Was will S. Wagenknecht?
Seite 3: Wagenknechts Popularität
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Sie tritt ein für "Werte", als existierten keine Gegensätze zwischen den verschiedenen Werten der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre "wertekonservative" Position (2022, 275) tut so, als ob es jemals eine bürgerliche Gesellschaft mit Werteintegration gegeben habe oder geben könne.
Dabei standen und stehen in dieser Gesellschaft immer schon die Werte der "individuelle Freiheit" und des Privatinteresses im Konflikt mit den Werten des gesellschaftlichen Konsens und der staatsbürgerlichen Gesinnung. Genauso fiktiv wie ihr Bezug auf früher angeblich eindeutige und Einigkeit ermöglichende gute Werte ist ihre Nähe zu den "einfachen Leuten".
Wagenknecht bauscht postmoderne Meinungen und woke Positionen zum Hauptproblem der heutigen Linken auf. Dort sieht sie überall und ausschließlich "Selbstgerechte" am Werk. Diese Dramatisierung dient ihr dazu, sich – im Kontrast zu diesem Feindbild – als populäre Linke zu stilisieren.
Mit dem Kampf für hohe Löhne und für sichere Renten hat ihr Plädoyer für Vermögensbildung durch Aktien nichts zu tun. Es unterstützt faktisch das Kapital gegen die Lohnarbeit sowie bestätigt diejenigen, die die Privatisierung der Altersvorsorge vorantreiben.
Wagenknechts Popularität resultiert auch aus dem Umstand, dass sie den Leuten das erzählt, was diese gern hören wollen. Sie bestätigt den Wunsch nach sicheren Aktien, nach Vermögensbildung durch Aktien, nach freiem Wettbewerb und nach der idyllischen Vorstellung, in kleinen und mittleren Unternehmen gehe es menschlicher zu als in großen Firmen.
Sie redet ihrem Publikum ein, alles wirtschaftlich Problematische lasse sich auf klar eingrenzbare und von der kapitalistischen Marktwirtschaft sauber unterschiedene und aus ihr folglich leicht entfernbare Problembären wie das Monopol- und Finanzkapital reduzieren. Realpolitisch ihr Publikum anzusprechen, heißt für Wagenknecht, die Leute dort abzuholen, wo sie inhaltlich stehen, und sie auch genau dorthin wieder zurückzubringen.
Eine eingehende und fachkundige Analyse und Kritik von Wagenknechts ökonomischer Argumentation kommt zum Ergebnis, dass sie in "einem konfusen, also in sich selbst theoretisch widersprüchlichen Eklektizismus" besteht (Wendl 2022). Der Ordoliberalismus, den sie (als Kritik an der Verfälschung des freien Wettbewerbs durch Kartelle und Monopole) lobt, habe mit dem tatsächlichen Ordoliberalismus wenig zu tun.
Die Gedanken, die sie der Marxschen Kapitalismuskritik sowie dem Keynesianismus entlehnt, wirken wie ausgerissene Vogelfedern. Wagenknecht versteht das Spiel, sich bei einem konservativen Publikum als Linke anzubiedern, die es nicht nur drängt, Goethes Faust auf Veranstaltungen zu besprechen, sondern eine Renaissance des Ordoliberalismus zu fordern.
In ihrer "Deutschland, aber ganz normal"-Gegenfixierung auf woke Zeitgeister kehrt sie die Nähe zu den "einfachen Leuten" hervor. Sie wärmt mit dem ihr eigenen publizistischen Fleiß all die Schuldzuschreibungen auf, mit denen Verteidiger des Kapitalismus dessen Härten auf die Verfälschung des eigentlich guten Kapitalismus zurückführen.
Illusionen über die kapitalistische Marktwirtschaft
Sie blinkt links und bestätigt zugleich die naivsten Illusionen über die kapitalistische Marktwirtschaft. Die Vorstellung, mit freier Konkurrenz und innovativen Unternehmen nutze der Kapitalismus den Reichen und den Armen gleichermaßen, enttarnt Wagenknecht nicht als Ideologie.
Wagenknecht meint, es handele sich um immanente Kritik, wenn sie Kapitalismuskritik so formuliert, dass sie die Ideologien einer freien Marktwirtschaft zum Maßstab wählt. Das Finanz- und das Monopolkapital stellt Wagenknecht als unmoralische Eindringlinge dar, die sich eines Wesens bemächtigen, das von sich aus rein und gut sei.
Das Finanz- und Monopolkapital verderben die schöne heile Welt der kapitalistischen Marktwirtschaft mit lauter Bosheiten: "Kurzsichtigkeit, Maßlosigkeit, Vorliebe für Bluff, Tricks und Bilanzkosmetik sowie einer rücksichtslose Orientierung" (Wagenknecht 2022, 283). Eine Ursache in der kapitalistischen Marktwirtschaft hat dieses Böse nicht. Es ist die Ursache seiner selbst, also aus sich heraus ("endogen") böse.
Das Tröstliche an dieser Botschaft: All diese "Räuberbarone" oder "Schurkenwirtschaft" (Wagenknecht 2022) sind in der kapitalistischen Marktwirtschaft eigentlich unnötig. In der anstrebenswerten Gesellschaft kann fast alles so bleiben, wie es ist, mit Ausnahme von Finanz- und Monopolkapital. Beides lasse sich Wagenknecht zufolge aus der kapitalistischen Marktwirtschaft ebenso problemlos entfernen wie ein überflüssiger Bestandteil aus dem Körper (Blinddarm, Stielwarze oder ähnliches).
Wagenknecht gibt sich als tiefe Denkerin. Faktisch hat sie ein instrumentelles und advokatorisches Verhältnis zur Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre politische Einschätzung, mit der Verdammung des Finanzkapitals, dem Plädoyer für freien Wettbewerb u. a. beim Publikum punkten zu wollen, bildet den Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens.
Wer das Finanzkapital und die Monopole verdamme, der sei auf der richtigen Seite. Auf solchen ebenso oberflächlichen wie nebulösen "Standpunkten" bleibt Wagenknecht stehen. Von ihnen her zieht sie ihre Gedankengänge auf und sucht sich die passenden Theorieversatzstücke zusammen wie eine Elster.
Sie bildet bei ihren Lesern keine Substanz an entwickelten Argumentationen und verändertem Bewusstsein, sondern versorgt deren Vorurteile mit Legitimationen. Wagenknecht macht viel Getöse um eine ebenso konfus wie diffus bleibende Opposition. Ihre Anhänger bewundern sie dafür und bemerken nicht, dass viele der Wagenknecht-Effekte sich gegenseitig aufheben.
Sie "nimmt in die gleichbleibende Form des Gedankens etwas […] Fremdes oder Entgegengesetztes auf. Verkehrung ist nicht nur Umkehrung ins Gegenteil, sondern die Verkoppelung des Wesensverschiedenen […], die dazu führt, mit der gedanklichen Form einer ursprünglichen Wahrheit etwas, das diese Wahrheit wieder aufhebt, zu ergreifen" (Jaspers 1966, 63).
Utopie ohne Utopie
Wagenknecht verhält sich parasitär zu linker Kritik am Kapitalismus, indem sie in das Gewand der Gesellschaftskritikerin schlüpft, tatsächlich aber Loblieder auf die freie kapitalistische Marktwirtschaft singt. Dass diese Verkehrung einer politisch linken Person nicht zugetraut wird, nutzt Wagenknecht. Sie redet den Leuten ein, alles müsse sich verändern, damit alles bleiben könne, wie es in der guten Vergangenheit bereits war.
In ihren Darlegungen wird das Votum für grundlegende Veränderung ununterscheidbar vom Plädoyer für eine Marktwirtschaft, wie sie nur in den Köpfen von deren Ideologen existiert. Wagenknecht bedient den Wunsch nach einer Orientierung, die eine grundlegende Veränderung verspricht, bei der sich nichts von Grund auf verändern muss. Sie bietet eine Utopie ohne Utopie.
Sie greift den Wunsch nach Veränderung auf und verwandelt ihn in die Nachfrage nach ihren Büchern. Die Leser lernen durch sie, die kapitalistische Marktwirtschaft anders zu interpretieren und auf diesem Wege nicht nur zu akzeptieren, sondern gutzuheißen.
Dass Wagenknecht die populärste Person der Linkspartei ist, sagt sowohl etwas über diese Partei aus als auch über die dominierende Öffentlichkeit.
Letztere leistet sich den Luxus, solche Linke zu lieben, die die Öffentlichkeit mit einer paradox anmutenden Mixtur überraschen und mit einer dosierten Diskrepanz unterhalten, aber zugleich in entscheidenden Fragen beruhigenderweise den Konsens bestätigen.
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