Was von der Zukunft der Vergangenheit geblieben ist

Das Jahr 2020 und die Utopie I

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2020 also. Für einen 19-Jährigen, der in der post-utopischen Zeit geboren und aufgewachsen ist, bedeutet dieses Datum nicht mehr als - sagen wir 2012. Es ist eine Jahreszahl wie andere auch und die Zukunft ist eine eher kränkelnde Figur, man ist schon froh, wenn es nicht wirklich schlimmer wird.

Die Schülerproteste an den "Freitagen für die Zukunft" sind ein Symptom für den Zustand der Welt, was das Klima anbelangt. Zukunft ist eigentlich nur noch Klima, daneben gibt es keine wirklich große Erzählung in dieser Richtung mehr. Zukunft - das ist das iPad 15 und ein dreidimensionaler smarter Fernseher, während auf den Straßen zu Fackelschein Stiefeltritte hallen. Zukunft - sie besteht aus Börsenkursen und Goldpreis, während die Bettler in den Großstädten zunehmen und das Mittelmeer von einer großen Mauer eingezäunt wird. 2020 war noch keine drei Tage alt, als schon wieder die Drohnen des Imperiums aus der Luft töteten. Ob Trump das Buch "Aufstieg und Fall der großen Mächte" gelesen hat?

Es gab schon mal eine andere Zukunft. Das war die Zukunft der Vergangenheit, eine Parallelwelt zu unserem Heute. Zukunft war damals noch nicht Klima, sondern Utopie. Also Entwurf. Das ging so bis Ende der 1970er Jahre, als die Utopie dann plötzlich verschwand. Vielleicht war der Satz von Margaret Thatcher "Es gibt keine Alternative" ein Zauberspruch, worauf die Tinte, mit denen utopische Entwürfe geschrieben wurden, eintrocknete. Vielleicht waren es aber auch einfach nur die berittene Polizei, die den Streik der englischen Bergarbeiter 1984 niederknüppelte, was das Ende der Utopie einleitete.

Aber sehen wir uns doch einfach mal an, welche Zukunft damals auf diesen Blaupausen beschrieben worden war. Und zwar konkret, nicht auf abstraktem Niveau. Und was heute daraus geworden ist. Wer weiß, vielleicht leben wir ja längst in der Utopie, und das ist der Grund, warum es keiner weiteren Entwürfe bedarf.

"Konkrete" Utopie weit von der Wirklichkeit entfernt

Das Interessante an 2020 ist, dass nicht wirklich viele Utopie-Entwürfe es gewagt haben, die neue Welt überhaupt so weit in die Zukunft zu legen. Wir sind sozusagen schon weit über die utopische Ziellinie hinaus. Beispiele? Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltall" (von 1968) etwa. Oder nehmen wir den utopischen Roman "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000" von Edward Bellamy. Wie der Titel bereits verrät, spielt er im Jahr 2000, diese Zukunft der Vergangenheit liegt aus heutiger Sicht also schon zwanzig Jahre zurück. Der Autor hat seinen Roman 1888 geschrieben und die Handlung somit 112 Jahre in die Zukunft verlegt. Mehr "Fortschritt" oder "Entwicklung" der Menschheit gibt die Fantasie wahrscheinlich auch nicht her.

Der Roman - ein absoluter Bestseller seiner Zeit mit vielen Übersetzungen - macht auch deutlich warum: Wie alle utopischen Entwürfe wurzelt er in der zeitgenössischen Gesellschaft und erzählt im Grunde mehr über das damalige Heute als über die Zukunft. Die ist nichts anderes als eine Verlängerung oder Transformation des Bestehenden unter dem Vorzeichen der Negation.

Etwas konkreter: Bellamy schreibt sein Buch zu Zeiten der Entstehung großer Industriekonglomerate in den USA, die Handlung spielt in Boston. Durch die Fusion mehrerer Unternehmen entstanden damals riesige Trusts, zum Beispiel die Standard Oil Company von John D. Rockefeller oder der Stahlkonzern von Andrew Carnegie. Die Zukunft stellt sich der Autor dann auf wirtschaftlichem Gebiet vor wie eine einzige riesige Firma. An Stelle des Kapitalisten ist der Staat getreten:

Die Nation organisierte sich zu einem einzigen Riesenbetrieb, in dem alle anderen Betriebe aufgingen; sie trat als einziger Kapitalist an die Stelle aller anderen Kapitalisten; sie wurde der einzige Unternehmer, der letzte Monopolist, der alle früheren und kleineren Monopole verschlang, ein Monopolist, dessen Gewinne und Ersparnisse allen Bürgern zu Gute kam.

Edward Bellamy

Erreicht wurde diese Vergesellschaftung ohne die geringste Gewalttat, die Zeit sei einfach reif für den Umschwung gewesen. Anstelle des revolutionären Proletariats tritt bei Bellamy die rationale Einsicht, dass die riesigen Industrieanlagen der Trusts und Konzerne besser in öffentlicher Verwaltung betrieben werden könnten.

In Gang gehalten wird dieser Wirtschaftsbetrieb durch eine Arbeitsarmee, es herrscht Arbeitspflicht für alle. Sie dauert 24 Jahre, beginnt mit dem 21. Lebensjahr und endet im Alter von 45 Jahren. Danach ist jeder Bürger von der Arbeit enthoben. Die tägliche Arbeitszeit richtet sich dabei nach der Schwere der Tätigkeit. Sie ist zum Beispiel im Bergbau kurz, in der Verwaltung aber länger. Während der ersten drei Jahre der Dienstzeit muss jede Arbeitskraft die Zeit als ungelernter Arbeiter durchlaufen und darf danach einen Beruf auswählen und erlernen. In diesem Arbeitssystem gibt es keinen Lohn.

Vergleichen wir diese Zukunftsvision mit der heutigen Realität, so wird klar, dass diese "konkrete" Utopie weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Am nahesten kamen ihr die wirtschaftlichen Strukturen der Sowjetunion mit ihren riesigen Kombinaten und der Planwirtschaft. Kein Wunder, teilte Bellamy seine Vision damals mit der sozialistischen Bewegung: Man müsse nur die Kommandohöhen der riesigen Wirtschaftsunternehmen erobern, dann stünde der Umwandlung in den Sozialismus nicht mehr im Wege.

Zwar gibt es auch heute noch große Konzerne wie Siemens, entgegen der utopischen Vision aber bilden die kleinen und mittleren Unternehmen das Rückgrat der Wirtschaft: Sie agieren wie kleine Schnellboote flexibel am Markt, während die großen Tanker lange Zeit für eine Kurskorrektur benötigen. Und eine Welt ohne Lohn und einer Rente mit 45 Jahren ist inzwischen Lichtjahre entfernt.

Folgt: Das Jahr 2020 und die Utopie II - Die Sex und die Zukunft

Die Artikelserie basiert auf dem neuesten Buch von Rudolf Stumberger: Utopie konkret - und was daraus geworden ist. Alibri-Verlag 2019. Darin werden die Zukunftsvorstellungen seit Thomas Morus‘ "Utopia" von 1516 auf konkrete Aussagen zu Lebensbereichen wie Sexualität oder Wohnen hin untersucht und mit der heutigen Realität verglichen.