Was bleibt vom Korea-Krieg?
70 Jahre Korea-Krieg: Verlauf, Hintergründe, Interpretation - Teil 3: Interpretation
Im Zweiten Weltkrieg bekämpften die USA und die Sowjetunion als Alliierte nicht nur das Deutsche Reich in Europa, sondern auch Japan in Asien. Gemeinsam befreiten Moskau und Washington Korea von japanischer Fremdherrschaft, und gemeinsam wurde vereinbart, dass sich die japanischen Einheiten im Süden der Halbinsel den Amerikanern und im Norden den Sowjetrussen ergeben sollten. Als vorläufige Grenze zwischen den beiden Sektoren wurde der 38. Breitengrad definiert. Doch als nach dem Sieg gegen die gemeinsamen Feinde Deutschland und Japan das Verbindende plötzlich wegfiel, verschlechterten sich auch die Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR zunehmend. Dies führte in Europa dazu, dass aus den vier Besatzungszonen in Deutschland schlussendlich die BRD und die DDR entstanden. Fast zeitgleich wurden auch in Korea entlang der Demarkationslinie am 38. Breitengrad zwei Staaten gegründet. Anders als in Deutschland mündete die Spaltung dort aber 1950 in einen Krieg mit Millionen Toten.
In Teil 1 ging es um den Stellvertreterkrieg in Korea, in Teil 2 um die Hintergründe, in Teil 3 nun um die Frage der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Korea-Krieg.
Traditionalismus, Revisionismus, Postrevisionismus
"Es ist nämlich bei einer Erzählung nicht zu vermeiden, daß jeder die Geschichte nach seinem Sehepunkte ansehe; und sie also auch nach demselben erzähle. Denn sie setzet einen Zuschauer voraus, und der kann ohne Sehepunkt nicht sein; und davon hanget ab, daß er die Sache auf einer gewissen Seite ansehe."1
Johann Martin Chladenius, 1752
Am Beispiel des Korea-Krieges wird deutlich, wie die Geschichtsschreibung und später die Geschichtsforschung auf ein Ereignis reagierten. Die Wahrnehmung des Krieges, seine Interpretation und insbesondere die Schuldfrage waren in den Kontext des Kalten Krieges eingebettet und veränderten sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und mit der größeren zeitlichen Distanz.
Während in den 1950er-Jahren im Kontext des McCarthyismus in den USA und Westeuropa eine antikommunistische Interpretation dominierte, der zufolge die Hauptverantwortung für den Krieg in Moskau und eine Nebenverantwortung in Beijing lagen, veränderte sich diese Sichtweise im Zuge der Anti-Vietnamkrieg-Proteste in den 1960er-Jahren und verkehrte sich nahezu ins Gegenteil. Mit zeitlicher Distanz, dem Ablauf der meist 30-jährigen Archivsperren und den daraus resultierenden neuen historischen Erkenntnissen wird der Korea-Krieg seit den 1980er-Jahren vor allem als Bürgerkrieg interpretiert, den die Großmächte als Stellvertreterkampf nutzten. Die unterschiedlichen Sichtweisen, die z. T. diametral entgegengesetzten Narrative, welche Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung hervorbrachten, werden in der Wissenschaft als Traditionalismus, Revisionismus und Postrevisionismus bezeichnet.
Zum besseren Verständnis empfiehlt sich hier ein kurzer Blick auf den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung: Die Geschichtsschreibung besteht zumindest teilweise aus Nacherzählungen, aus Berichten von ChronistInnen, Zeitzeugen, JournalistInnen, die ihre oft stark gegenwartsorientierte Darstellung in Massenmedien verbreiten. Die weit stärker quellenbasierte Geschichtsforschung hingegen versucht durch wissenschaftliche Methodik von Quellenkritik, Analyse und Kontextforschung, die Geschichtsschreibung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Dies muss durch einen umfangreichen und möglichst lückenlosen Quellenzugang erfolgen, weshalb die Geschichtsforschung in der Regel erst Jahre nach einem bestimmten Ereignis einsetzt.
Während die unmittelbare Geschichtsschreibung auch tendenziös sein kann, muss die Geschichtsforschung solche Tendenzen analysieren und hinterfragen. Ziel ist eine auf wissenschaftlicher Forschung basierende Darstellung der Geschichte, die nicht nur frei von absichtlichen Einseitigkeiten sein muss, sondern auch den eigenen Standpunkt reflektiert und der Beschreibung der Vergangenheit durch Analyse von Diskursen, Texten, Kontexten und Subtexten so nahe wie möglich kommt. Ein Grundziel formulierte der eingangs bereits zitierte deutsche Theologe und Historiker Johann Martin Chladenius schon 1752 wie folgt:
"Unparteiisch [Hervorhebung i.O.] erzählen kann daher nichts anderes heißen, als die Sache erzählen, ohne daß man das geringste darin vorsetzlich verdrehet oder verdunkelt: oder sie nach seinem besten Wissen und Gewissen erzählen: so wie hingegen eine parteiische [Hervorhebung i.O.] Erzählung nichts anderes als eine Verdrehung der Geschichte ist."2
Chladenius war sich aber auch darüber im Klaren, dass sich der Historiker durch eine solche Arbeit nicht sympathisch macht: "Leute, die neutral [Hervorhebung i. O.] sein wollen, auch nur im Denken, werden gemeiniglich auf beiden Seiten vor [für] Feinde gehalten."3
In der Geschichtswissenschaft wird die quellenbasierte erste Interpretation als Traditionalismus oder traditionelles Narrativ bezeichnet, weil sie häufig der massenmedialen Geschichtsschreibung nahesteht. Mit zeitlicher Distanz und nicht selten unter dem Eindruck veränderter gesellschaftlicher und ideologischer Verhältnisse beschäftigt sich dann eine meist jüngere Historikergeneration mit der Thematik. Gelangt diese quellengestützt auf eine andere Sichtweise, so wird dieselbe als Revisionismus oder revisionistisches Narrativ bezeichnet. Zu guter Letzt ergibt sich nach dem Ablauf der Archivsperren oft die Möglichkeit, die bisherigen, auf den zum Zeitpunkt der Forschung zugänglichen Quellenmaterialien beruhenden Analysen und Interpretationen der Historikerinnen und Historiker durch neue Quellen zu überprüfen. Bestätigt diese Forschung eher den Revisionismus (wie im Fall des Korea-Kriegs), spricht man von Postrevisionismus oder postrevisionistischem Narrativ. Möglich wäre auch ein Posttraditionalismus. Mit dieser wissenschaftlichen Vorgehensweise kann auch die Geschichtsforschung zu einer neuen, vertieften und differenzierten Geschichtsschreibung werden.
Der Begriff des Revisionismus, wie ihn US-amerikanische Historiker für den Korea-Krieg verwenden, ist linksliberal beeinflusst und ein in der Geschichtsforschung verwendeter Fachbegriff für eine dem Traditionalismus entgegengesetzte, auf Fakten beruhende Interpretation. Im Unterschied dazu ist Revisionismus in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus ein ideologisch rechts bis rechtsradikal einzuordnender Begriff, hinter dem weniger die Suche nach der Wahrheit auf Basis von Quellen denn die Relativierung der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg steht.
Im Weiteren geht es hier um die westliche Geschichtsschreibung des Korea-Kriegs und um deren unterschiedliche Interpretationsansätze. Die offizielle nordkoreanische, chinesische und sowjetische Geschichtsschreibung hat die Verantwortung für die Eskalation von vornherein den USA zugeschrieben. Eine Geschichtsforschung, welche die Rolle des eigenen Landes im Kontext von Krieg vorurteilsfrei herausarbeitet, ist in autoritären Staaten kaum und in totalitären Staatswesen nicht möglich. Insofern stellte der Kampf um die Deutungshoheit hinsichtlich des Korea-Kriegs, wie er in den USA und in Westeuropa geführt werden konnte, bereits das maximal Mögliche an Diskursfreiheit dar (unbeschadet der Tatsache, dass in den 1950er-Jahren eine Position, die dem Kommunismus Verständnis entgegenbrachte, auch in den USA sehr schwer zu halten war).
Traditionalismus
"No serious, honest scholar can ever have any question about it. North Korean Communist forces attacked the Republic of Korea without warning, with provocation and without justification."4
Dean Acheson
Das Zitat des damaligen US- Außenministers Dean Acheson steht stellvertretend für die Meinung traditionalistischer Autoren zur Schuldfrage im Korea-Krieg. Übereinstimmend wird der nordkoreanische Angriff auf Südkorea vom 25. Juni 1950 als breit angelegter Versuch der kommunistischen Welt unter sowjetischer Führung gesehen, die Ausbreitung des Weltkommunismus voranzutreiben und die freien Staaten nach und nach zu unterjochen. Unterstützt wurde diese Ansicht von der US-amerikanischen Diplomatie und durch die Aussagen führender Regierungsmitglieder vor, während und nach dem Korea-Krieg, deren gängige Meinung gegenüber der UdSSR und dem Kommunismus auf der Totalitarismus-Theorie aufbaute und durch die Festschreibung der neuen Außenpolitik ab 1946 durch Kennans "Langes Telegramm" in dieser Hinsicht noch bestärkt wurde.
Die Argumente der Traditionalisten sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Ein wichtiger Punkt ist die mit großer Überzeugung dargelegte (wenngleich nicht belegte) sowjetische Verantwortung für den Überfall auf Südkorea ("Hätte die Sowjetunion mit ihrem Versuchsvorstoß in Korea Erfolg gehabt..."5). Ein weiteres Kernelement stellt die Gleichsetzung aller kommunistischer Elemente und Staaten mit der UdSSR bzw. die Gleichsetzung ihrer politischen Interessen dar, wobei Moskau tatsächlich weltweit kommunistische und anti-amerikanisch bzw. antikolonial agierende Gruppierungen unterstützte:
"Im Jahre 1949 schlugen die chinesischen Kommunisten die Nationalchinesen [...]. Das war ein gewaltiger Sieg für die Sowjetunion." - "Allgemeiner war die Sorge, dass sich der Kommunismus in Asien nun weiter ausbreiten werde: [...] in Südkorea, wo die von den Russen ausgebildeten nordkoreanischen Kommunisten im Juni 1950 einfielen, auf den Philippinen, wo die unter kommunistischem Einfluß stehenden huks einen Kleinkrieg [...] führten...".6
Die traditionelle These geht davon aus, dass Moskau die Invasion Südkoreas sehr genau geplant habe. Revisionisten und auch Postrevisionisten interpretieren dies grundlegend anders.
Revisionismus
"Gehen wir davon aus, daß Nordkorea zuerst angriff, so stellt sich zumindest eine Frage, nämlich, warum die Kommunisten nur die Hälfte ihrer Panzer und sechs von fünfzehn Divisionen gegen Seoul einsetzten, wenn es darum gehen sollte, ganz Südkorea in einer Blitzaktion zu erobern? Ging es nicht vielmehr - zunächst jedenfalls - lediglich darum, die grenznahe Hauptstadt Seoul einzunehmen, Syngman Rhee zu vertreiben und einen allgemeinen Aufstand zu entfesseln - in der Hoffnung auf einen schnellen Sieg, ohne größere militärische Verwicklung und Eingreifen der USA?"7
Rolf Steininger
Im Kontext einer gesellschaftlichen Linkswende und insbesondere vor dem Hintergrund der Proteste gegen den Vietnam-Krieg entstand in den USA in den 1960er-Jahren ein Gegen-Narrativ, in welchem geschlussfolgert wurde, Washington hätte in imperialistischer Manier den Krieg provoziert und geführt. Regierungsnahe und konservative Stellen hielten teilweise weiterhin an der antikommunistischen Wahrnehmung fest. Das revisionistische Narrativ bestreitet zwar nicht, dass der nordkoreanische Angriff auf Südkorea vom 25. Juni 1950 eine Aggression war, es interpretiert jedoch seine Vorgeschichte, seinen Ablauf und seine Zielsetzung anders. Nun rückt der regionale Aspekt des innerkoreanischen Konflikts stärker in den Mittelpunkt: "In effect, what outsiders call the Korean War was but another chapter in their civil war."8
RevisionistInnen unterstreichen die antikommunistische Haltung US-amerikanischer Entscheidungsträger zu Zeiten des McCarthyismus (Douglas MacArthur: "I would help the devil, if he would come to this earth and offer to help fight the Communists.")9 und interpretieren die Eskalation in Korea als Folge dieser Voreingenommenheit, die einen Großeinsatz durch pessimistische und ungenaue Lagebeurteilungen geradezu provozierte und beinahe einen Atomkrieg ausgelöst hätte.
Postrevisionismus
"Who started the Korean War? This question cannot be answered. Instead, the reader is asked to consider three mosaics, each explaining how the war might have ‘started’. All three are conspiracy theories, including the established American-South Korean position: that the Soviets and North Koreans stealthily prepared a heinous, unprovoked invasion. The first mosaic is this "official story", and especially the documentary behind it. Mosaic three is the North Korean account, which precisely reverses the first position: the South launched a surprise, unprovoked invasion all along the parallel. The most absorbing, perhaps, is Mosaic Two: the South provoked the war. Then there is a set of intelligence mosaics, of report and counterreport, which meander in and out and raise the question, who knew what, when?"10
Bruce Cumings
In den 1980er-Jahren und unter dem Eindruck neuer Quellen entwickelten Historiker schließlich die bestehenden Narrative Traditionalismus und Revisionismus weiter. Da sich die revisionistische Sichtweise als zutreffender als die traditionalistische herausstellte, entstand letzten Endes kein Post-Traditionalismus, sondern ein Post-Revisionismus. Diese von Historikern verfasste Geschichtsschreibung sieht den Korea-Krieg einerseits als einen Bürgerkrieg11 und andererseits als eine Verwicklung von Ereignissen, die als Produkt des Kalten Krieges zu verstehen sind:
"So, wie er sich abspielte, hatte ihn keiner der Beteiligten gewollt, und ohne den allgemeinen Spannungszustand, in dem sich Ost und West bereits befanden, bliebe sein Verlauf völlig unverständlich."12
Anders als bei traditionellen und zum Teil auch revisionistischen Autoren werden die Hintergründe des nordkoreanischen Angriffs sowie die Entstehung des Konfliktes schon lange vor Ausbruch des Krieges untersucht.
Folgt man dem Politikwissenschaftler Wilfried Loth, so hatte Südkorea unter dem korrupten und gewaltbereiten Präsidenten Syng-man Rhee auf den Sturz der nordkoreanischen Regierung und auf eine gewaltsame Wiedervereinigung des Landes hingearbeitet. Dazu rüstete es gewaltig auf (zwischen Januar 1949 und Mai 1950 verdreifachte Südkorea seine Truppen auf 181.000 Mann) und versuchte vermehrt, amerikanische Unterstützung für die eigenen Angriffspläne zu gewinnen, was aber misslang. 13 In der Folgezeit kam es dann vermehrt zu Grenzzwischenfällen, von denen sich einer am 25. Juni ereignete - zunächst sah es jedenfalls nach einem solchen aus.
Nordkoreanische Truppen rückten "mit knapp der Hälfte ihrer Truppen und einem Viertel ihrer Panzer"14 auf Seoul vor, um (so auch die Meinung der Revisionisten) Rhee zu vertreiben und einen allgemeinen Aufstand zu provozieren. Einige Tage vorher hatte der südkoreanische Präsident den amerikanischen Oberkommandierenden in Japan, General MacArthur, aufgesucht und John Foster Dulles in Seoul empfangen. Kurzum, Nordkorea, das von der eher ablehnenden Haltung der Amerikaner nichts wissen konnte, hätte sich dadurch unmittelbar bedroht gefühlt und sich deshalb dazu entschlossen, Südkorea zuvorzukommen und die entscheidende Kraftprobe zu wagen.15
Die Rolle der Sowjetunion, die Nordkorea zur Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts mit Waffen unterstützt hatte, wird als eher zurückhaltend geschildert, da ihr an einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den USA, als deren Folge eine westliche Aufrüstung zu befürchten war,16 nicht gelegen sein konnte. Und tatsächlich ließ erst der Korea-Krieg "das NSC-68-Programm Realität werden",17 wodurch die USA ihr Kriegsbudget von 59,8 Mrd. Dollar im Jahr 1950 auf 189,2 Mrd. Dollar im Jahr 1953 erhöhten.18 Nach Kriegsende sank es zwar wieder, allerdings nur mehr leicht auf 143,4 Mrd. US-Dollar im Jahre 1955, und es sollte bis 1967 dauern, ehe die Militärausgaben aus der Zeit des Korea-Krieges übertroffen würden.19 Die Militärausgaben der Sowjetunion sind weniger gut belegt, klar ist jedoch, dass sie ebenfalls sehr hoch waren und zwischen 15 und 20 Prozent des BIP betrugen.20 Ob dieses Wettrüsten hauptverantwortlich für den späteren Kollaps der UdSSR war, ist unter Historikern umstritten.21 Einigkeit herrscht aber darin, dass der Korea-Krieg zum NSC-68-Programm führte und eine Rüstungsspirale in Gang setzte, durch welche die Welt kriegerischer, unsicherer und gefährlicher wurde.
Fazit
"Yet the poor fellows think they are safe! They think that the war - perhaps the last of all - is over! / Only the dead are safe; only the dead have seen the end of war."22
George Santayana
Der Krieg in Korea, der von 1950 bis 1953 dauerte und der bis heute nicht mit einem Friedensvertrag abgeschlossen ist, wirkt immer noch nach. Angesichts der millionenfachen Opfer und der gigantischen Zerstörung seiner Städte wird die für westliche Beobachter manchmal fast paranoid wirkende Haltung Nordkoreas etwas verständlicher. Gleichzeitig beeinflusst der damals eskalierte Konflikt zwischen China und den USA seit einigen Jahren wieder stärker die Situation in Korea. Es scheint derzeit, als ob weder Beijing noch Washington willens oder fähig seien, den eigenen Einfluss auf die Halbinsel zugunsten von mehr Selbstbestimmung der beiden Koreas einzuschränken.
Den nordkoreanischen Eliten um Machthaber Kim Jong-un dient der Dauerkonflikt mit dem Süden bzw. dessen Unterstützer USA gleichzeitig aber auch als Herrschaftsrechtfertigung, weil das gemeinsame Feindbild für mehr Geschlossenheit im Inneren sorgt. Aber auch China wäre angesichts eines (aktuell schwer vorstellbaren) wiedervereinten und womöglich neutralen Koreas weniger einflussreich in der Region als momentan, wo Pjöngjang seine Unterstützung braucht - auch wenn die Umarmung des chinesischen "Freundes" Nordkorea mitunter die Luft abzudrücken droht.
So stecken Nord- und Südkorea geopolitisch zwischen Hammer und Amboss, und jede neue Spannung zwischen Beijing und Washington verschärft die Situation in Korea.23 Zugleich eint die geopolitischen Rivalen China und USA manches, wie z. B. funktionierende internationale Regelungen im Handel, die Herausforderungen durch den Klimawandel oder auch die Verhinderung bzw. Bekämpfung globaler Pandemien.24 Insofern ist es möglich, dass der Wettstreit der beiden Weltmächte heute unterhalb einer kritischen Grenze verbleibt und statt mit militärischen Mitteln auf den Ebenen von Wirtschaft und Diplomatie geführt wird. Für die koreanische Halbinsel wäre dies besonders zu wünschen, denn ihre Sicherheit ist unmittelbar von den Beziehungen zwischen Beijing und Washington abhängig. Wenn sich diese einigen, ist auch ein Friedensvertrag möglich, durch den die beiden Koreas konstruktive nachbarschaftliche Beziehungen aufbauen könnten.