Warum die Kinderarmut in Deutschland bald überwunden ist
Sozialpolitik als Definitionsfrage
"Die Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder ist ein zentrales politisches Anliegen der Bundesregierung", erklärte das Bundesfamilienministerium vor nunmehr vier Jahren. Mit konzertierten Maßnahmen in den Bereichen Sozial-, Bildungs-, Gesundheits-, Arbeits- und Wirtschaftspolitik sollten einerseits die Ursachen von Kinderarmut wirkungsvoll bekämpft, dann aber auch "Wege heraus aus armutsgefährdeten Lebenslagen" aufgezeigt werden.
Der Nationale Aktionsplan - Für ein Kindergerechtes Deutschland 2005-2010, dessen Ausarbeitung die Bundesregierung auf dem Weltkindergipfel der UN im Jahr 2002 zugesagt hatte, enthält zahlreiche Absichtserklärungen, die aus Sicht der Verfasser allerdings wohl einen entscheidenden Nachteil aufweisen: In etwa einem Jahr treffen die ehrgeizigen Ziele - wie schon beim kontrovers diskutierten Zwischenbericht, der eigentlich 2007 verabschiedet werden sollte, den Bundestag dann aber erst im Dezember 2008 passierte - auf die ernüchternde Realität, die sich im jüngsten "Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung abzeichnet.
Demnach sind zwölf Prozent der Kinder in Deutschland armutsgefährdet, 1,9 Millionen Kinder unter 15 Jahren erhalten staatliche Unterstützung. Dabei gibt es erhebliche regionale und kommunale Unterschiede, welche die soziale Situation mancherorts in einem Ausmaß verschärfen, welches im Wirtschaftswunderland lange Zeit schwer vorstellbar war. So beziffert das Sozialministerium von Sachsen-Anhalt die Zahl der Alleinerziehenden, die weniger als 744 Euro im Monat zur Verfügung haben, mittlerweile auf 48 Prozent. Jedes dritte Kind unter 15 Jahren lebt hier in einem "Hartz IV"-Haushalt, 20 Prozent der Bevölkerung gelten als arm oder armutsgefährdet.
Neue Begriffe und internationale Vergleiche
Um Kinderarmut wirkungsvoll und nachhaltig zu bekämpfen, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die von Experten seit Jahren gefordert oder aktuell diskutiert werden und angesichts der zuletzt geplanten oder bereits zugesagten Milliardeninvestitionen in angeschlagene Banken, Automobilunternehmen und Konjunkturprogramme allemal realisierbar erscheinen. Neben einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze vor allem für Kinder und Jugendliche bieten sich gezielte sozial- und baupolitische Maßnahmen, aber auch die Befreiung von Beiträgen - etwa für den Besuch von Kindergärten - Extraleistungen oder Zuzahlungen - beispielsweise für die Teilnahme an Ausflügen oder den Kauf von Lernmitteln - an.
Doch die Bundesregierung hat anderes vor und ganz offenbar aus dem PR-Erfolg gelernt, den ihr die Neustrukturierung der Arbeitslosenstatistik bescherte. Schließlich ist die Zahl der Erwerbslosen drastisch gesunken, seit Minijobber, Teilzeit- und Leiharbeiter oder Teilnehmer an Fortbildungsprogrammen konsequent herausgerechnet werden, unabhängig davon, ob ihre prekären Beschäftigungsverhältnisse sie halbwegs zeitnah zu einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz führen.
Im aufgeblähten Billiglohnsektor gelten neue Gesetze und Definitionsgrundlagen, und auch die Frage der Kinderarmut hängt in vielen offiziellen Verlautbarungen vom Standpunkt des Betrachters ab. Schon im "Nationalen Aktionsplan" wies die Bundesregierung darauf hin, dass mit diesem Begriff "nicht die extreme Form von Armut" gemeint ist, "die unmittelbar das Überleben gefährdet".
Der Begriff "Kinderarmut" meint im Sinne einer Armutsdefinition der EU-Kommission vielmehr: Kinder gelten als arm, wenn sie und ihre Familien über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise und damit von den Sozialisationsbedingungen ausgeschlossen sind, die in dem Land, in dem sie leben, als Minimum angesehen werden.
Nationaler Aktionsplan - Für ein Kindergerechtes Deutschland 2005-2010
In dem Mitte Dezember vorgelegten Zwischenbericht konnte dann bereits festgestellt werden, dass für die Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder "vieles erreicht" wurde. Deutschland gehöre im europäischen Vergleich zu den Ländern mit der niedrigsten Armutsrisikoquote von Kindern.
Die Armutsrisikoquote von Kindern bis 15 Jahren lag 2005 bei 12 %, einen Prozentpunkt unter dem Wert für die Gesamtbevölkerung (3. Armuts- und Reichtumsbericht). Die durchschnittliche Armutsrisikoquote von Kindern in Europa für einen alleinstehenden Erwachsenen lag bei 16 %, damit gehört Deutschland auch im europäischen Vergleich zu den Ländern mit der niedrigsten Armutsrisikoquote von Kindern.
Nationaler Aktionsplan - Für ein Kindergerechtes Deutschland 2005-2010 – Zwischenbericht
Kinderzuschlagpluswohngeldaufstocker
Obwohl die Armutsrisikoquote europaweit klar definiert ist, indem sie den Anteil an der Bevölkerung beschreibt, dessen Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens beträgt, gibt es demnach eine Vielzahl reizvoller Interpretationsspielräume.
Der Theologe, Sozialarbeiter und Schuldnerberater Martin Staiger sieht die jüngsten Gesetzreformen im Familienbereich folgerichtig als Teile einer umfassenden Strategie, um eine energische Bekämpfung der Kinderarmut mehr vorzutäuschen als tatsächlich in Angriff zu nehmen. Denn die finanziellen Umschichtungen, die damit verbunden sind und beispielsweise dazu führen, dass Geringverdiener, die ihren Lohn bislang mit Hartz-IV aufstocken konnten nun stattdessen einen höheren Kinderzuschlag erhalten, bringen für die Betroffenen keine Vorteile mit sich.
So werden aus Hartz-IV-Aufstockern Kinderzuschlag- bzw. Kinderzuschlagpluswohngeldaufstocker, von denen man dann behaupten kann, dass sie nicht mehr arm sind.
Martin Staiger
In vielen Fällen sieht Staiger sogar eine zusätzliche Belastung auf Familien zukommen, wenn Mutter und/oder Vater im Niedriglohnbereich arbeiten und auf staatliche Transferleistungen unterschiedlicher Art und Bezeichnung angewiesen sind. Schließlich könnten Hartz-IV-Empfänger Vergünstigungen in Anspruch nehmen, die Kinderzuschlagsempfängern überhaupt nicht zustehen.
Gut möglich also, dass die neuen "Kinderzuschlagpluswohngeldaufstocker", insbesondere wenn es sich um Alleinerziehende handelt, finanziell noch schlechter dastehen als zuvor, weil die geringere Zuzahlungsgrenze für Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder die Befreiung von Rundfunk- und Fernsehgebühren entfällt.
Die Gesamtsituation sei umso obskurer, als der Staat den Betroffenen mit dem Arbeitslosengeld II, Kinderzuschlag, Wohngeld, Kinderzuschlag plus Wohngeld und der Kombination aus Arbeitslosengeld II und Wohngeld inzwischen fünf Möglichkeiten zur Verfügung stelle, geringe Verdienste aufzustocken. Damit entfernt sich die Bundesregierung nicht nur von einer konsequenten Arbeitsmarktpolitik. Der Sozialstaat verstrickt sich darüber hinaus in ein bürokratisches Gewirr aus Kompetenzen und Zuständigkeiten, das allenfalls noch von wenigen Experten durchdrungen werden kann. Allein in Thüringen wurden im vergangenen Jahr bei den Sozialgerichten rund 10.000 Klagen eingereicht. Das sind nicht nur 39 Prozent mehr als im Vorjahr. Um das Streitthema Hartz IV dreht sich mittlerweile mehr als die Hälfte aller Verfahren.
Wer welche Sozialleistungskombination bekommt, hängt von der Höhe des Familieneinkommens, von seiner Verteilung auf die verschiedenen Familienmitglieder, von der Miete, vom Wohnort, ja sogar unter Umständen vom Wärmedämmungsgrad der Wohnung und von einigen weiteren Faktoren ab. Von wenigen Spezialisten abgesehen, kann damit niemand mehr verstehen, welche Konstellationen welche Sozialleistungsansprüche nach sich ziehen, und so gleicht das Ganze einer Art Sozialleistungsroulette, bei dem viele Mitspieler wie beim echten Roulette am Ende völlig blank dastehen werden.
Martin Staiger
Bitte kein Abitur!
Dass es sich bei vielen Maßnahmen, die von der Bundesregierung und vom Bundesfamilienministerium als entscheidende Fortschritte und Meilensteine auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft angepriesen werden, um kosmetische Korrekturen, mehr oder wenige geschickte Neudefinitionen und keineswegs um nachhaltige Verbesserungen handelt, zeigt eine Detailregelung des neuen Familienleistungsgesetzes, das kurz vor Weihnachten verabschiedet wurde. Demnach sollen am 1. August jeden Jahres Eltern im Hartz IV-Bezug einen Betrag von 100 Euro pro Kind und Schuljahr ausgezahlt bekommen.
Dieses sogenannte "Schulbedarfspaket" wird allerdings nur für die Klassen 1-10 gewährt und damit ganz offenbar das Gegenteil jener Bildungsgerechtigkeit angestrebt, die sich die Bundesregierung fortwährend auf die Fahnen schreibt. Dem "abgehängten Prekariat" solle der Weg zum Abitur und Studium verwehrt werden, nachdem man Kindern und Heranwachsenden schon mit der Einführung von Hartz IV vorsätzlich den Regelsatz um den ernährungsbedingten Wachstumsbedarf aberkannt habe, meinte Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland, und auch Heidi Merk, Vorsitzende des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, sieht hinter der Neuregelung eine klare (sozial-)politische Absicht.
Wenn die schulischen Hilfen für Kinder im Hartz IV-Bezug lediglich bis zur 10. Klasse gewährt werden, kann die Botschaft der Bundesregierung jawohl nur sein, dass diesen Kindern kein Abitur zusteht. Diese Regelung beizubehalten hieße, armen Kindern vorsätzlich Steine in den Weg zu werfen und sie bildungspolitisch bewusst auszugrenzen.
Heidi Merk
Merk wies allerdings darauf hin, dass selbst eine Verlängerung der Bezugsberechtigung beim "Schulbedarfspaket" keineswegs ausreiche, um den Bedarf eines Schulkindes zu decken. Nach Berechnungen ihres Verbandes sind die geltenden Regelsätze für Kinder und Jugendliche von 211 bzw. 281 Euro "dramatisch zu niedrig" bemessen. Insbesondere der Regelsatz für die Altersgruppe der 6- bis unter 14-Jährigen sei "gnadenlos unterbewertet" und liege um 86 Euro pro Monat unter dem tatsächlichen Bedarf.
Der jüngste Vorschlag von SPD-Chef Franz Müntefering, den Regelsatz von 6- bis 13-Jährigen Kindern aus Hartz IV- Familien von 211 auf 246 € zu erhöhen, wird an dieser Situation nichts wesentliches ändern, glaubt das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV. Schließlich hätten SPD und CDU den Regelsatz von Schulkindern unter 14 Jahren mit der Einführung von Hartz IV seinerzeit um 40 € im Monat gesenkt und Schulkindern unter 14 Jahren den Wachstumsbedarf vollständig aberkannt.
Caritas-Präsident Peter Neher hatte nach der Besichtigung des 7. Existenzminimumberichts der Bundesregierung ebenfalls den Eindruck, "dass die Höhe des Existenzminimums klein gerechnet wurde“. Dabei müsse doch allen Beteiligten klar sein, dass arme Kinder durch eine Anhebung des steuerlichen Existenzminimums keinen Cent mehr bekämen und Arbeitslosengeld II-Empfänger weder von einem höheren Steuerfreibetrag noch von einem höheren Kindergeld profitierten.
Zielgruppe Mittelschicht
Aber das sollen sie offenbar auch gar nicht, denn die Empfänger staatlicher Transferleistungen wie Hartz IV, Kinderzuschlag oder Wohngeld, gehören aus Sicht der Bundesregierung kaum zur entscheidenden Zielgruppe im Superwahljahr 2009.
Von den Reformen bei Kinderzuschlag und Wohngeld werden vor allem die Familien profitieren, die noch am ehesten auch ohne sozialstaatliche Hilfe über die Runden kommen würden. (...) Damit setzt sich der Trend einer neuen Ausrichtung des Sozialstaats fort. Ob bei der staatlichen Förderung der Altersvorsorge, beim Elterngeld oder jetzt beim Kinderzuschlag: Der Sozialstaat gibt immer weniger für die Ärmsten der Armen aus und konzentriert sich stattdessen immer mehr auf die Mittelschichten.
Martin Staiger
Auch die Interessenvertretungen der Betroffenen sehen in den aktuellen Regelungen den Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, der immer stärker zu Lasten der Armen und unteren Einkommensschichten geht.
Unserer Ansicht schlägt in dem gestern in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf (zum "Familienleistungsgesetz", AdR) der uralte konservative Gedanke durch: Bildung und Kultur nur für besser gestellte Schichten, hingegen frühstmögliche Verwertung der Arbeitskraft für die untere Klasse der Gesellschaft.
Martin Behrsing - Erwerbslosen Forum Deutschland
Dem Versuch, die gesellschaftliche Realität durch Aktionspläne, punktuelle Hilfsmaßnahmen und Presseerklärungen zu verschleiern, steht freilich der Umstand entgegen, dass die über Jahrzehnte relativ stabil gebliebene Mittelschicht, die Arbeitsplätze schaffen, Wohlstandsszenarien entwerfen und Wahlen entscheiden könnte, immer mehr "Mitglieder" und damit auch ihre Pufferwirkung verliert (Die Ausweitung des Niedriglohnsektors). Wenn Kinderarmut und Arbeitslosigkeit durch neue Begriffsfindungen und sozialpolitische Winkelzüge endgültig ins statistische Abseits gebracht sind, stehen die politischen Verantwortungsträger folglich gleich vor der nächsten großen Herausforderung.