Was die ukrainischen Geländegewinne tatsächlich bedeuten
Seite 2: Ein eingefrorener Krieg
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Unter den derzeitigen Bedingungen ist das unwahrscheinlich. Eine ukrainische Offensive gegen das besetzte Cherson, die gleichzeitig mit dem Blitzangriff östlich von Charkiw eingeleitet wurde, hat keine nennenswerten Fortschritte gebracht. Die Kampflinien um Mykolajiw und Saporischschja haben sich seit März nur wenig verändert. Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte im Nordosten ihren Schwung beibehalten und die Gegenoffensive östlich des Oskil fortsetzen, könnten sie den gesamten Oblast Luhansk nördlich des Flusses Donez zurückerobern und die russische Kontrolle über die Küste und die Krim immer noch nicht ernsthaft gefährden.
Ein Krieg ist nie vorhersehbar. Es ist immer möglich, dass eine unerwartete Folge russischer Verluste einen totalen Zusammenbruch der Moskauer Streitkräfte und einen vollständigen Rückzug aus dem Donbass zur Folge haben könnte. Es stellt sich die bange Frage, wie das Putin-Regime in einem solchen Fall reagieren würde, da es hochgradig zerstörerische Munition in Reserve hält. Aber es ist wahrscheinlich verfrüht, darüber nachzudenken, solange die Ukraine keine weiteren Gebietsgewinne erzielt.
Der anstehende Winter, der in der Ukraine extrem kalt und eisig sein kann, wird die Truppenbewegungen wahrscheinlich verlangsamen und vielleicht sogar fast zum Stillstand bringen (wie es in Afghanistan jeden Winter gewesen ist). Im übertragenen Sinne könnte der Konflikt bereits eingefroren sein. Seit etwa Mai scheint das zunehmend die kalte, harte Realität zu sein, auch wenn die Propagandisten beider Seiten es nur ungern zugeben.
Ein "eingefrorener Konflikt" ist ein Begriff für einen Krieg, dessen Kampflinien verhärtet und erstarrt sind, ohne dass es einen Waffenstillstand oder einen Vertrag zur formellen Abtretung des eroberten Gebiets an den Aggressor gibt, was zu einer Art Grauzone auf der Weltkarte führt – tote Punkte in der internationalen Ordnung. Beispiele hierfür sind ehemalige sowjetische Gebiete wie Transnistrien, Abchasien und Südossetien, die im Fall von Transnistrien rechtlich zu Moldawien und im Fall der beiden anderen zu Georgien gehören, aber seit Jahren von Russland besetzt sind.
Russlands Marionettenstaaten im Donbass reihen sich hier ein und sind in gewissem Sinn die Vorstufe zu quasi-souveränen Vasallenstaaten in Ländern, die früher zur UdSSR gehörten. Es wird für die Ukraine sehr schwierig sein, den Küstenstreifen von Luhansk bis Cherson zurückzuerobern, auch weil die Menschen dort kulturell, ethnisch und sprachlich Russland zugeneigt sind. Das ist der Grund, warum Putin sie überhaupt ins Visier genommen hat.
Mit "eingefrorenen Konflikten" lassen sich auch zersplitterte, balkanisierte Staaten wie Irak, Syrien, Libyen, Somalia, Jemen, Mali und andere Schauplätze von Interventionen der USA und der Nato beschreiben. In diesen Ländern haben das US-Militär und die Nachrichtendienste, die oft über Stellvertreter agieren, die bestehende Regierung erfolgreich gestürzt oder stark destabilisiert, es aber nicht geschafft, ein neues Regime zu installieren, das sowohl Washington untergeordnet als auch in der Lage ist, effektiv zu regieren.
Warlords, Gangster, Dschihadisten, Söldner, Sklaven-, Waffen- und Drogenhändler, Paramilitärs und Spione füllten schließlich das Machtvakuum aus. In Syrien, das bis heute teilweise von US-Streitkräften besetzt ist, intervenierte Russland ebenfalls, was zu einer Spaltung führte, bei der zwei Drittel des Landes von einer von Russland unterstützten Koalition regiert werden, während den Rest amerikanische Stellvertreterkräfte und US-Spezialeinheiten kontrollieren.
So sieht der Status quo in Syrien seit fast einem Jahrzehnt aus. Ungeachtet der Gegenoffensive in Charkiw scheint das auch die naheliegendste Zukunft für die Ukraine zu sein: ein Krieg, der niemals endet, in einem unglücklichen Land, das zwischen zwei Supermächten jenseits ihres Zenits gefangen ist, von denen keine die Fähigkeit hat, wirklich zu gewinnen, oder die Menschlichkeit besitzt, einen Kompromiss auszuhandeln, sodass viele tausende Menschen sinnlos sterben.
Der Artikel von Seth Harp wird veröffentlicht in Kooperation mit dem US-amerikanischen Online Magazine Responsible Statecraft, wo sich das englische Original des Artikels findet. Übersetzung: David Goeßmann.
Seth Harp ist ein US-amerikanischer Enthüllungsjournalist und Auslandskorrespondent, der für das Harper's Magazine während der ersten beiden Monate der russischen Invasion vor Ort in der Ukraine berichtete. Er ist Redakteur beim Rolling Stone und hat für eine Reihe von Medien über das Militär, bewaffnete Konflikte und das organisierte Verbrechen berichtet, darunter The New Yorker, The Intercept, The New York Times, The Daily Beast, Texas Observer und Columbia Journalism Review. Er arbeitet zurzeit an einem Buch über Mord, Drogenhandel und Vertuschung in den Special Forces der US-Armee. Harp ist ein Kriegsveteran des Irak-Krieges und war, bevor er Journalist wurde, praktizierender Anwalt und stellvertretender Generalstaatsanwalt des Staates Texas.
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