Warum Coronapause in der Kunst, aber nicht beim Castortransport?
Die Frage, was systemrelevant ist, stellt sich in den Tagen des Lockdowns Light besonders deutlich
Es gab in den vergangenen Tagen besonders im Bereich der Kunst viele Proteste gegen die Entscheidung von Bund und Ländern, dass sie im November zumindest als Präsenzveranstaltungen nicht existieren soll. Das Bündnis Alarmstufe Rot hat verschiedene Proteste dagegen organisiert.
Unter dem Hashtag #sangundklanglos übten sich am 2. November verschiedene Künstler 20 Minuten in Schweigen. Sie reagierten auf die verordnete Kunstpause also wiederum mit Kunst.
Es ist sehr positiv, dass sich hier Betroffene wehren, ohne in das verminte Gelände zu tappen, über die Sinnhaftigkeit der Coronamaßnahmen insgesamt Aussagen zu machen. Den Künstlern geht es vielmehr um die Frage, ob sie als systemrelevant oder als Zierrat gelten, auf den man in Notzeiten verzichten kann. Schließlich muss man nicht zu den Coronamaßnahmen insgesamt Stellung nehmen, um die Frage zu stellen, warum Firmen wie Tönnies oder Amazon, wo in den letzten Monaten Beschäftigte positiv auf den Coronavirus getestet wurden, geöffnet haben, während Theater, Konzerthäuser oder Galerien schließen müssen, obwohl es keine Beweise gibt, dass sich dort Menschen angesteckt haben.
Unter dem Motto "Gemeinsam gegen die Tierindustrie" blockierten Aktivisten am Montagmorgen die Tönnies-Fabrik in Kellinghusen. Positiv ist, das dabei nicht nur um das Tierwohl, sondern auch um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten bei Tönnies ging.
Nun verweisen die Befürworter der Schließungen auf die Möglichkeit, dass sich Menschen dort auch angesteckt haben können, weil mittlerweile die Verläufe vieler Infektionsfälle nicht mehr nachvollziehbar seien. Nur besteht mit einer solchen Argumentation die Möglichkeit, das ganze Außenleben lahmzulegen. Natürlich ist auch nicht nachzuweisen, ob sich Menschen in Schulen, Kitas oder Kaufhäusern angesteckt haben.
Die Beweislast wird umgekehrt. Kunsteinrichtungen sollen jetzt schließen, nicht weil es einen Beweis gibt, dass sich dort in nennenswerter Zahl Menschen angesteckt haben oder zumindest positiv getestet worden, sondern weil nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass sich auch an diesen Orten Menschen angesteckt haben.
Grundeinkommen für Künstler keine Lösung
Die Beschäftigten, die die letzten Monate mit der Erstellung von Hygienekonzepten zugebracht haben und diese im Sommer nach den Wiedereröffnungen stolz präsentierten, sind nun besonders sauer, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht gewürdigt wurde.
Sie haben also viel Zeit und Geld aufgewendet, um Hygienekonzepte zu entwickeln, sie waren bereit, auf viele Einnahmen zu verzichten, um den Kulturbetrieb auch mit den coronabedingt niedrigeren Teilnehmerzahl am Laufen zu halten. Und dann bekommen sie gesagt, ihr habt uns umsonst angestrengt, ihr müsst doch wieder schließen.
Wenn nun eine Art Grundeinkommen für Künstler ins Gespräch gebracht wird, ist damit vielleicht die kurzfristige finanzielle Not der Betroffenen etwas gelindert. Doch es ist keine Lösung. Ein Künstler will seine Arbeit zeigen, braucht Publikum und kann nicht einfach auf die Zeit vertröstet werden, bis ein Impfstoff auf dem Markt ist. Hier stellt sich die Frage der Systemrelevanz nicht in erster Linie an die Regierung, sondern an die Gesellschaft.
Castoralarm ausgerufen
Können und wollen wir auf Kunstpräsenz verzichten, während es gleichzeitig für Castortransporte keine Coronapause gibt? Aktuell haben Anti-AKW-Gruppen wieder Castoralarm ausgerufen. Die jüngsten Castortransporte werden von den Gegnern so angekündigt:
Für die Jahre 2020 bis 2024 sind vier Castor-Transporte geplant, bei denen hochradioaktiver Atommüll von Frankreich und Großbritannien nach Deutschland verschoben werden soll, ohne dass es ein Konzept für eine langfristige Lagerung gibt und geben kann. Jeder einzelne Transport stellt ein zusätzliches Risiko durch radioaktive Verstrahlung dar.
Initiative Castor stoppen
Allerdings fehlt hier zumindest bei der Kurzbeschreibung ein wichtiges Detail. Der Atommüll stammt aus Atomkraftwerken in Deutschland und soll vertragsgemäß ab 2020 in das Ursprungsland zurück befördert werden. Auch entschiedene AKW-Gegner erklären in der Regel, dass sie nicht für den Atommüll verantwortlich sind, aber einer sicheren Lagerung im Ursprungsland nicht im Wege stehen. Schließlich soll nicht ein anderes Land auf den strahlenden Müll sitzen bleiben.
Man könnte freilich auch hier auf eine Lösung im EU-Rahmen setzen. Aber dazu müsste es auch eine bessere transnationale Kooperation der AKW-Gegner geben, die bisher nur in einigen Bereichen existiert. Es wäre aktuell nicht möglich, einen Konsens für einen zentralen Standort auf europäischer Ebene herzustellen. Wenn man also grundsätzlich nicht infrage stellt, dass der Atommüll aus deutschen AKWs zurück ins Ursprungsland soll, kann man doch fragen, warum es da anders als bei Kunst und Kultur beim Castortransport keine Coronapause gibt.
Gewerkschaft der Polizei für Verschiebung
Selbst der Aufruf der Gewerkschaft der Polizei, den Atommülltransport unter den jetzigen Bedingungen auszusetzen, fand kein Gehör.
"Die Kräfte, die wir in diesem Einsatz haben werden, werden wir dann nicht für den Infektionsschutz abstellen können", warnte GdP-Pressesprecher Jörg Radek. Er sah auch ein erhöhtes Ansteckungsrisiko der Polizisten.
Ein anderer Grund für die Verschiebung wäre, dass unter Coronabedingungen die Protestmöglichkeiten auch geringer sind. Selbst wenn, anders als im Frühjahr 2020, politische Veranstaltungen im Lockdown light möglich sind, so wird schon die Angst vor Ansteckung manche AKW-Gegner von den Protesten Abstand nehmen lassen. Dass in Zeiten, in denen Präsenzveranstaltungen bei Kultur und Kunst Pause machen müssen, ein Castortransport durchgesetzt wird, gibt auch eine Antwort auf die Frage, was in der aktuellen Gesellschaft für systemrelevant erklärt wird.
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