Was die Gewalt bei den G-20-Protesten verdrängt
Weit über Hunderttausend kamen zu Gegengipfel und Massenprotesten. Auch ihre Forderungen und Vorschläge fallen den Krawallen zum Opfer - Ein Gastkommentar
Während des G-20-Gipfels in Hamburg gab es umfangreiche und vielfältige Proteste. Doch in vielen Medien waren und sind nur die in Dauerschleife gesetzten Bilder einer brachialen Gewalt zu sehen, die schockiert, die aufgearbeitet und vor allem aufgeklärt werden muss. Diese Bilder lenken aber auch von dem friedlichen Protest und Engagement hunderttausender Menschen ab, der sich vier Tage lang ebenso gegen die Politik der G-20-Staaten gestellt haben wie gegen die Gewalt, die von deren Regierungen ausgeht.
Als "parlamentarische Beobachterin" konnte ich während der Proteste in der Hansestadt zahlreiche Aktivitäten und politische Diskussionen mitverfolgen. Völlig aus der medialen Berichterstattung fiel ein zweitägiger, international besetzter "Gipfel der Solidarität", der auf zwölf Podien und über 70 Workshops mit WissenschaftlerInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen aus über 20 Ländern die Kritik an der herrschenden Politik der G20 erörterte und über Alternativen und Strategien zur Durchsetzung einer solidarischen Weltordnung diskutierte. Die G20 verteidige ein System, das die soziale Ungleichheit auf die Spitze treibt.
Der stets überfüllte Kampnagel-Saal, ein ehemaliges Industriegebäude in Hamburg-Winterhude, war ein Zeichen der ernsthaften Auseinandersetzung mit den globalen Problemen von Krieg, Klimazerstörung, ausbeuterischen Handelsstrukturen oder Migration als Ausdruck der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus.
Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Ordnung
Während Bundeskanzlerin Angela Merkel den übrigen Staatschefs in Hamburg das Bekenntnis zum Freihandel abringen wollte, berichteten auf dem "Gipfel der Solidarität" Leidtragende eben dieses Freihandels aus Mexiko, Kolumbien oder Uganda über die Zerstörung regionaler Märkte, über Auswirkungen von Kohleabbau und Landvertreibungen und die Zunahme von Migration als einzige verbleibender Perspektive.
Die indische Umweltaktivistin Vandana Shiva und der ägyptische Ökonom Samir Amin, beide international bekannte Globalisierungskritiker, waren ebenfalls nach Hamburg gekommen, um für eine neue, solidarische und ökologische Zusammenarbeit zu werben, die sich gegen die multinationalen Konzerne sowie gegen die NATO und ihre imperiale Politik wendet. Samir Amin rief die KonferenzteilnehmerInnen gar zum Aufbau einer 5. Internationalen als Antwort auf die kapitalistische Globalisierung auf.
Zeitgleich hatten sich in der Hamburger Innenstadt bereits gut 10.000 Menschen zum "Anti-G20-Rave" zusammengefunden. "Lieber tanz' ich als G20" brachte am Vorabend eines Tages des zivilen Ungehorsams alle Generationen auf die Straße. Dieser folgende Tag fing für tausende meist junger G-20-Kritiker bereits um fünf Uhr morgens an. In verschiedenen Farben gekleidete Gruppen versuchten so nah wie möglich an den offiziellen Gipfel zu gelangen und Zufahrtswege gewaltfrei zu blockieren.
Über Stunden hinweg geht es im Dauerlauf durch Parkanlagen, enge Gassen und Stadtteile. Immer wieder gelingen den farblich markierten Protestteilnehmern spontane Sitzblockaden. Blau trifft grün und fragt nach, wie es rot ergangen ist. Und tatsächlich, die Protestierenden sind komplett in der Farbe der jeweiligen Gruppe eingekleidet.
Innerhalb der grünen Gruppe treffe ich Beschäftigte aus dem Pflegebereich, die zuvor in Workshops in einem der Protestcamps über die schwierigen Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte informiert hatten. "Wir sagen: Es geht um Daseinsvorsorge nicht um Profite! Wir fordern mehr Personal und Entlastung für alle Bereiche des Krankenhauses!", steht auf dem großen Transparent, das sie mitgebracht hatten.
Wenig später sitzen sie am Fuße des Messeturms auf einer breiten Straße mit aufgespannten Regenschirmen und Plastikplanen, auf die mit voller Wucht die Strahlen dreier Wasserwerfer einschlagen. "Wir sind friedlich, was seid ihr?"-Rufe gehen im Getöse der laufenden Motoren unter, während sich im Schein des Wassers ein Regenbogen über den DemonstrantInnen bildet.
Junge DemonstrantInnen nicht willkommen
Im Hafen auf Höhe der Landungsbrücken spielte sich derweil ein anderes Spektakel ab. Ein Greenpeace-Segelschiff mit überdimensionierter Trump-Figur und der Forderung "Time for Change", fuhr Richtung Elbphilharmonie. Begleitet wurde es von kleinen, wendigen Schnellbooten, die sich mit der Küstenwache ein halsbrecherisches Rennen durchs Wasser lieferten.
Gegenüber der Elbphilharmonie hatten zuvor mehrere hundert FreihandelsgegnerInnen mit einem großen Schild "Freihandel macht Flucht" die EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Afrika, die sogenannten EPAs, scharf kritisiert. Diese seien tödlich für viele afrikanische Kleinbauern, die nicht mit den hochsubventionierten Produkten Europas konkurrieren könnten. All das sind drängende Probleme, die von der Politik der G-20-Staaten verursacht werden und über die nun niemand mehr redet.
Ebenso wenig wie eben über den massenhaften und friedlichen Protest in Hamburg, der von der LINKEN unterstützt wurde. Bei der großen Abschlussdemonstration unter dem Motto "Globale Solidarität statt G20" zogen fast 80.000 Menschen quer durch Hamburg.
Ein Höhepunkt für mich war die eindrückliche Auftaktrede der 92-jährigen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano an den Deichhallen. Bejerano wandte sich mit fester Stimme, an den Ersten Bürgermeister Olaf Scholz: "Wo ist denn die hanseatische Gastfreundlichkeit geblieben, wenn junge Menschen nicht einmal mehr das Schlafen, das Essen, das Waschen in Camps erlaubt wird? Die Botschaft ist eindeutig: Für Euch ist kein Platz!"
Heike Hänsel ist stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Sie hat die Proteste in Hamburg als "parlamentarische Beobachterin" begleitet.