Wer waren die Scharfschützen des Maidan?

Recherchen von Monitor bestätigen den Verdacht, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft nicht richtig ermittelt und nicht nur Berkut-Einheiten geschossen haben

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Lange Zeit hatte die neue Regierung in Kiew, die aufgrund der Proteste der Maidan-Bewegung an die Macht kam, weil diese das auf dem Höhepunkt der Gewalt getroffene Abkommen mit dem damaligen Präsidenten Janukowitsch nicht akzeptierte - und wohl auch nicht wie darin vorgesehen die besetzten Häuser und die Barrikaden räumen und die Waffen niederlegen wollte. Zum Sturz war es vor allem deswegen gekommen, weil allein an zwei Tagen 60 Menschen angeblich von Scharfschützen der Janukowitsch-Regierung getötet worden waren, die anschließend als die Märtyrer der Maidan-Bewegung und als die "Göttlichen 100" - insgesamt waren um die 130 Menschen seit Beginn der Proteste getötet worden - verehrt wurden.

Die neue Regierung, deren Minister erst einmal vom Maidan akzeptiert werden mussten, machte ausgerechnet Oleg Mahnitskyy von der rechtsextremen Swobodapartei zum Generalstaatsanwalt, während der "Kommandant des Maidan" Andrij Parubij, Mitbegründer der ebenfalls rechtsextremen Vorläuferpartei von Swoboda, aber jetzt in Timoschenkos Vaterlandspartei, zum Vorsitzenden des mächtigen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine ernannt wurde. Parubij hatte auf dem Maidsan eng mit den bewaffneten Gruppen des Rechten Sektors und deren Anführer Jarosch zusammengearbeitet.

Erst nachdem sich über ein geleaktes Telefongespräch am Anfang März die Aufmerksamkeit wieder auf die Scharfschützen richtete und es wohl Druck seitens der westlichen Regierungen gab, kamen die Untersuchungen über die Scharfschützen in Gang (Kamen die Scharfschützen aus der Opposition?. Am 3. April präsentierte die Staatsanwaltschaft dann 12 Verdächtige, die einer direkt Janukowitsch unterstehenden Berkut-Sondereinheit angehört hätten und für die Schüsse verantwortlich wären. Während der Generalstaatsanwalt aber nicht von den getöteten Polizisten sprach, machte Innenminister Avakov klar, dass die Ermittlungen in verschiedene Richtungen gehen und auch die tödlichen Schüsse auf die Polizisten einbegreifen (Staatsanwaltschaft hat 12 mutmaßliche Scharfschützen inhaftiert), was auch deutlich machte, dass Innenministerium und Generalstaatsanwaltschaft sowie die rechtsextremen Kräfte nicht an einem Strang ziehen. Dies wurde auch daran kenntlich, dass der Rechte Sektor den Rücktritt des Innenministers forderte, nachdem bei einer Schießerei ein Führer des Rechten Sektors, nach dem gefahndet wurde, ums Leben kam.

Nach Recherchen des WDR-Magazins Monitor scheint sich nun der Verdacht zu bestätigen, dass es nicht allein die von der damaligen Regierung beauftragten Berkut-Einheiten waren, die am 19. Und 20. Februar auf Demonstranten und/oder Polizisten schossen. Nach Monitor zieht ein Mitglied des Ermittlerteams der ukrainischen Regierung die Aussagen der Generalstaatsanwaltschaft in Zweifel: "Meine Untersuchungsergebnisse stimmen nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft in der Pressekonferenz erklärt hat." Er will anonym bleiben, was darauf schließen lässt, wie prekär die Aufklärung der Morde ist.

Monitor erklärt, es gebe einen Mitschnitt des Funkverkehrs von auf Dächern um den Maidan postierten Scharfschützen der Berkut-Sonderheit vom 20. Februar. Aufgezeichnet hat den Funkverkehr ein Amateurfunker. Zu hören sei, "wie ein Scharfschütze seine Kollegen über Funk fragt: 'Wer hat da geschossen? Unsere Leute schießen nicht auf Unbewaffnete.' Kurze Zeit später sagt ein anderer: 'Den hat jemand erschossen. Aber nicht wir.' Dann fügt er hinzu: "Gibt es da noch mehr Scharfschützen? Und wer sind die?"' Beschossen wurden Demonstranten, wie sich aus Videos erkennen lässt. auch aus dem Hotel Ukraina, das von der Maidan-Bewegung besetzt war und das hinter den Gebäuden liegt, auf dem sich vermutlich die Berkut-Scharfschützen befanden.

Das Misstrauen weckt überdies an Teilen der Regierung oder zumindest der Generalstaatsanwaltschaft, dass nach Monitor Anwälte von Angehörigen und Verwundeten sich beschweren, keinen Einblick in den Stand der Ermittlungen zu erhalten: "Wir haben nicht gesagt bekommen, welcher Typ Waffen verwendet wurde, wir bekommen keinen Zugang zu den Gutachten, wir bekommen die Einsatzpläne nicht. Die anderen Ermittlungsdokumente haben wir auch nicht. Wir können gar nicht sagen, was aus Sicht der Staatsanwaltschaft eigentlich passiert ist." Die Staatsanwaltschaft würde nicht wirklich ermitteln, vermutet ein Anwalt. Wenn dies so wäre, läge der Verdacht nahe, dass militante Kräfte, beispielsweise aus dem Rechten Sektor, den Konflikt schüren wollten, indem Schützen verdeckt sowohl auf Demonstranten als auch auf Polizisten schossen.

Falls dies so war, würde sich die zögerliche Aufklärung erklären lassen und wäre die Aktion auch erfolgreich gewesen, weil sie unmittelbar zur Verurteilung und zum Sturz von Janukowitsch geführt hat. Sollten radikale Teile der Maidan-Bewegung beteiligt gewesen sein, dann wäre aber auch der Glanz der Bewegung und die Integrität der neuen Regierung beschädigt. Der Westen müsste ernsthaft überlegen, ob er weiter so bedingungslos hinter ihr stehen kann, zumal dies auch in der Ukraine die Konflikte vertiefen würde. Allerdings gibt es für diese Version keine Beweise. Es könnten beispielsweise auch, worauf man sicher verweisen wird, von der Regierung oder vom russischen Geheimdienst verdeckt eingesetzte Scharfschützen gewesen sein. Der Innenminister hatte etwa staatlich beauftragte Provokateuren, die so genannten Titushkas, ins Spiel gebracht, die auch eine Rolle gespielt haben könnten. Peinlich für die ukrainische Regierung und die sie unterstützenden Regierungen ist allemal, dass Reporter die Aufklärung leisten müssen.