Was ist eine Verschwörungstheorie?
Andreas Anton und Alan Schink über "Schwurbler" und reale Verschwörungen, über die zunehmend systematische Kontrolle von Information und die Bedrohung der aufgeklärten Informationsgesellschaft
Man mag es kaum glauben, aber der Bayerische Rundfunk hat, wie Sie in Ihrem Buch Der Kampf um die Wahrheit: Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten schildern, die Bedrohung durch den Corona-Virus als Verschwörungstheorie bezeichnet. Was hat es damit auf sich?
Alan Schink: Am 30. Januar 2020 kommentierte der Journalist Christoph Süß in der politischen Satiresendung quer im Bayerischen Rundfunk unter dem Titel "Wie ein Virus die Vernunft zerstört" die in den sozialen Medien zu dieser Zeit kursierende Angst vor dem neuen "Wuhan-Virus" mit folgenden Worten: "Wer die Apokalypse zum Maßstab seines Denkens macht, der schlägt Maßnahmen zu deren Verwirklichung vor."
Süß mokierte sich über "rechte Trolle im Netz", die aufgrund der zunehmenden Verbreitung der neuartigen Krankheit fordern, die Grenzen zu schließen. Zynisch sinniert er über das, was einige Wochen später als "Lockdown" Teil der pandemischen Normalität wird: "Nehmen wir den hier implizit gemachten Vorschlag doch mal ernst. Was wäre, wenn man die Grenzen schließen würde? Vorteil: Keine Ausländer kommen mehr rein. (...) Nachteil: Kein Verkehr mehr, Flugzeuge bleiben am Boden, Züge fahren nicht, quasi Generalstreik, die Wirtschaft erlahmt, Krise - und schon hätte man genau das, was man draußen halten will: das Desaster."
Heute ist eine Aussage wie diese in einem öffentlich-rechtlichen Medium kaum mehr vorstellbar. Sie würde als Corona-Leugnung gebrandmarkt.
Doch Angstmache vor dem Virus hält der BR-Journalist Ende Januar 2020 noch für eine reine "Paranoia-Produktion" rechter Youtuber, er spricht sogar von "Endzeit-Psychosen". Am Schluss des kurzen Beitrags fragt er sich und das Publikum: "Warum sind so viele so leicht mit Verschwörungstheorien zu infizieren?"
Der Bayerische Rundfunk hat diese Sendung - wie auch alle Hinweise darauf - mittlerweile von seiner Webpräsenz gelöscht. Im Internet-Archiv findet sich allerdings noch ein Statement zur Löschung der Sendung. Dort heißt es: "Die Faktenlage hat sich geändert. Handlungsempfehlungen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Kommentars richtig waren, sind heute nicht mehr richtig."
Sie schlussfolgern, Verschwörungstheorien sind kontextabhängig. Was heute "Geschwurbel" ist, wird morgen Konsens - und andersherum?
Andreas Anton: So ist es. Was gestern als Verschwörungstheorie galt, kann heute als reale Verschwörung gesehen werden. Was wir heute als echte Verschwörung betrachten, kann sich morgen als bloße Verschwörungstheorie entpuppen.
Den größten Einfluss auf das, was in modernen Gesellschaften mehrheitlich als "wahr" oder "wirklich" betrachtet wird, haben die Systeme Politik, Medien und Wissenschaft. Wenn eine Verschwörungstheorie in keinem dieser Bereiche kommuniziert und als "wahr" - d. h. als ernstzunehmend oder rational - betrachtet wird, hat sie im Prinzip keine Chance, den Weg zu einer "realen", d. h. gesellschaftlich anerkannten Verschwörung zu schaffen.
Wichtig ist: Bei Verschwörungstheorien gibt es mindestens zwei verschiedene Wahrheitsebenen. Die eine Ebene ist die der faktischen Realität: Gibt es handfeste Belege, die für den Tatbestand einer Verschwörung sprechen oder nicht?
Hannah Arendt spricht von ‚Tatsachenwahrheiten‘. Die andere Ebene ist die der sozialen Wirklichkeit. Hier kommt es vor allem darauf an, wie viele Menschen und welche sozialen Instanzen eine Verschwörung für real halten und welchen Einfluss dies auf eine Gesellschaft hat. In vielen Fällen stimmen die beiden Ebenen nicht überein.
Ein Beispiel: Die Behauptung, dass der Irak im Jahr 2003 über Massenvernichtungswaffen verfügte, ist faktisch falsch, war aber für die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung eine soziale Realität - und ein legitimer Kriegsgrund.
In der Tat hat die "Laborthese" über die Herkunft von Sars-CoV-2 seit Beginn der Pandemie mehrfach die Seiten gewechselt. Zuletzt wurde sie wieder als seriöse Theorie geadelt, von US-Präsident Joe Biden. Hat die Wahrheit inne, wer die politische Macht hat?
Andreas Anton: Politische Macht allein reicht nicht aus, ist aber im Prozess der sozialen Konstruktion dessen, was innerhalb einer Gesellschaft für "wahr" gehalten wird, ein sehr wichtiger Faktor.
Auch Ex-US-Präsident Donald Trump hat immer wieder auf die mögliche Herkunft des Corona-Virus aus dem Labor verwiesen, dies jedoch wurde von deutschsprachigen Leitmedien nicht in der Weise ernst genommen, wie es später bei Biden der Fall war.
Es war für uns überaus interessant, zu beobachten, wie sich die Labor-Ursprungs-Hypothese im öffentlichen Diskurs in Deutschland von einer "kruden" Verschwörungstheorie zu einem ernstzunehmenden Szenario entwickelte.
Hierbei spielten die Äußerungen von Biden eine wichtige Rolle. Er genießt bei vielen Medienvertretern in Deutschland augenscheinlich einen Vertrauensvorschuss, seine Aussagen haben ein stärkeres Gewicht als die von Trump.
Sie gehen in Ihrem Buch auf Zensur durch Plattformen wie Youtube ein. Die hat viele getroffen: den griechisch-amerikanischen Epidemiologen John Ioannidis, den Journalisten und Aktivisten Ken Jebsen und zuletzt den russischen Auslandssender RT DE sowie die Initiative #allesaufdentisch. Sind die Entscheidungen in jedem Fall nachvollziehbar?
Andreas Anton: Wir betrachten diese Entwicklung als höchst problematisch. Es etablieren sich gegenwärtig zunehmend Strukturen, die entscheiden, welche Informationen den Bürgern zugänglich gemacht werden und welche nicht. Bei den Löschungen geht es mittlerweile regelmäßig nicht mehr um strafrechtlich relevante oder anstößige Dinge, sondern um abweichende politische oder wissenschaftliche Deutungen und Sichtweisen, die angeblich internen Richtlinien widersprechen - die im Übrigen völlig intransparent sind.
Das Menschenbild, das hinter solchen Maßnahmen steckt, ist der verführbare und unmündige Mensch, den man nicht "schutzlos" einer Sphäre frei zirkulierender Informationen aussetzen darf, sondern für den man in paternalistischer Weise glaubt, eine Vorselektion "unbedenklicher" Inhalte vornehmen zu müssen.
Ein solches Denken ist unseres Erachtens keine Antwort auf die informationelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Sie sollte uns Sorge bereiten.
Der Verweis darauf, dass Google unpolitisch und ein Privatunternehmen ist, das doch selbst entscheiden darf, welche Inhalte es sendet und welche nicht, verfängt angesichts der enormen Bedeutung von Plattformen wie Youtube für den öffentlichen Diskurs nicht - mal ganz abgesehen von politischen Verbindungen zwischen dem Silicon Valley und dem Pentagon.
Darüber hinaus: Auf Youtube gibt es massenhaft Videos, die zeigen, wie Menschen getötet werden. So etwas ist offenbar kein Problem, aber Videos von #allesaufdentisch werden gelöscht. Was soll das für eine Logik sein?
Ioannidis wurde still und heimlich rehabilitiert …
Alan Schink: Richtig. Und allein dieses Beispiel zeigt, wie absurd die Maßnahmen der Informationskontrolle bei Youtube mittlerweile sind. Auf welcher Grundlage wird hier entschieden, ob die Meinung renommierter Experten wie Ioannidis gesendet wird oder nicht?
Ist es nicht hochproblematisch, wenn etwa bei Youtube mutmaßlich Laien über die Verbreitung von wissenschaftlichen Inhalten entscheiden. Geht von den Zensoren nicht eine mindestens ebenso große, wenn nicht größere Gefahr aus als von den inkriminierten Inhalten?
Andreas Anton: Absolut. Natürlich gibt es problematische Inhalte und bis vor nicht allzu langer Zeit war es ja so, dass etwa die Algorithmen von Youtube derartige Inhalte sogar eher begünstigt haben, da extreme, radikale Botschaften die Menschen länger auf der Plattform gehalten haben.
Die Kritik an den Vorschlagsalgorithmen war unseres Erachtens nicht unberechtigt. Der zweifelhaften Logik der Empfehlungsalgorithmen werden nun aber nicht minder zweifelhafte Zensurtechniken und Bewertungssysteme für den "Wahrheitsgehalt" von Informationen entgegengesetzt.
Man könnte auch sagen: Hier wurde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Letztlich halten wir die freie Zirkulation vermeintlich irriger Informationen in demokratischen Gesellschaften für weniger gefährlich als das gezielte und institutionalisierte Unterbinden derartiger Inhalte.
Ist es eine Verschwörungstheorie, wenn ich mit nun mit Blick auf das Pandemie-Planspiel Event 201 der Johns-Hopkins-Universität sage, dass all diese Löschungen einem Plan folgen, der schon vor der Pandemie skizziert wurde, nämlich im Herbst 2019?
Alan Schink: Das ist eine interessante Frage. Es kommt zum einen darauf an, wie man hier "Plan" definiert - meint Plan so etwas wie eine durch Akteure bewusst verfolgte Agenda oder ist damit eher eine Art kollektives Wissen gemeint?
Pandemie-Simulationen wie Event 201 (oder diverse Vorgänger) haben immer auch den Zweck, die Beteiligten in gewisser Weise zu "disziplinieren". Das bedeutet, bestimmte Ideen oder Konzepte werden in fiktiven Szenarien geübt, um dann im Ernstfall verfügbar zu sein und in die Realität umgesetzt zu werden.
Insofern kann man sagen, dass in der sich ab Frühjahr 2020 weltweit realisierenden Sars-CoV-2-Pandemie auf Deutungs- und Handlungsmuster zurückgegriffen wurde, die in bestimmten Kreisen bereits bekannt waren. Inwieweit sich etwa Google bei den Löschaktionen im Einzelnen auf die Konzepte aus dem Planspiel bezieht, sei dahingestellt.
Fest steht: Das Übungsszenario aus dem Planspiel Event 201 wurde nahezu eins zu eins zur Realität - ebenso wie die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bekämpfung von "Desinformation".
Welche Rolle spielen Faktenchecks und wie sinnvoll sind sie?
Alan Schink: Faktenchecks sind eine journalistische Gattung, die im Zuge der Corona-Krise eine ebenso starke Konjunktur erfahren hat wie "Verschwörungstheorien" und "Fake News" selbst, die durch Faktenchecks bekämpft werden sollen.
Die WHO spricht bei von offiziellen Gesundheitsinformationen abweichenden Informationen von einer "Infodemie" und fordert neben der Löschung der entsprechenden Inhalte auch Faktenchecks, die in enger Kooperation zwischen bestimmten Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Journalismus vermeintlich falsche und gefährliche Informationen widerlegen sollen.
Der Kampf gegen die digitale Infodemie ist laut WHO vom Kampf gegen die Virus-Pandemie gar nicht zu trennen. In vielen Faktencheck-Redaktionen arbeiten professionelle Journalisten und ihre Beiträge liefern häufig wertvolle Informationen, die zur Einordnung verschiedener Behauptungen zur Pandemie dienen können.
Zum Teil liegen die Faktenchecks aber auch vollkommen daneben und arbeiten höchst selektiv. Was genau die Faktenchecker überhaupt dazu qualifiziert, über die Aussagen anderer (nicht selten Experten auf ihrem Fachgebiet) zu urteilen, bleibt oftmals völlig unklar.
Wie bewerten Sie die Tendenz, Maßnahmenkritiker als "Covidioten" oder "Schwurbler" zu diffamieren. Ist das neu, was steckt dahinter?
Alan Schink: Den Begriff "Covidiot" könnte man als eine Neufassung des Verschwörungstheoretiker-Vorwurfs im Zusammenhang mit Corona-Skepsis verstehen. Am meisten Aufsehen erregte dabei wohl die "Covidioten"-Beschuldigung der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken.
Es ist ein klar herabwürdigender Begriff, der aus dem englischsprachigen Raum kommt und der sich speziell gegen Corona-Kritik gebildet hat. Auch der "Schwurbler"-Begriff ist im politischen Diskurs noch recht jung und hat in der Covid-19-Krise eine starke Verbreitung erfahren.
Wir haben das noch nicht systematisch rekonstruiert, aber es zeigen sich Anhaltspunkte dafür, dass der Schwurbler-Begriff innerhalb der letzten 5-6 Jahre aus dem sogenannten ‚Skeptiker‘-Diskurs hinein in den Mainstream diffundiert ist.
Schwurbeln heißt so viel wie Unsinn äußern und wird erst seit einigen Jahren mit dem Vorwurf verknüpft, Verschwörungstheorien zu verbreiten. Wenn solche Begriffe eine Debatte prägen, verschließt sich der Raum inhaltlicher und sachbezogener Argumentation.
Haben etablierte Massenmedien, sowohl private wie öffentlich-rechtliche, unter dem Konformitätsdruck der Corona-Politik ihre Aufgabe wahrnehmen können?
Andreas Anton: Etablierte Medien hätten ihre Aufgabe wahrnehmen können, haben es aber nur unzureichend getan. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Es gab von Anfang an eine Diskursverengung, gepaart mit Angstkommunikation. Kritische Stimmen fanden in etablierten Medienformaten kaum Gehör oder wurden ganz ausgeschlossen.
Das etablierte Mediensystem hat sich schon früh auf wenige Expertenmeinungen und ein Krisennarrativ verständigt. Bei der Verfestigung dieses Narratives im Laufe der Pandemie spielte die Politik eine zentrale Rolle.
Es gab eine wechselseitige Bestätigung zwischen Medien und Politik: In den Medien sahen wir eine nicht untypische Tendenz zur Dramatisierung - wir erinnern uns an die anfangs weitestgehend unhinterfragten "Bilder aus Bergamo"-, die die Politik aufgriff und in noch härtere Forderungen und Maßnahmen übersetzte.
Diese wiederum bestätigten den medialen Krisenmodus und legitimierten den pandemischen Ausnahmezustand. Durch dieses Wechselspiel entstanden diskursive Engführungen, Übertreibungen und Überhitzungen, die durch eine Öffnung des Diskurses hätten korrigiert werden können.
Es passierte aber eher das Gegenteil: Der Diskurs wurde immer mehr abgeriegelt, die Kriterien für "Abweichung" immer weiter verschärft
Wie hat diese Pandemie also die demokratische Öffentlichkeit und die Debattenkultur verändert?
Alan Schink: Die Corona-Krise war von Anfang an mit großer Unsicherheit verbunden. Zu Beginn der Pandemie schien es daher so etwas wie eine Rückbesinnung auf und Vertrauensgewinn in etablierte Institutionen wie Staat, Wissenschaft und Medien zu geben - auch eine Art "Wir"-Gefühl, das vor allem den ersten Lockdown prägte.
Doch dieses neue Vertrauen wurde schnell verspielt. Unseres Erachtens ist ein Hauptgrund dafür, dass im öffentlichen Diskurs falsch mit den Ambivalenzen der Krise umgegangen wurde. Eine echte Debatte um adäquate Deutungen der Pandemie und Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, die auch abweichende und kritische Stimmen berücksichtigt, die Widersprüche und offene Fragen thematisiert, wäre eine große Chance gewesen.
Sie wurde vertan. Die Meinungsfreiheit und das Prinzip der Repräsentativität sind eines der höchsten Güter demokratischer Gesellschaften. Wenn immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Meinungen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, verliert die Demokratie ihre gesellschaftliche Integrationskraft.
Das gleiche gilt für Angstdiskurse: sie bedingen Irrationalität, Sündenbock-Denken und verengen Denk- und Handlungsspielräume. Einer Angstpolitik vermeintlicher Alternativlosigkeit sollten sachliche und ergebnisoffene Debatten entgegengesetzt werden.
"Der Kampf um die Wahrheit: Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten" von Andreas Anton und Alan Schink.
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