissen.
Selbst der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) bekundete Zweifel – machte diese allerdings nur an einem einzelnen Medium fest, der vom Presserat oft gerügten Bild.
Die Bild-Zeitung hat bei der Berichterstattung über das geschmacklose Sylt-Video möglicherweise gegen den Pressekodex verstoßen. Und eventuell auch gegen das Strafrecht.
DJV auf X
Auf die Kritik, hier werde mit zweierlei Maß gemessen, ging der DJV nicht ein. Zwar ist der Presserat nicht für Rundfunkanbieter zuständig, allerdings vertritt der DJV nicht nur für Print-Journalisten und äußert sich auch sonst meist zum Journalismus allgemein – ein Wort zur WDR-Berichterstattung wäre daher sinnvoll und unter dem Gesichtspunkt der Objektivität bzw. Fairness notwendig gewesen.
In der Zwischenzeit wurden auch Gerichte mit den Veröffentlichungen befasst. Bereits am 12. Juni erließ das Landgericht München I auf Antrag einer abgebildeten Person eine einstweilige Verfügung gegen die Bild. Dabei verwies das Gericht auf die Antragsschrift, zu der die Rechtsanwältin Patricia Cronemeyer gegenüber LTO ausführte:
Die mit dieser Art der Berichterstattung verbundene Stigmatisierung und Prangerwirkung mit der Folge sehr konkreter sozialer Ausgrenzung geht – darin folgt uns das Gericht – bei aller berechtigter Kritik zu weit.
Patricia Cronemeyer
Ein anderer Kläger hatte hingegen keinen Erfolg und zog Mitte September seine dagegen gerichtete Beschwerde zurück.
Vor allem wegen der Uneinheitlichkeit, mit der Sender wie der WDR mal Persönlichkeitsrechte hoch halten, mal für obsolet halten, reichte der Autor Programmbeschwerde ein. Mit deren Ablehnung war zu rechnen, doch die Begründung wirft einige grundsätzliche Fragen auf.
Intendant Tom Buhrow schöpfte seine zweimonatige Frist zur Beantwortung (§ 10 WDR-Gesetz) fast aus.
Auch nach eingehender Prüfung Ihrer Beschwerde auf Grundlage einer Stellungnahme der Redaktion der Sendung und Heranziehung weiterer Stellen im Haus kann ich hier allerdings keine Verletzung von Programmgrundsätzen erkennen. Deshalb helfe ich Ihrer Beschwerde nicht ab.
Tom Buhrow, WDR-Intendant
Zwar sieht Buhrow (bzw. tatsächlich wohl seine Rechtsabteilung) einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Abgebildeten. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, und weil "somit im Ergebnis kein Rechtsverstoß vorliegt", könne er der Beschwerde nicht abhelfen.
Es handele sich um ein Dokument der Zeitgeschichte, worunter auch alles falle, was "für die Meinungsbildung der Allgemeinheit von Bedeutung" sei. Deshalb sei es unerheblich, wenn keine Straftat vorliege.
An dem Video bestand zum Zeitpunkt der Berichterstattung ein erhebliches öffentliches Interesse. Es hat den öffentlichen Diskurs zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestimmt. (...)
Das überragende öffentliche Interesse an dem Video beruhte insbesondere darauf, dass zu sehen ist, wie in bürgerlichen Kreisen rassistische Parolen in einer Stimmung geäußert werden, welche verbreitet als von besonderer Ausgelassenheit, Leichtigkeit und Offenheit geprägt empfunden wird.
Tom Buhrow
Ohne das unverpixelte Video "hätte das Publikum keinen gleichwertigen eigenen Eindruck von dem Gesamtgefüge (Stimmung, Anlass, Alterszusammensetzung, Mimik und Gestik) gewinnen können", führt der Intendant aus.
Es sei auch nicht die Privat- oder Intimsphäre der Betroffenen, sondern nur deren Sozialsphäre berührt gewesen.
Die abgebildeten Erwachsenen waren sich bewusst, dass sie in einem in die Öffentlichkeit hineinragenden Ort rassistische Parolen äußerten und dabei deutlich sichtbar von einer Handykamera gefilmt wurden (...)
Tom Buhrow
Durch ihr Verhalten in einer zumindest halb-öffentlichen Situation haben sie sich damit selbst so exponiert, dass sie mit einem Bekanntwerden ihres Verhaltens rechnen mussten.
Auch den Vorwurf aus der Programmbeschwerde, es habe zig ähnliche Vorfälle gegeben, über die nicht identifizierend berichtet wurde, so dass hier quasi ohne Rechercheaufwand (das Video stammt schließlich nicht von Journalisten) ein Exempel statuiert wurde, weist der Intendant zurück.
Das Video hat keine Prangerwirkung im Sinne der Rechtsprechung erzielt, und seine Veröffentlichung erfolgte auch nicht in einer entsprechenden Absicht.
Tom Buhrow
Nimmt man Buhrows Ausführungen zum Maßstab für jegliche Berichterstattung, dann ist kaum ein Fall vorstellbar, bei dem Persönlichkeitsrechte einer zumindest bildlich eindeutigen Präsentation von Tätern, Beschuldigten, Angeklagten und Verurteilten entgegenstehen sollten.
Denn gerade bei (schweren) Straftaten gibt es ein berechtigtes Interesse, das "Gesamtgefüge (Stimmung, Anlass, Alterszusammensetzung, Mimik und Gestik)" einer viel diskutierten oder im Namen des Volkes abgeurteilten Tat zu verstehen.
Ob Taschendiebe, Messerstecher oder Amokläufer aus "bürgerlichen Kreisen" stammen, sollte nicht minder interessant sein, als wenn sich Menschen "rassistisch" (treffender wohl: nationalistisch) äußern.
Interessant ist aber auch noch ein weiterer Punkt: Der Intendant kann nach seinen Ausführungen einer Programmbeschwerde nur dann "abhelfen", wenn ein Rechtsverstoß vorliegt.
Das ist zum einen rein praktisch heikel, weil ein solcher nur von einem Gericht festgestellt werden kann – was regelmäßig nicht zeitnah geschehen kann. Es bedeutet aber auch, dass Kritik von Nutzern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur in diesen Fällen fruchtbar werden kann – eben bei Rechtsverstößen. Unter dieser Schwelle kann oder will der Intendant nicht handeln.
Damit liegt die Hürde für eine Programmbeschwerde weit höher als für eine Beschwerde beim Deutschen Presserat, der auf der Grundlage seines eigenen Ethik-Kodex entscheidet. Sein schärfstes Schwert ist zwar die öffentliche Rüge – aber deren (Pranger-)Wirkung dürfte sogar größer sein, als wenn ein Sender nachträglich einen Beitrag aus der Mediathek nimmt oder einen Online-Text ändert, worüber andere Medien nur in Ausnahmefällen berichten.
Rein rechtlich ist eine Programmbeschwerde nur eine Petition, eine Bittschrift. Im Zusammenhang mit dem ZDF hat das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz am 19. Juni 2019 ausgeführt:
Das verfassungsrechtlich basierte exklusive interne Programmkontrollrecht des Intendanten und des Fernsehrates wird durch das Recht der Programmbeschwerde nicht eingeschränkt (...) Mehr als eine formale Antwort darauf, wie die Kontrollgremien des Beklagten (ZDF) mit seiner Programmbeschwerde verfahren sind (...) kann der Kläger (...) daher nach alledem nicht verlangen.
OVG Rheinland-Pfalz 2 A 10749/19
In seinen Leitsätzen schreibt das Gericht entsprechend:
Mehr als dass überhaupt eine Beschäftigung mit seiner Programmbeschwerde stattfindet und ihm das Ergebnis der Überprüfung mitgeteilt wird, kann der Bürger nicht verlangen.
Da gerade viel über Reformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks diskutiert wird, sollte wohl auch über die Möglichkeiten gesprochen werden, wie die Bürger ihren Rundfunk kontrollieren können, ohne in die notwendige Redaktionsfreiheit einzugreifen. Programmbeschwerden als Petitionen sind vielleicht zu wenig.
Intendant Tom Buhrow hat auf Rückfragen zu seinen Befugnissen und Unterschieden zwischen Selbstkontrolle der Presse und Selbstkontrolle des Rundfunks nicht geantwortet. Die dann hinzugezogene Pressestelle antwortete in einer typisch zu nennenden Weise:
Tom Buhrow hat in seinem Schreiben ausführlich zu den Gründen für die Ablehnung Ihrer Programmbeschwerde Stellung genommen. Dem haben wir nichts hinzuzufügen.
Jana Ruß, WDR Kommunikation