Was ist los in Kasachstan?
Wir sollten die geopolitische Brille abnehmen, mit der wir oft Ereignisse in Ländern der früheren Sowjetunion betrachten. Bisher fragen wir eher: Nützt oder schadet es Putin, aber kaum, warum Menschen rebellieren
Mehr als 160 Tote und zahlreiche Verletzte haben die Unruhen in Kasachstan gefordert. Man kann davon sprechen, dass hier ein autoritäres Regime einen weitgehend unorganisierten Aufstand von Teilen der Bevölkerung, die über die Erhöhung der Gaspreise erzürnt waren, brutal niedergeschlagen hat. Im Sinne des US-Soziologen Joshua Clover könnten wir hier vom Riot einer ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerung sprechen.
Doch was die Massen bewegt, die trotz großer Gefahren auf die Straße gegangen sind, wird in der hiesigen Berichterstattung selten gefragt. Vielmehr wurden schnell und von allen Seiten die Unruhen durch eine geopolitische Brille betrachtet. Sofort die Frage gestellt, ob der Aufstand in Kasachstan der russischen Politik eher nützt oder schadet. Angedeutet wurde auch, dass die Unruhen auf Nachbarländer und dann auf Russland übergreifen könnten, obwohl solche Szenarien jeder realen Grundlage entbehren.
Natürlich spielt auch die andere Seite auf der Klaviatur der Geopolitik, die darüber hinwegtäuschen soll, dass die Unruhen primär innenpolitische Gründe haben. Ob auch ein Streit unter den herrschenden Eliten in Kasachstan den Konflikt befeuert hat, muss offen bleiben. Zumindest scheint Präsident Kassym-Jomart Tokajew die Situation zu nutzen, um die letzten Anhänger seines Vorgängers Nursultan Nasarbajew kalt zu stellen.
Der kasachische Präsident sprach von Organisationen aus dem Ausland, von Terroristen und Banden, die vernichtet werden müssten. Offen bleibt, auf welche Länder er Bezug genommen hat, wenn er vom Ausland sprach. Nachbarländer, die teilweise mit einer islamistischen Opposition konfrontiert sind oder allgemein der Westen, auf den die autoritären Machthaber in diesen Ländern gerne zeigen, wenn es zu Unruhen kommt.
Das Narrativ von der "Farben-Revolution"
Russlands Präsident Wladimir Putin sah denn im Gleichklang mit der dortigen Regierung Kasachstan im Fokus des internationalen Terrorismus und erklärte, man werde eine "Farben-Revolution" dort nicht zulassen. Mit diesem Begriff werden angeblich oder tatsächlich von westlichen Ländern und Nichtregierungsorganisationen in Szene gesetzte "Regime Changes" in verschiedenen Ländern bezeichnet.
Träger der Umstürze waren oft gut ausgebildete Kreise des heimischen Mittelstandes, die im westlichen Ausland studiert hatten, perfekt Englisch sprachen und mehr oder wenige enge Kontakte zu prowestlichen Organisationen hatten, deren Slogans und Marketing-Aktionen sie oft übernahmen. Seit 2004 gab es erfolgreiche "Farben-Revolutionen" in Kirgistan, Georgien oder der Ukraine.
Vor allem das letzte Land sorgt ja nun seit einiger Zeit für weltweites Aufsehen – die Ereignisse dort haben die Spannungen zwischen den USA und Russland erhöht. Auch hier überwiegt von allen Seiten der geopolitische Blick. Die Ukraine bekam diese weltweite Bedeutung, weil sie im Spannungsfeld zwischen Russland und dem sogenannten Westen liegt.
Im Land selbst ist vor allem in der Ostukraine der prorussische Teil der Bevölkerung in der Mehrheit, in anderen Teilen hat hingegen die Abgrenzung, ja geradezu der Hass auf Russland zugenommen.
Geschichtspolitik auf dem Kiewer Maidan
Man muss nur rund um den Maidan im Zentrum von Kiew die vielen Gedenkorte sehen, wo der Toten gedacht wird, die bei der letzten Farben-Revolution dort ums Leben gekommen ist, um zu wissen, dass sich der Bruch zwischen Russland und der aktuellen Führungsschicht der Ukraine so schnell nicht kitten lässt.
Nach der offiziellen Erzählung sind die letzten Verteidiger der alten Regierung und ihre Unterstützer in Russland für die Opfer verantwortlich. Für Zwischentöne ist da kein Platz. Auch wenn teilweise noch heute unklar ist, ob nur die Schergen des untergegangen Regimes auf die Demonstranten geschossen haben.
Für solche quälenden Fragen und Ambivalenzen ist natürlich kein Platz an einem Ort, der mit den Toten des Februar 2014 einen neuen Nationalmythos schaffen soll. Auch im Fall der Ukraine ist die geopolitische Brille sehr hinderlich, um die realen Ereignisse wahrzunehmen.
Natürlich war im Fall der Kiewer "Farben-Revolution" die Unterstützung westlicher Politiker – aus Deutschland Ende 2013 durch den damals scheidenden Außenminister Guido Westerwelle (FDP) und dann durch dessen Nachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) – aber auch vieler westlicher Nichtregierungsorganisationen eine Realität, die niemand bestreiten kann. Doch der Aufstand wurde nicht ursprünglich von diesen Kräften in Szene gesetzt.
Es gab in der Ukraine eine innenpolitische Polarisierung prorussischer und prowestlicher Kräfte. Beide wurden von den unterschiedlichen Ländern unterstützt. Russland unterstützte die ihm wohlgesonnene Mehrheit in der Ostukraine, wie der Westen die neue Regierung in Kiew unterstützte. Ohne die innenpolitischen Entwicklungen, die zu dieser Spaltung führten, wäre der Umsturz nicht erfolgreich gewesen.
Die geopolitische Brille wird auch benutzt, wenn es darum geht, in der Ukraine unterschiedliche Kräfte in die Nähe des Faschismus zu rücken. Die prorussischen Kräfte sehen teilweise die Maidan-Bewegung insgesamt zumindest als profaschistisch. Vielleicht wäre der exaktere Begriff, dass die Bewegung insgesamt mindestens rechtsoffen war und ist.
Sie war aber vor allem in ihrer Hochphase sehr heterogen. Auch Linke und Anarchisten versuchten – mit eher wenig Erfolg – dort zu intervenieren. Klar war aber, dass es keine Abgrenzung zum auch profaschistischen ukrainischen Nationalismus gab und gibt, der im Kampf gegen die Sowjetunion zumindest zeitweise mit den deutschen Faschismus kooperiert hatte und auch selbst antisemitisch eingestellt war.
Es ist nur erstaunlich, dass manche Freunde der Maidan-Bewegung sich nicht daran stören, dass sie rechtsoffen war, aber in Deutschland den Gegnern der Corona-Maßnahmen wegen Rechtsoffenheit am liebsten Demonstrationsverbot erteilen würden.
Wenn nun aber das prorussische Lager von einer Wiederkehr des Faschismus in der Ukraine spricht, ist auch das eine geopolitische Projektion. Mit der Fokussierung auf eine Gefahr des Faschismus will man die aktuellen Eliten in der Ukraine desavouieren. Es ist richtig, dass die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen sind, aber zur Wahrheit gehört, dass auch die prorussische Bewegung in der Ostukraine vom verschiedenen rechten Kräften unterstützt wird.
Schon längst geht es beim Streit um die Ukraine um Weltpolitik, was die Frage einer zukünftigen Nato-Mitgliedschaft des Landes noch einmal deutlich machte. Natürlich war es 1990 noch undenkbar, dass darüber diskutiert wird, ob die Ukraine Teil der Nato werden sollte. Schließlich war sie damals noch Teil der Sowjetunion, was aber umso deutlicher macht, wie nah heute das gegnerische Militärbündnis Russland gekommen ist.
Wenn dann Nato-Sprecher davon reden, dass es sich um eine souveräne Entscheidung der Ukraine handle, dann ist natürlich auch das Propaganda. Die Nato hat natürlich offensiv um die politisch rechten Kräfte geworben, deren Vorfahren sich im Kampf gegen die Sowjetunion mit Hitler-Deutschland verbündet hatten und die jetzt besonders schnell in die Nato wollten, um sich gegen Russland zu positionieren.
Es ist natürlich die politische Entscheidung der Nato, mit diesen Kräften zu kooperieren. Die Nato wollte sich die Chance nicht entgegen lassen, nun nicht mehr um, sondern auf den Gebiet der ehemaligen Sowjetunion präsent zu sein. Auch das ist Geopolitik. Die innenpolitischen Konfliktlinien treten zurück hinter der Frage, welchem Militärbündnis sich die Länder zurechnen.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn die politische Linke die geopolitische Brille ablegen und zunächst einmal versuchen würde, zu verstehen, was hinter den Konflikten im jeweiligen Land steckt, was die Menschen motiviert, zu rebellieren – und nicht gleich zu fragen: Nützt oder schadet es Putin? Zudem ist es auch fatal, sofort zu fragen, ob hier eine neue "Farben-Revolution" inszeniert wird, ohne sich dafür zu interessieren, warum auf die Menschen auf die Straße gehen – und ob sie nicht viele gute Gründe haben.
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