Wasserwerfer-Einsatz vor dem Reichstag?
Während eine rechtsoffene Mischszene gegen das Infektionsschutzgesetz auf die Straße geht, scheinen viele Linke die Diskussion über die Biopolitik vergessen zu haben
Etwa 10.000 Menschen haben sich seit heute Vormittag vor dem Reichstag versammelt. Sie protestieren gegen das von ihnen "Ermächtigungsgesetz" genannte Infektionsschutzgesetz, das die Regierung im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat bringen will. Der Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz, mit dem sich die NSDAP 1933 die Macht gesichert hat, ist sicherlich überzogen und wird auch berechtigterweise von Linken kritisiert.
Doch darf man nicht vergessen, dass die Notstandsgesetze, gegen die in den 1960er Jahre Linke und Liberale auf die Straße gingen, damals von der Opposition auch immer wieder mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht wurden. So wurde polemisch verkürzt vom Kampf gegen das NS-Gesetz gesprochen. Doch anders als vor 50 Jahren sind Linke heute kaum vor dem Reichstag. Ein junger Mann, der auch zu den wenigen gehörte, die eine Maske trugen, hat ausgerechnet dem rechten Compact TV gegenüber, das die Demonstration über Livestream übertragen hat, erklärt, dass er gegen rechte Gruppen und Kapitalismus sei und trotzdem an der Demonstration teilnimmt, weil er gegen das Infektionsschutzgesetz ist.
Doch die Mehrheit der Linken, ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch, dürfte wohl eher der Korrespondentin der Zeitung Neues Deutschland, Marie Frank, zustimmen, die heute über eine "rechte Mischszene schrieb: "Sie ist nur ein kleiner erbärmlicher Haufen, der in dieser Stadt nichts verloren und nichts zu sagen hat."
Tatsächlich gibt es für linke und emanzipatorische Kräfte genügend Gründe, Abstand zu einem politischen Geschehen zu halten, bei dem Deutschlandfahnen und "Wir sind das Volk"-Rufe sich mit einer kapitalistischen Mittelstandsideologie verbinden. Und dann gibt es noch die Bet- und Yogafraktion, die alles mit ihrem esoterischen Gesäusel überblendet. Marie Frank hat also Recht, wenn sie fordert, vor diesem Milieu mehr als 1,5 Meter Abstand zu halten.
Wenn sie allerdings kommentiert, dass die in Berlin nichts verloren haben, wiederholt sie den Fehler, den Bürgermeister aller Parteien in meist ostdeutschen Kleinstädten machten, als sie Antifaschisten in Worten aus ihren Orten wiesen. Berlin ist der Ort, wo Gesetze wie das Infektionsschutzgesetz beschlossen werden, und deswegen brauchen die Gegner dieses Gesetzes niemanden fragen, ob sie hier demonstrieren können.
Versammlungsfreiheit gilt auch für die, mit denen man politisch nichts zu tun haben will. Es ist natürlich gut, dass es auch linke Gegenproteste gegen die rechtsoffenen Demonstrationen gibt. Die Proteste waren allerdings eher klein.
Wo bleiben die linken Proteste gegen die Biopolitik à la Spahn?
Doch wie in den letzten Monate lassen die meisten Linken auch hier wieder den Abstand zur autoritären Staatlichkeit missen. Sie überlassen der rechten AfD und der wirtschaftsliberalen FDP die Opposition gegen das Infektionsschutzgesetz im Parlament und der rechtsoffenen Mischszene die Opposition auf der Straße. Dabei hätten die Linken ein eigenes Instrumentarium, um gegen das Infektionsschutzgesetz zu protestieren. Dabei brauchen sie keine NS-Vergleiche zu bemühen.
Es handelt sich bei dem Infektionsschutzgesetz um Biopolitik, also um ein gutes Beispiel, wie mit Krankheiten Bevölkerungspolitik gemacht wird. Diese auf den französischen Philosophen Michel Foucault zurückgehende gesellschaftskritische Theorie wurde über Jahre in vielen Universitätsseminaren diskutiert.
Nun sehen wir seit Monaten, wie weltweit das Coronavirus dazu genutzt wird, um autoritäre Staatlichkeit durchzusetzen. Doch warum nutzt die Linke diese Analysemethoden nicht, in einer Zeit, wo sich diese Biopolitik weltweit durchsetzt? Damit hätte sie auch einen politischen Bezugsrahmen, mit denen sie sich theoretisch und praktisch gegen die Biopolitik à la Spahn äußern könnten.
Quarantäne wegen Erkältung?
Schließlich sind die Risse im herrschenden Block in Bezug auf die Coronamaßnahmen deutlicher geworden. Dass zeigte sich bei beim letzten Treffen zwischen Merkel und den Länderministerpräsidenten. Sie verhinderten, dass die vom Kanzleramt geplanten Verschärfungen sofort durchgesetzt werden konnten.
Auch der Präsident des Bundesärztekammer, Klaus Reinhard, hält die Verschärfungen zurzeit für überflüssig. Zu den geplanten Maßnahmen aus dem Bundeskanzleramt gehörte auch die Isolation von Menschen, die an Erkältungssymptomen leiden. Hier wird das Prinzip der Biopolitik gut erkennbar.
Monatelang wurden alle als Coronaverharmloser bezeichnet, die Corona mit einer Grippe verglichen haben. Und jetzt sollen Menschen, die nur Erkältungssymptome haben, was in der aktuellen Jahreszeit sehr häufig vorkommt, in Quarantäne gesetzt werden? Wie wäre es mit einer satirischen Aktion unter dem Motto "Wir husten Euch etwas", mit der Menschen mit Erkältungssymptomen dagegen protestieren, dass ihre Grundrechte eingeschränkt werden?