Warum Politiker lügen
Anmerkungen zu Angela Merkels denkwürdiger Rede an der Harvard Universität
Am vergangenen Freitag hielt Angela Merkel an der Harvard Universität eine Rede, von der Christian Zaschke von der Süddeutschen Zeitung meinte, sie habe den Rang eines "politischen Vermächtnisses" gehabt und gehöre zweifellos zu den "denkwürdigeren Reden" der Kanzlerin.
Merkwürdig nur, dass diese Rede bei der normalerweise CDU-affinen FAZ ganz anders ankam; dort sprach Edo Reents davon, dass man das intellektuelle Niveau von Merkels Äußerungen "nur niederschmetternd nennen kann" und dass es absolut keinen Sinn mache, "sich auch nur mit einem einzigen Satz inhaltlich auseinanderzusetzen". Denn, so Reents nicht ganz unzutreffend, "das meiste hat man wirklich schon tausendmal gehört und kann es längst nicht mehr".
Was also war geschehen? Das Motto "Veritas" (Wahrheit) der ältesten amerikanischen Elite-Universität aufgreifend hatte die Kanzlerin — wohl mit Blick auf Trump, ohne diesen dabei jedoch namentlich zu erwähnen — u.a. darauf hingewiesen, dass Wahrheit niemals "Lüge sein dürfe".
In einer Zeit, in der die Washington Post dem wichtigsten Politiker und "Anführer der freien Welt", wie es in den USA in verdächtig unironischer Selbstüberschätzung gerne heißt, beinahe täglich Hunderte von Lügen oder zumindest bewusst lancierten Falschaussagen attestiert, reicht offenbar der Hinweis auf scheinbar unstrittige Glaubenssätze westlicher Zivilisation — dass es eben zwischen der Lüge und der Wahrheit einen fundamentalen Unterschied gäbe, den man nicht verwischen darf — um es in die Ahnenreihe mit den großen Rednern derartiger Ereignisse zu schaffen (darunter rhetorische Schwergewichte wie Vaclav Havel, Richard von Weizsäcker, Carlos Fuentes, Aleksandr Solzhenitsyn, Helmut Schmidt oder John F. Kennedy).
Dabei ist das eigentlich Verstörende an der Rede nicht so sehr den mangelnden sprachlichen Fähigkeiten der Kanzlerin geschuldet; viel bemerkenswerter scheint mir die Naivität, mit der Angela Merkel in ihrer Rede an die Absolventen der amerikanischen Kaderschmiede, von denen einige, wie man unlängst aus dem Skandal um erkaufte Zulassungen von betuchten Studenten erfuhr, ihren Studienplatz wohl auch nur mit Hilfe von Lug und Trug ergattern konnten, an die Wahrheit als oberste Prinzip in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung appelliert. Hier lohnt — nicht zuletzt angesichts der neuerlichen Spannungen zwischen den USA und dem Iran — ein Blick in die Vergangenheit.
Geheimnistuerei, Diskretion und vorsätzliche Täuschung gehören zum Instrumentarium politischen Handelns
Als im Jahr 1971 die auszugsweise Veröffentlichung der sogenannten "Pentagon Papers" durch die New York Times die anhaltenden Täuschungsversuche der amerikanischen Regierung über die Hintergründe des Vietnam-Krieges offenlegte, setzte sich die in den USA lebende, deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt in einem bemerkenswerten Essay mit dem Titel "Lying in Politics" (Vom Lügen in der Politik) mit der daraufhin einsetzenden öffentlichen Empörung auseinander.
Ohne die Brisanz des Skandals schmälern zu wollen, erinnerte sie daran, dass Geheimnistuerei, Diskretion und vorsätzliche Täuschung seit jeher zum Instrumentarium politischen Handelns gehören. Ihre Begründung für die zunächst banale Einsicht, dass nämlich Politiker grundsätzlich lügen, zielt dabei jedoch gerade nicht auf eine historische, durch allgemeine Handlungskonventionen erklärbare, negative Verhaltensnorm. Vielmehr sieht Arendt die Ursache für dieses zweifelhafte Verhalten im Verständnis des Politikers von sich selbst begründet.
Als wesentlich Handelnder ist der homo politicus ein Möglichkeitsmensch, er lotet Optionen der Veränderung von Wirklichkeit aus und versucht, diese in seinem Sinn zu beeinflussen. Wie Arendt hervorhebt, kann er hierbei niemals völlig frei agieren. Die Vorstellung von Wirklichkeit als tabula rasa, in die sich der handelnde Mensch jeweils von Neuem einzuschreiben vermag, wäre völlig naiv. Vielmehr sieht er sich einer Wirklichkeit gegenüber gestellt, die es in seinem Sinn zu verändern und damit in gewisser Weise zu negieren gilt: Um Platz für ihr eigenes, zukünftiges Handeln zu schaffen, müssen Politiker die Dinge, wie sie früher einmal waren, notwendig verändern, zerstören und letztlich in ihrem Dasein leugnen und gänzlich verneinen.
Diese Veränderung einer bereits gesetzten, vorgegebenen Wirklichkeit ist aber nur möglich, wenn sie sich qua der Einbildungskraft von der Faktizität des aktuellen Geschehens distanzieren und die Dinge in ihrer Potentialität, also so, wie sie auch sein könnten — aber eben gerade nicht oder noch nicht sind — wahrnehmen. Anders ausgedrückt, die absichtliche Leugnung des Faktischen und die Fähigkeit, die Welt in unserem Sinn zu gestalten, sind aufs Engste miteinander verbunden.
Arendts kluge Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit von Imagination und Aktion, von Vorstellungskraft und Handlungswillen, scheint mir angesichts der in jüngster Zeit allenthalben vernehmbaren Rede von der post-faktischen Gesellschaft aufs Neue bedenkenswert. Als handlungswillige und handlungsgewillte Menschen können wir nämlich gar nicht anders als die sich uns entgegenstellende Wirklichkeit eben gerade nicht in toto, das heißt, als wesentlich unantastbare Wahrheit zu akzeptieren.
Insofern aktives Handeln immer die Veränderung des bereits Gegebenen impliziert, haftet ihm notwendig die Negation des so — und nur so — Existierenden an, ist ihm die Lüge immer schon eingeschrieben. Ohne diese trotzige Verneinung des Status quo und ohne die geistige Freiheit, sich die Welt so aber eben auch anders vorzustellen, wäre politisches Handeln, so Arendt, schlicht nicht möglich.
Folgt man der Arendts Argumentation, dann macht es wenig Sinn, mit echter oder auch nur zur Schau getragener Empörung auf die Lüge in der Politik zu reagieren. Da sie gewissermaßen die Voraussetzung jedes proaktiven, neue Maßstäbe setzenden Handelns bildet, lässt sie sich — auch unter Aufbietung noch so rigider moralischer Sanktionen — schwerlich aus dem Feld des politischen Handelns eliminieren.
Woran liegt es also, dass wir dennoch stets mit Empörung auf die Lüge in der Politik reagieren und es gut tut, wenn Politiker wie Angela Merkel an diese Empörung appellieren? Woher kommt das moralische Unbehagen an der Unwahrheit, gepaart mit der Erwartung, dass wir als öffentlich handelnde wie als private Subjekte die Wahrheit sprechen, so wahr, wie wir es mit oder ohne Hilfe Gottes eben vermögen?
Tyrannei im "Wahrheitsregime" der Moderne
Eine schlüssige Erklärung für unsere vermeintlich anthropologische Vorliebe für die Wahrheit findet sich in den späten Vorlesungen Michel Foucaults, die unter dem Titel "Die Regierung der Lebenden: Vorlesungen am Collège de France 1979-1980" auf Deutsch nachzulesen sind. Für Foucault ist das heutige Wahrheitsgebot ein Ergebnis der Säkularisation christlicher Buß- und Bekenntnispraktiken. Wer spricht, muss "wahr" sprechen, egal ob im öffentlichen Raum oder im sakralen Zwiegespräch.
Die Moderne hat die urchristliche Verpflichtung des Bußsakraments verweltlich und zur Leitidee des gesellschaftlichen Diskurses erhoben. Die Schuld der Lüge öffentlich auf sich zu nehmen, die zur Schau gestellte Reue und die Bereitschaft, Buße zu leisten, bilden nunmehr den Kern moderner Selbstvergewisserung. Dabei wird deutlich, dass die Gewissensfrage nach der Wahrhaftigkeit des eigenen Sprechens immer auch dem Zweck der individuellen Beschränkung und Selbstdisziplinierung geschuldet ist.
In dem, was Foucault als das "Wahrheitsregime" der Moderne beschreibt, steckt also eine gehörige Portion Tyrannei: wahr-sprechen war im abendländischen Kontext immer schon ein Akt der Unterwerfung unter das Primat von Gewissensprüfung und Geständnis. Denn es geht in diesem Diskurs nicht nur um das Aussprechen der Wahrheit, sondern ebenso — und vielleicht noch wichtiger — um das vollständige Bekenntnis des Subjekts zu dieser Wahrheit.
Auch wenn Foucault in den letzten Vorlesungen vor seinem Tod 1984 den radikalen "Mut zur Wahrheit" von Kynikern wie Demetrius und Diogenes als die einzig mögliche Form des Philosophierens preist, so bleibt ihm dennoch die Unmöglichkeit des Wahr-sprechens innerhalb der Grenzen von staatlicher Regulierung und Selbstdisziplinierung bewusst.
Diese Einsicht, dass dem unterdrückten Subjekt — etwa dem Insassen einer Irrenanstalt oder eines Gefängnisses — letztlich die Möglichkeit der Artikulation seiner jeweils subjektiven Wahrheit verwehrt bleibt, ist nach Foucault im Wesen der Sprache selbst begründet. Diejenigen, die von der Gewalttätigkeit der Geschichte zum Schweigen gezwungen wurden, sprachen, insofern sie überhaupt sprachen, niemals in ihrer eigenen Sprache. Man hat ihnen, wie Foucault in vielen seiner bekannten Schriften ausführt, eine fremde Sprache und eine fremde Begrifflichkeit aufgezwungen. Ihr vermeintliches Sprechen war somit immer schon Ausdruck und Resultat ihrer Unterwerfung unter die Diskursmacht der Herrschenden.
Für den Einzelnen, wie Foucault 1971 in einer berühmt gewordenen, vom holländischen Fernsehen übertragenen öffentlichen Diskussion mit dem amerikanischen Linguisten Noam Chomsky betont, gibt es in einem auf diskursiver Vorherrschaft angelegten System keine Möglichkeit, Normen und Positionen jenseits des dominanten Diskurses zu artikulieren oder auch nur zu denken. Mit anderen Worten, nicht die Verneinung eines vermeintlich objektiven Sachverhalts konstituiert die Lüge, es ist vielmehr das Festhalten am Primat des Wahr-sprechens selbst, das uns zu Leugnern der jeweils subjektiven Wahrheit des entrechteten Subjekts an den Rändern des Diskurses macht.
Mancher Wahrheit kann man sich eben nur durch die Lüge nähern
Um noch einmal auf Angela Merkels denkwürdige Rede an der Harvard Universität zurückzukommen: Nicht nur greift der Vorsatz, dass "Wahrheit niemals Lüge sein dürfe", angesichts der realen sprachlichen und diskursiven Machtverhältnisse auf dieser Welt zu kurz; er erscheint auch — man denke nur an die Wahrheit der Literatur und Kunst, die ja bekanntlich auf Fiktion und Trugbildern basiert — schlicht als falsch.
Mancher Wahrheit kann man sich eben nur durch die Lüge nähern — auch dies eine Binsenwahrheit abendländischer Kultur, an die uns nicht nur Shakespeare und Nietzsche erinnern. Und auch die Lügen Trumps sagen tausendfach mehr über die Wahrheit einer außer Rand und Band geratenen Weltwirtschaftsordnung aus, als dies das Festhalten an der sprachlichen Etikette und den formelhaften, scheinbaren Wahrheiten der Politik jemals vermocht hätte.