Warum der Rammstein-Skandal schon jetzt ein Medien-Skandal ist

Rammstein, 2010. Bild: jonanamary, CC BY-NC 2.0

Gericht verbietet dem "Spiegel" Aussagen über Till Lindemann. Eine Linke verbreitet mutmaßliche rechte Fakenews. Szenen eines politischen und medialen Kontrollverlustes. Ein Telepolis-Leitartikel.

Tampere, Wien, Chórzow, Brüssel – die Liste der aktuellen Tourdaten der Rockband Rammstein ist so lang wie die Skandalberichte über sie. Mit einem wichtigen Unterschied: Alle Konzerte sind ungebrochen erfolgreich – einige der Artikel drohen derweil zum medienethischen Desaster zu verkommen.

Man kann also konstatieren – und das hat sich allen Unkenrufen zum Trotz schon früh abgezeichnet: Der Rammstein-Skandal 2023 ist bereits jetzt in gleichem Maße ein Medienskandal.

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Auch Telepolis hat dem Thema seit Beginn der Affäre Anfang Juni mehrere Texte gewidmet. Wir haben die Berichterstattung ebenso hinterfragt wie das Verhalten der Band und das Frauenbild einiger Rammstein-Akteure. Die Autoren waren Journalisten, Künstler und Feministen, Kulturwissenschaftler, Juristen; Frauen und Männer.

Wir waren und sind uns nicht einig – und müssen es auch nicht sein. Denn der Blick auf den Fall Rammstein, der längst auch ein Medienfall ist, erlaubt und erfordert unterschiedliche Sichtweisen. Außer in einem Fall: Sollte den Beschuldigten sexueller Missbrauch nachgewiesen werden, und das geht, solange wir den gemeinsamen Anspruch haben, in einem Rechtsstaat zu leben, nur vor Gericht, dann gäbe es nichts mehr zu entschuldigen.

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Bis dahin aber gilt: Die Opfer haben das Recht auf ihre Version. Die Angeklagten haben das Recht, nicht vorverurteilt zu werden. Und die Medien haben die Pflicht, mit beiden Seiten verantwortungsvoll umzugehen.

Und hier wird es kompliziert. Denn die jüngste Entwicklung verstärkt das Bild einer aus dem Ruder gelaufenen Medienkampagne, die gleichermaßen auf elitärer Arroganz führender Redaktionen wie auf bizarrem politischem Aktionismus beruht. Sollte sich dieser Eindruck bestätigen - auch juristisch - wären die Folgen fatal.

Zu Recht hat der medial initiierte und inszenierte Rammstein-Skandal von Anfang an bei vielen Menschen Unbehagen ausgelöst. Es dürfte zum unternehmerischen Kalkül der meinungsführenden Redaktionen gehören, mit dieser Dissonanz zu spielen: Je krasser und aggressiver die Headlines, desto wahrscheinlicher die Zugriffe von Fans und Kritikern der erfolgreichsten deutschen Musikband.

Gut 70.000 hier, rund 250 dort – und fehlende Einordnungen

Es hat sich auch schon früh gezeigt, dass nicht jede Inszenierung und Skandalisierung, die noch auf Behauptungen weitgehend anonymer Akteure beruht, der Mehrheitsmeinung entspricht. Das muss auch nicht sein, wenn es um ethische Grundsatzfragen geht, bei denen demokratische Medien in ihrer Funktion als Kontrollinstanz auch mal Speerspitze gesellschaftlicher Werte sein müssen. Doch im Rammstein-Skandal ist das Gegenteil der Fall. Dazu später mehr.

Während die Medien mit immer neuen "Enthüllungen" aufwarten, die doch nur weitere Anschuldigungen Einzelner und damit bestenfalls Versatzstücke seriöser Recherche sind, zeigt sich im wirklichen Leben ein eindeutiges Meinungsbild; ein Plebiszit mit den Füßen, wenn man so will.

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Die jüngsten Konzerte von Rammstein fanden in den Olympiastadien von München und Berlin statt. Beide Arenen fassen gut 72.000 Zuschauer und waren ausverkauft. Eine Szene aus einem Bericht des Nachrichtenmagazins Spiegel – auch dazu gleich mehr – macht die Verhältnisse wohl ungewollt deutlich.

Es geht in dem Bericht um das jüngste Rammstein-Konzert in Berlin. 75.000 Menschen hätten auf der linksliberalen Kampagnenplattform Campact ein Verbot des Konzerts gefordert, heißt es dort, und weiter:

Weil sie nun doch stattfanden, ziehen am Samstagnachmittag rund 250 Demonstrierende von Theodor-Heuss-Platz zum Olympiastadion.

Das ist jetzt zwar für den neudeutschen Journalismus richtig gegendert, aber eine Einordnung fehlt völlig. Es geht auch anders. Während der Corona-Pandemie etwa berichtete der Spiegel von "kleinen Gruppen sogenannter Querdenker"; früher, 2015, als es um die rechtsgerichtete Pegida-Bewegung ging, sah das Nachrichtenmagazin "kleine Grüppchen von Islamfeinden".

Hier aber, beim ausverkauften Rammstein-Konzert in Berlin, fehlt eine solche offensichtliche Einordnung der Größenverhältnisse über die reine Nennung der Zahlen hinaus. Dafür werden die – da bleibe auch ich korrekt – Demonstrierenden akustisch aufgewertet: Dank ihnen "schallen Proteste über den Vorplatz des Stadions". So klingt groß, was klein war.

Wie Linke in der Kampagne gegen Rammstein rechte Fakenews verbreiten

Nicht nur dieses Schlaglicht zeigt, wie sehr sich mediale und politische Akteure verrannt haben. Als das rechtspopulistische Magazin Compact – nicht zu verwechseln mit der erwähnten linksliberalen Kampagnenplattform Campact! – behauptete, beim Berliner Konzert mit einem Kamerateam vor Ort gewesen und "jetzt auch bei der After-Show-Party dabei" zu sein, griffen das einige Rammstein-Gegner freudig auf.

Wären sie weniger verbohrt in der Sache und klarer im Kopf gewesen, hätten sie bemerken können, dass es ein bekanntes Schema der ehemaligen Links- und heutigen Rechtspopulisten um Jürgen Elsässer ist, solche Fakenews in die Welt zu setzen, um sich ins Gespräch zu bringen. (So geschehen bereits im Februar dieses Jahres, als die Noch-Linke Sahra Wagenknecht und die Publizistin Alice Schwarzer eine Demonstration zum Ukraine-Krieg in Berlin organisierten.)

Nun aber verbreitete die ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth fröhlich neurechte Berichte. Dabei hatten Branchenkenner die Darstellung von Compact angezweifelt, das Rammstein-Management nichts bestätigt und – ich bin da etwas old school – keine zweite, unabhängige Quelle die Existenz eines rechtspopulistischen Kamerateams verifiziert. Der Bericht besteht weitgehend aus Aufnahmen vom Vorplatz, der langjährige Konzertveranstalter und Telepolis-Autor Berthold Seliger hinterfragte die Darstellung. Es gibt in einem Video der rechten Postille zwar auch Aufnahmen vom Konzert, woher die stammen, ist aber nicht geklärt. Man hätte ja mal anfragen können, statt sich nur auf rechte PR zu verlassen.

Apropos Rammstein und Fakenews: Schon früh hatte Telepolis die auf Behauptungen basierende Berichterstattung hinterfragt und Passagen aus einem der ersten Berichte zum "Rammstein-Skandal" analysiert. So hatte ich in einem früheren Editorial auf Parallelen zum Fall Kachelmann hingewiesen, einem der größten Skandale der jüngeren Mediengeschichte. Damals schrieb ich:

Offenbar hat man bei NDR und SZ aus solchen Fehltritten nichts gelernt. Und wenn sich die Vorwürfe im Fall Lindemann nicht erhärten? Dann wird man sich in Hamburg und München darauf berufen, man habe ja nur über "Vorwürfe" berichtet und alles schön im Konjunktiv gehalten.

Warum die Berichterstattung über Till Lindemann so ekelig ist wie seine Pornos, Telepolis, 05.06.2023

Einige Junitage später kritisierte Telepolis-Autor Rüdiger Suchsland die große nachgekatete Titelstory des Spiegel, der angab, mit zwei Dutzend Personen gesprochen zu haben. Dazu Suchsland:

Zitiert werden im Text dann aber doch nur drei junge Frauen. Man muss den Text genau lesen, um zu bemerken, wie zunächst von "rund zwei Dutzend Frauen" und dann plötzlich nur noch von "rund einem Dutzend" die Rede ist, wie zuerst von Düsseldorf erzählt und dann mitten in der Erzählung plötzlich auf München gesprungen wird. Alles immer im Soll-Modus: dies soll passiert sein, jenes soll passiert sein.

Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen, Telepolis, 11.06.2023

Unterdessen hat die Medienrechtskanzlei Schertz Bergmann zentrale Passagen der bisher umfangreichsten Spiegel-Reportage vorläufig verbieten lassen. Vorläufig deshalb, weil die Entscheidung des Landgerichts Hamburg noch nicht rechtskräftig ist.

Lese-Tipp: Rammstein, Till Lindemann und Deutschland: Von bösen Männern und guten Mädchen

Bisweilen aber haben die Richter dem Spiegel untersagt, weiterhin den Verdacht zu erwecken, Rammstein-Frontmann Till Lindemann habe am Rande seiner Konzerte Frauen unter Drogen gesetzt oder setzen lassen, um sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen zu können. Dies war von Anfang an der heftigste und schwerwiegendste Vorwurf.

Medien haben den Vertrauensvorschuss verspielt

Nun bleibt abzuwarten, wie auch dieser Fall vor Gericht ausgeht. Doch Till Lindemann und Rammstein haben mit der Entscheidung des Hamburger Landgerichts schon jetzt mehr in der Hand als die kampagnenführenden Medien, allen voran NDR, Süddeutsche Zeitung und Spiegel.

Und allein dadurch ist der Rammstein-Skandal nach gut anderthalb Monaten und mitten in einer ungebrochen erfolgreichen Tournee dieser Band zu einem handfesten Medienskandal geworden.

Den Medienkonsumenten, der Republik, der internationalen Öffentlichkeit wurde von Anfang an ein Vertrauensvorschuss abverlangt. Man musste sich darauf verlassen, dass die beteiligten Medien die Vorwürfe ausreichend recherchiert hatten.

Dies scheint nun nicht der Fall gewesen zu sein. Sollte sich dies in letzter Instanz bestätigen, wäre der "Ramstein-Skandal" eine Katastrophe - auch für alle künftigen Opfer sexueller Gewalt, die die Medien angeblich schützen wollen. Ihnen würde noch weniger Glauben geschenkt, sie hätten es noch schwerer, ihre Vorwürfe glaubhaft zu machen, die Hürden, sexuellen Missbrauch anzuzeigen, wären noch höher.

Es scheint, dass die Medien, die sich der Kampagne angeschlossen haben, in dem Maße aggressiver werden, in dem ihr Vorgehen in Frage gestellt wird. In diesem Zusammenhang sind die Interventionen von missionarisch agierenden Akteuren wie Ditfurth problematisch zu bewerten, da sie eine Zuspitzung in der politischen Sphäre begünstigen.

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So wurden in Berlin während eines Rammstein-Konzerts zwei Personen, die sich an Kabelsträngen zu schaffen gemacht hatten, festgenommen und des Stadions verwiesen. Ein Fall von linksradikaler "direkter Aktion" gegen "sexistische Kackscheiße" mit dem Kabelschneider?

Eine Radikalisierung ist auch im medialen Raum zu beobachten. Ein Beispiel dafür lieferte unlängst ein Kommentar im Hitler-Tagebuch-Magazin Stern. Dort fragte der Kulturautor Stephan Maus: "Warum zum Teufel, mag sich jeder anständige Mensch fragen, stehen Rammstein eigentlich noch auf der Bühne?"

Das mögen sich die mutmaßlichen Kabelschneider auch gedacht haben.

Maus jedenfalls schreibt weiter: "Auf ein Rammstein-Konzert gehen ist wie AfD wählen. Das macht auch niemand aus Versehen."

Und noch eine Analogie: Hunderttausende bei Rammstein: Verbieten! AfD über 20 Prozent: Verbieten!

Dann erübrigen sich weitere Fragen.

Selbstkritik ohnehin.

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