War Nietzsche links?
Der Philosoph Jan Rehmann über das studentische Milieu der 1970er-Jahre, Nietzsches Macht-Wille und Mao Tse-Tungs "Macht aus den Gewehrlӓufen"
In seinem Buch "Postmoderner Links-Nietzscheanismus" analysiert der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Jan Rehmann den Werdegang der Philosophie Friedrich Nietzsches bei sich links verstehenden postmodernen Theoretikern wie Gilles Deleuze und Michel Foucault. Telepolis sprach mit dem Autor.
Herr Rehmann, Sie schreiben, dass "der umgewertete Nietzsche" für das politisch radikale, studentische Milieu seit den Siebzigerjahren eine Art theoretische Plattform bietet, "um sich weiter aus ausweglosen linksradikalen Praxisformen zurückzuziehen, ohne das radikale Selbstverständnis aufgeben zu müssen". Der Preis dafür sei aber eine "widersprüchliche Ästhetisierung des Politischen, die sowohl nach links wie nach rechts ausschlagen kann." Können Sie das konkretisieren?
Jan Rehmann: Eine komplexe Frage. Also erst mal: worin bestand die postmoderne Umwertung Nietzsches? Nehmen wir als Beispiel Gilles Deleuzes Buch von 1962, "Nietzsche und die Philosophie", das für das postmoderne Nietzsche-Verstӓndnis grundlegend wurde. Deleuzes Umwertung besteht darin, alle elitӓren, aristokratischen, antidemokratischen Züge aus Nietzsches Philosophie zu entfernen.
Wo zum Beispiel Nietzsche sich in der "Genealogie der Moral" auf "Pathos der Distanz" der Vornehmen beruft, und dies ausdrücklich im "stӓndischen" Sinn einer angeblich ursprünglichen Aristokratie, auch die "blonde Bestie" wird hier genannt, liest Deleuze nur eine "Differenz" zwischen aktiver, lebensbejahender Kraft und einem verneinenden Willen. Nietzsche verstand den "Willen zur Macht" im Sinne eines "Űberwӓltigens, Herrwerdens" über weniger Mӓchtige, und er trieb dies weiter bis zu der Vernichtungsphantasie, die Schwachen sollten zugrunde gehen und "man sollte ihnen noch dabei helfen".
"Nietzsche wird als Spinoza verkleidet"
Wie verfährt Deleuze mit diesem Sachverhalt?
Jan Rehmann: Nietzsches Wille zur Macht wird bei Deleuze weichgespült zum Prinzip der Lebensbejahung, zum Vermӧgen "affiziert zu werden", zum "Begehren". Im Zentrum der postmodernen Umwertung steht die Gleichsetzung von Nietzsches hierarchischer Herrschaftsmacht mit Spinozas ganz anders gearteter "potentia agendi", die ein kooperatives und lustvolles Handlungsvermӧgen beinhaltet, und die Spinoza als entscheidendes Kriterium für seine Ethik ansieht.
Nietzsche wird also als Spinoza verkleidet, und in dieser Verkleidung taucht er dann bei Deleuze als "nomadischer Rebell" auf, der im Unterschied zum "staatsfixierten" Marx und zum "familienfixierten" Freud die subversive Gegenkultur einer "nomadischen Kriegsmaschine" gegen die herrschende Ordnung begründet.
Hier und auch bei Foucault um 1971/72 bildet sich eine irrationale Kombination von Nietzsches Macht-Wille und Mao Tse-Tungs "Macht aus den Gewehrlӓufen" heraus, eine ӓsthetisierende Aufwertung des Gewaltsam-Kriegerischen an sich, die einen Teil des Pariser Linksradikalismus prӓgt. Manfred Frank spricht hier von einer "Neigung zum Gefӓhrlichdenken" schlechthin, die für die wirkliche Herrschaft ungefӓhrlich ist und zugleich von Links bis Rechts ausgeschlachtet werden kann.
Ich gebe ihm da recht, auch wenn Deleuze selbst natürlich nicht ins rechte Lager übergeht und am Verhӓltnis zu den "nouveaux philosophes" auch seine Freundschaft mit Foucault aufkündigen wird.
"Absteigende Linie"
Inwiefern sind bei Nietzsche Tendenzen eines bürgerlich-protestantischen Antijudaismus präsent und wo liegen Ihrer Meinung nach die Unterschiede?
Jan Rehmann: Ich behandele diese Kontinuitӓt sowie auch die Diskontinuitӓten am Beispiel des kulturprotestantischen Alttestamentlers Julius Wellhausen, dessen Bücher zur Geschichte Israels Nietzsche aufmerksam liest, sorgfӓltig exzerpiert und dann in seinen "Antichristen" einarbeitet. Wellhausen konstruiert seine Geschichte der alttestamentlichen Religion als eine absteigende Linie, die vom starken, kӧniglichen Israel unter David und Salomon über die Propheten zur "Priesterreligion" des Judaismus in und nach dem babylonischen Exil degeneriert.
Und von dieser Position eines unterworfenen, staatenlosen Volks hӓtten die Priester sowohl die rituellen Vorschriften als auch die sozialen Schutzbestimmungen wie Sabbathjahr und Jobeljahr in die Ursprünge zurückprojiziert. Damit hӓtten sie die Bibel "durch und durch judaisiert" und verfӓlscht.
Es ist hoffentlich deutlich, dass dies eine antijudaische Geschichtsschreibung darstellt, die das Verhӓltnis zu einem starken Kӧnigtum nach preuβisch-deutschem Vorbild als normativen Maβstab der Rechtglӓubigkeit ausgibt und damit die alttestamtentliche Sozialkritik aus dem Kanon entfernt.
"Nietzsche dreht die antijudaische Konstruktion weiter"
Inwiefern hat Nietzsche diese Gedanken aufgenommen?
Jan Rehmann: Diese antijudaische Konstruktion einer "Entnatürlichung" der Werte findet sich in den Aphorismen 25 und 26 des "Antichristen": zur Zeit des Kӧnigtums war Jahwe der Ausdruck eines stolzen Macht-Bewusstseins, als der Staat dann unterging, hӓtte man ihn "fahren lassen sollen", aber stattdessen hielten die Priester verbissen an ihm fest und fӓlschten die Bibel voller Ressentiment um. Bis dahin hat Nietzsche den normalen bürgerlich-protestantischen Antijudaismus übernommen.
Aber dann trennen sich natürlich die Wege: wӓhrend bei Wellhausen das Neue Testament den jüdischen Messias "vernichtet" und durch einen ganz anderen "christlichen" Messianismus überwindet, dreht Nietzsche die antijudaische Konstruktion weiter und wendet sie auf das Christentum an. Im Aphorismus 27 unterscheidet er zwischen der "jüdischen Realitӓt" und einem "jüdischen Instinkt" und führt aus, dass die frühen Christen gerade diesen "jüdischen Instinkt" weiterführen, der sich sogar noch gegen die "jüdische Realitӓt" der priesterlichen Autoritӓt wenden muss.
"Jüdisch" bedeutet nun, dass die Christen und v.a. ihr "genialer" Ressentiment-Intellektueller Paulus die "Tschandala", die ausgestoβenen und am meisten ausgebeuteten Klassen gegen die priviligierten Klassen aufhetzen, und diesen "jüdischen Instinkt" wird Nietzsche dann bis in seine Gegenwart verfolgen und an der modernen Demokratie und am Sozialismus festmachen.
Daraus haben einige Forscher den Schluss gezogen, Nietzsches relativ positive Beurteilung der "jüdischen Realitӓt" und der Priesterschaft als "Pfahlbau des jüdischen Volkes" sei als subversive Polemik gegen den Antisemitismus zu verstehen, der sich aus dem christlichen Antijudaismus heraus entwickelt hat.
"Antisemitismus wird in den Dienst eines rigorosen Klassismus gestellt"
Was bedeutet das Ihrer Meinung für die Debatten um Nietzsches Antisemitismus oder Anti-Antisemitismus? In der heutigen philosophischen Debatte scheint sich durchgesetzt zu haben, dass Karl Marx ein wütender, jüdischer Antisemit gewesen sei, während Nietzsche als radikaler Anti-Antisemit gilt. Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Jan Rehmann: Das halte ich für vӧllig unhaltbar. Bleiben wir aber erst mal beim spӓten Nietzsche, der im "Antichristen" schreibt, man wolle doch weder etwas mit den frühen Christen noch mit den polnischen Juden zu tun haben, denn "sie riechen beide nicht gut". Soll das etwa nicht antisemitisch sein, nur weil Nietzsche die judenfeindlichen Stereotype hier "nur" gegen die armen Ostjuden wendet? Freilich muss man versuchen, Nietzsches Antisemitismus genauer zu bestimmen und hinsichtlich der verschiedenen Phasen zu differenzieren.
Dass der frühe, noch wagnerianische Nietzsche antisemitisch war, ist unbestritten. Komplizierter wird es beim "mittleren", sog. "ideologiekritischen" Nietzsche, der mit dem jüdischen Intellektuellen Paul Rée befreundet war und z.B. in "Menschliches, Allzumenschliches" das mittelalterliche Judentum dafür lobt, Europa vor einer christlichen "Orientalisierung" gerettet zu haben. Allerdings bleibt auch hier das antisemitische Feindbild des "Bӧrsen-Juden" erhalten.
Im Űbergang zur spӓten, radikal aristokratischen Periode, also ab ca. 1882, seit der Vorbereitungszeit zum "Zarathustra", kommt es auch hier zu einer erneuten Verschiebung: der Antisemitismus wird in den Dienst eines rigorosen "Klassismus" von oben gegen die Unteren gestellt.
Nietzsches Denunzierung des "jüdischen Instinkts", der vom Christentum weitergeführt wird und bis in die moderne Demokratie und die Pariser Commune reichen soll, richtet sich weder spezifisch gegen die jüdische "Rasse" noch die jüdische Kultur oder Religion, sondern gegen die unteren, "plebejischen" Klassen weltweit. Und so kann er auch in Jenseits von Gut und Bӧse den Vorschlag machen, die Adelsgeschlechter aus der Mark mit reichen Juden zu verheiraten, um der junkerlichen Kunst des Befehlens und Gehorchens das jüdische Genie des Geldes "hinzuzuzüchten".
Domenico Losurdo spricht hier von einer "Rassisierung der subalternen Klassen", die sich unmittelbar auf den Gegensatz zwischen "Vornehmen" und "Plebejern" bezieht. Dadurch unterscheidet sich Nietzsches aristokratisch-klassistischer Antisemitismus vom rechts-populistischen Antisemitismus des deutschen Faschismus, was natürlich nicht ausschlieβt, dass sich beide Typen von Antisemitismus auch verbünden werden.
"Marx‘ anti-antisemitische Intervention"
Und wie ist es nun um den Antisemitismus-Vorwurf gegen Marx bestellt?
Jan Rehmann: Dieser Vorwurf gründet sich ja v.a. auf seine Schrift "Zur Judenfrage", von der behauptet wird, sie identifiziere das Wesen des Judentums mit dem Egoismus und dem Schacher. Aber in Wirklichkeit spricht Marx an diesen Stellen in der Sprache seines junghegelianischen Gegners Bruno Bauer. Die Ironie dieses Vorgangs wird dadurch verdeckt, dass Marx keine distanzierenden Anführungszeichen verwendet.
In dem Eifer, den Juden Marx des Antisemitismus zu überführen, hat man übersehen, dass die ganze Schrift gegen Bauers antijudaische Zumutung gerichtet ist, die Juden müssten um ihrer politischen Emanzipation willen ihre "partikularistische" Religion aufgeben. Nein, argumentiert Marx, warum sollten sie? Der Sinn der modernen Staatsbürgerrechte ist doch gerade die Religionsfreiheit. Es handelt sich hier also eindeutig um eine anti-antisemitische Intervention. Friedrich Engels wird dann 1890 einen Brief "Űber den Antisemitismus" verӧffentlichen, in dem er diesen als rückstӓndig-reaktionӓre Bewegung kritisiert, mit der die Arbeiterbewegung nichts zu schaffen habe.
Sie kritisieren in Ihrem Buch über weite Strecken den Machtbegriff von Michel Foucault. Warum? Gibt es hier Auswirkungen für die aktuelle politische Praxis?
Jan Rehmann: Foucault hat ja seine Machttheorie in immer neuen Variationen vorgetragen: im 17./ 18. Jahrhundert werde die traditionelle "Souverӓnitӓtsmacht" durch die "Disziplinarmacht" und dann zudem durch die "Biomacht" ersetzt, und schlieβlich zentriert der spӓte Foucault seinen Machtbegriff auf die Techniken der Selbstführung und Selbstsorge.
Aber durchgӓngig lӓsst er die spezifische Konzentration der Herrschaftsmacht im Kapitalverhӓltnis und im modernen Staat unberücksichtigt, und das sogar dann, wenn der Staat und seine Armee bei der neuzeitlichen Ausbreitung der Disziplinen eine zentrale Rolle spielen. Auch die patriarchalen Geschlechterverhӓltnisse werden nicht als strukturelle Herrschaftsverhӓltnisse behandelt, die sich mit den Klassenverhӓltnissen überlagern.
Das liegt daran, dass Foucaults seinen Machtbegriff ab 1971/72 in Frontstellung zum damals in Frankreich sehr einflussreichen Marxismus eingeführt hat. Er beansprucht, eine "Mikrophysik" der Machtbeziehungen in den Blick zu nehmen, die von der marxistischen Kritik an Ausbeutung und Staatsherrschaft nicht erfasst wird. Ein solches Anliegen, die kritische Machtanalyse über das "Aneignungsparadigma" und die Staatsmacht hinaus zu erweitern, kann ja durchaus fruchtbar sein, wenn man die verschiedenen Ebenen, die "Mikrophysk" der Macht und ihre "Makrophysik" miteinander verbindet.
Aber genau das kann und will Foucault nicht. Wenn er behauptet, im Herzen der Macht sei ein kriegerisches Verhӓltnis und nicht eins der Aneignung, übersieht er, dass die kapitalistische Aneignung unbezahlter Mehrarbeit natürlich auch ein Machtverhӓltnis ist, und zwar ein spezifisch verdichtetes und strukurell verankertes. Foucaults Machtbegriff kann nicht begreifen, was Marx als "stummen Zwang der ӧkonomischen Verhӓltnisse" beschrieben hat.
Im Unterschied zum Beispiel zu Bourdieu kann er nicht denken, wie Macht sich akkumuliert und zur gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsmacht verdichtet, oder umgekehrt, wie Kapitalmacht, Staatsapparate, Patriarchat und struktureller Rassismus sich in Mikrostrukturen übersetzen, die das Alltagsleben der Menschen praktisch, ideologisch und diskursiv durchdringen.
Was sind die Gründe hierfür?
Jan Rehmann: Ich erklӓre das damit, dass er die Macht im Grunde nietzscheanisch hinter den gesellschaftlichen Vehӓltnissen verortet, statt sie konkret in ihnen aufzusuchen. Sie tritt als diffuse Triebkraft auf, die einem "Willen zur Wahrheit" -- egal zu welcher -- beziehungsweise einem Diskurs-Wuchern -- egal wohin -- zugrundeliegt. Nicos Poulantzas hat Foucaults Macht mit einer "Fresszelle" verglichen, die allen Kӓmpfen schon essenzialistisch zugrundeliegt und alle Widerstände kontaminiert.
"Die Macht steckt wie die Sünde überall"
Was hat die Einführung des nietzscheanischen Macht-Konzepts für die Linke gebracht? Gibt es hier Auswirkungen für die aktuelle politische Praxis?
Jan Rehmann: Eine Linke, die sich diesen Machtbegriff zu eigen macht, ohne seine Schwӓchen mit zu reflektieren, lӓuft Gefahr, sich in den Mikrostrukturen der Machtbeziehungen zu verzetteln und die strukturellen Achsen der Herrschaftsmacht aus den Augen zu verlieren. Die Macht wird dann zur rӓtselhaften Sache, die wie die Sünde überall steckt und gesucht wird.
Foucaults neo-nietzscheanischer Machtbegriff verstӓrkt die Tendenz, sich an Fragen der Identitӓt und der Symbolik gegeneinander aufzureiben und zu zerfleischen, wӓhrend zugleich die Kluft zwischen arm und reich, zwischen den 99 Prozent und dem einen Prozent, sich immer weiter vergrӧβert und die Ausbeutung der Natur, der Klimawandel, die Vernichtung der Biodiversiӓt trotz aller ӧkologischen Beschwӧrungen nahezu ungehindert fortschreiten.
Es ist fruchtbar, sich von Foucaults Überlegungen anregen zu lassen, aber man muss zugleich versuchen, die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Macht wieder zusammenfügen, die er in seiner polemischen Frontstellung gegen den zeitgenӧssischen Marxismus auseinandergerissen hat.
"Staatskritische Phraseologie des Neoliberalismus"
Sie schreiben, Michel Foucault habe sowohl für die Rechte als auch für den Neo-Liberalismus Affinitäten gezeigt. Worauf gründen Sie diese Hypothese? Inwiefern hängen diese Affinitäten mit seinem Nietzscheanismus zusammen?
Jan Rehmann: Nein, "rechts" hat sich Foucault allenfalls im Zusammenhang mit den "Nouveaux Philosophes" profiliert, nӓmlich als er in seiner Glucksmann-Rezension 1977 Marx als "Wahrheit" des Stalinismus denunzierte und die stalinistischen Verbrechen der "ganzen Linken" zur Last legte. Aber insgesamt gehӧrt der spӓte Foucault eher einer "deuxiėme gauche", einer sozialdemokratischen Minderheitsstrӧmung um Michel Rocard und der Gewerkshaft CFDT an. Das Interessante ist, wie er dazu beitrug, die alternativen, anti-autoritӓren und früher zum Teil linksradikalen Milieus ans ideologische Kraftfeld des Neoliberalismus anzuschlieβen.
Foucaults Verhӓltnis zum Neoliberalismus ist ja spӓtestens seit dem von Daniel Zamora und Michael Behrent herausgebenen Sammelband Foucault and Neoliberalism von 2016 ein heftig umstrittenes Thema. In der Literatur gibt es sowohl Autor:innen wie z.B. Wendy Brown, die Foucault v.a. als kritischen Analytiker des Neoliberalismus lesen, als auch solche, die ihn als Anhӓnger von Gary Beckers neoliberaler "rational choice theory" ansehen.
In meinem Buch versuche ich beides, sowohl die analytischen Stӓrken der foucaultschen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus herauszuarbeiten, als auch die Punkte zu bestimmen, wo seine Analyse in eine neoliberale Apologetik umschlӓgt. Entscheidend scheint mir, dass Foucault der staatskritischen Phraseologie des Neoliberalismus auf den Leim geht.
Er erhofft sich von ihm eine post-disziplinӓre Gouvernementalitӓt, die weniger etatistisch, weniger normierend und toleranter für alternative Lebensweisen ist. Gegen den neoliberalen Frontalangriff auf den Sozialstaat hat er nichts einzuwenden, er rechtfertigt ihn sogar als eine Art Sachzwang.
Natürlich wurden solche post-disziplinӓren Illusionen vom konservativen Autoritarismus Margaret Thatchers und Ronald Reagans, von Bill Clintons "workfare" oder auch von den Hartz-IV-Gesetzen der "rot-grünen" Bundesregierung unter Gerhard Schrӧder schnell widerlegt. Da Foucault in seinem neo-nietzscheanischen Machtbegriff die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhӓltnisse ausgeklammert hat, ist ihm entgangen, dass die neoliberale Deregulierung der Arbeitsverhӓltnisse und die damit zusammenhӓngende Prekarisierung einen neuen Disziplinierungsschub bedeuteten.
Er hat ja auch den rasanten Ausbau des Gefӓngnis- und Űberwachungssystems vor allem in den USA seit dem Ende der 1970er Jahre übersehen. In Wirklichkeit hat der Neoliberalismus einen Janus-kӧpfigen "Zentaur-Staat" hervorgebracht, um Loïc Wacquants Formulierung aufzugreifen, der den oberen Schichten eine gewisse Selbstregulierung zugesteht, wӓhrend er bei den unteren Schichten die Disziplinierung verschӓrft.
Aber mit dem real existierenden Neoliberalismus an der Macht wird sich Foucault nicht mehr auseinandersetzen, sondern wendet sich der griechischen und hellenistisch-rӧmischen Antike zu. Und auch hier vertrete ich die These, dass Foucault sich bei seiner Betonung der Technologien des Selbst von Nietzsches elitӓrer Lebenskunst-Ethik inspirieren lieβ, und dass seine individualistische Konzeption einer "Sorge für sich selbst" mit der sich gerade vollziehenden neoliberalen Umwertung der Werte sehr gut kompatibel war.
Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deuleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion, Argument Verlag: Hamburg 2004
Aktualisierte und erweiterte Neuauflage: Mangroven Verlag, Kassel 2021, ISBN 978-3-946946-17-5
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