Wann ist ein Bann gerechtfertigt?
Seite 2: Blocken, Bannen und Deplatforming ist nicht genug
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Doch diese Maßnahmen, ähnlich wie die Löschung von Accounts und Gruppen als Reaktion auf die Ausschreitungen in Washington, sind nur eine kosmetische Maßnahme. Das Grundproblem liegt darin, dass der zentrale Mechanismus, welcher der Radikalisierung und Verbreitung von Desinformation in den sozialen Medien zugrunde liegt, untrennbar mit ihrem Geschäftsmodell verbunden ist.
Sie leben von der Aufmerksamkeit, die der Anwender den Inhalten schenkt, und haben ihr Produkt darauf ausgerichtet, möglichst effektiv dessen emotionalen Trigger anzustoßen, um ihn bei der Stange zu halten.
Je mehr Inhalte er konsumiert, desto mehr Geld verdienen die Big Five über Anzeigen und mit dem Verkauf seiner Daten. Dazu verwenden Facebook et al. algorithmische Auswahlprozesse, welche die größte Stimulierung des Nutzers auslösen sollen: Angst, Empörung auf der einen Seite, und Trotz und das Gefühl der Handlungsfähigkeit angesichts komplexer Probleme auf der anderen Seite. Die Folgen sind unvermeidlich: Radikalisierung und Polarisierung.
Der Autor und Geschäftsmann Roger McNamee bringt diese Entwicklung auf den Punkt1:
Die Internetplattformen sind so groß, dass ihre Fehler die Demokratie, die öffentliche Gesundheit und die öffentliche Sicherheit [...] untergraben können. [...] Sie haben ihren eigenen Profiten und Vorrechten Vorrang vor der Demokratie, der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit der Menschen [...] eingeräumt. [...] [und] die Entwicklung eines räuberischen Ökosystems gefördert, bei dem Plattformen, Nutzer und Politiker gleichermaßen am Betrug beteiligt sind.
Es mag richtig gewesen sein, die Verbreitung des Christchurch-Videos selbst mit extremen Maßnahmen zu verhindern, um Leben zu retten. Ähnliches könnte man auch von den Blockaden der QAnon- und Maga-Anhänger in Folge der Unruhen in den USA behaupten. Doch es behebt das Problem nicht. Die sozialen Netzwerke müssten dazu ihr fundamentales Geschäftsmodell aufgeben, um die Entwicklung zu stoppen.
Die Anwender und ihre gewählten Vertreter in den Regierungen müssen ihrerseits eine Charta der digitalen Redefreiheit einfordern, welche die Rechte der Nutzer gegenüber den Netzwerken definiert.
Die Charta der digitalen Redefreiheit
Wie könnte eine Charta der digitalen Redefreiheit aussehen? Sie muss zum einen die Macht der vorherrschenden sozialen Netzwerke einschränken, zum zweiten die monolithische Bündelung von Plattform, Prüf- und Schiedsstelle bei den Anbietern aufbrechen und schließlich den Nutzer in die Lage versetzen, Wissen über die Inhalte zu erlangen, die ihm angeboten werden, und darauf Einfluss zu nehmen, welche Prozesse hierbei zur Anwendung kommen. Folgende Maßnahmen könnten dazu beitragen:
- Rechenschaft: Die sozialen Netzwerke geben sich verpflichtende Regeln zum Schutz vor Gewalt und Hass einerseits und zum Einspruch gegen unrechtmäßige Blockade andererseits. Sie unterwerfen sich einer Prüfung durch Dritte zur Klärung von Streitfragen zur Einhaltung. Sie richten effektive, anwenderfreundliche Prozesse dazu ein.
- Infrastruktur: Auch die Anbieter von technischer Infrastruktur wie Hosting, DNS-Providern oder Netzwerken verpflichten sich zu Regeln im Sinne von 1.
- Validierung: Soziale Netzwerke lassen Inhalte ab einer bestimmten Reichweite von unabhängigen Stellen prüfen. Fake News, Hass oder Gewalt werden gekennzeichnet oder gelöscht.
- Algorithmische Transparenz: Soziale Netzwerke legen jedem Anwender offen, wieso ihm bestimmte Inhalte vorgeschlagen werden.
- Empowerment: Soziale Netzwerke ermöglichen es jedem Anwender, die Verwendung von Algorithmen für Vorschläge zuzulassen, granular zu regeln oder zu unterbinden.
- Vielfalt: Der Staat garantiert den Pluralismus in den sozialen Medien und bei systemrelevanten Diensten entweder durch die Verhinderung einer marktbeherrschenden Position oder durch die Etablierung öffentlich-rechtlicher Alternativen.
- Netzneutralität: kein Element der Infrastruktur darf die Daten bestimmter Dienste, Inhalte oder Anbieter bevorzugen.
Die Umsetzung dieser Schritte sollte sowohl den Vorwürfen politisch motivierter Zensur begegnen als auch dem Grundproblem der Radikalisierung und Polarisierung. Kurzfristig kann so sichergestellt werden, dass die sozialen Medien nicht politisch instrumentiert werden, mittelfristig kann es dazu beitragen, die drohende Spaltung der Gesellschaft abzuwenden.
Ähnlich wie andere disruptiven Technologien haben die frühen Jahre der sozialen Medien rasantes Wachstum, ungeahnte Vorteile und unvorhersehbare Probleme mit sich gebracht. Es ist an der Zeit - und das Beispiel der USA zeigt, dass es sogar höchste Zeit ist - dass wir dem Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Kommunikation begegnen, den diese Veränderung mit sich bringt.