Wege aus dem Bildungsnotstand

Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht - wie so viele - einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Leistungen. Frühkindliche Förderung und Ganztagsschulen sollen für eine Trendwende sorgen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt der Volksmund, doch für die schulische Laufbahn, die anschließende Ausbildung, ein Hochschulstudium und die berufliche Karriere gilt diese erwartungsfrohe Annahme offensichtlich nur sehr begrenzt. Fast alle Studien und internationalen Leistungsvergleiche, die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, kommen zu dem gleichen beunruhigenden Ergebnis: Wer aus einem sogenannten „bildungsfernen“ Umfeld stammt und von den Eltern nicht gefördert und unterstützt wird, erzielt in aller Regel schlechtere Lernerfolge als die Schülerinnen und Schüler, die auf anregende Diskussionen, positive Vorbilder oder schlichte Hilfe bei den Hausaufgaben rechnen können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat parteiübergreifend immer wieder auf diese Situation und ihre Folgen hingewiesen.

Oft ist die Problemdichte in Familien, deren Kinder ohne Ausbildung bleiben, überdurchschnittlich hoch: Familiäre Konflikte oder der Verlust eines Elternteils, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Sucht- und/oder Kriminalitätserfahrungen stellen ausgesprochen ungünstige Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche dar. Wie Fachkräfte und Lehrende aus der Praxis wissen, behindern z. T. auch existenzielle Versorgungsmängel wie schlechte Ernährung, Verschuldung und unzureichende Wohnverhältnisse das Lernen und die Konzentration erheblich.

Die soziale Herkunft drückt sich auch in Sprache, Normen und Verhaltensweisen, Lebensstil, Wohnort/Stadtteil und Bildungsverlauf aus und beeinflusst die Berufsorientierung und die Herangehensweise bei der Ausbildungsplatzsuche. Bei der Entscheidung für oder gegen die Besetzung eines Ausbildungsplatzes mit einer bestimmten Person durch einen Ausbildungsbetrieb spielen auch diese nicht-fachlichen Einstellungskriterien eine Rolle.

Bundesministerium für Bildung und Forschung

Fehlende Ausbildungsreife und soziale Probleme

Zu diesem Ergebnis kommt auch eine neue Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft, die auf Daten der PISA-Studie 2003 und eigenen multivariaten Regressionsanalysen basiert. 2004 haben demnach 8,3 Prozent aller Absolventen eine allgemein bildende Schule ohne Abschluss verlassen, bei den Berufsschulen lag der Wert sogar bei 23 Prozent. Der Anteil der nicht ausbildungsreifen Jugendlichen ist damit nach wie vor überdurchschnittlich hoch und beeinflusst das gesamte Bildungs- und Gesellschaftssystem, weil der Weg in die Arbeitslosigkeit oft vorgezeichnet ist und die sozioökonomischen Probleme nicht aus eigener Kraft gelöst werden können. Für eine optimistische Bilanzierung, wie sie das bereits genannte Bundesministerium in selbstzufriedenen „Schlussbemerkungen“ vornimmt – „Die Benachteiligtenförderung als sozialpädagogisch begleitete berufliche Qualifizierung von jungen Menschen mit Förderbedarf hat sich bewährt, sie kann als ein Erfolgsmodell bezeichnet werden.“ – gibt es aufgrund dieser Zahlen wenig Anlass.

Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt zu dem Ergebnis, dass die benachteiligten Schülerinnen und Schüler in vergleichsweise einheitlicher Weise charakterisiert werden können.

Ganz generell zeichnen sich „bildungsarme“ gegenüber „bildungsreichen“ Schülern vor allem durch ein ungünstigeres soziales Umfeld aus, haben sehr viel häufiger Eltern, die nicht mindestens einen Abschluss der Sekundarstufe II vorweisen können und weisen deutlich häufiger einen Migrationshintergrund sowie einen geringeren soziokulturellen Hintergrund auf.

Hans-Peter Klös, Geschäftsführer und Leiter Bildungspolitik und Arbeitsmarktpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft Köln bei der Vorstellung der Ergebnisse

Die Autoren weisen überdies darauf hin, dass 21 Prozent der bildungsarmen Kinder im Ausland geboren wurden, in 86 Prozent ihrer Familien keine klassischen Literaturwerke und in 47 Prozent weniger als 25 Bücher vorhanden sind, dass 40 Prozent überdies nicht wirklich stolz auf ihre Schule sein wollen und sich jedes vierte Kind nach Meinung der Schulleiter in zerrütteten Klassenverbänden durchsetzen muss. Neben dem familiären Hintergrund, dem Fehlen von Büchern und Lernanreizen, Schreibtischen und Computern machen die Autoren ein negatives Klassen- und Schulklima oder das gestörte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern für schlechte Leistungen verantwortlich.

Neue Standards und Kontrollfunktionen

Dieses Ursachenbündel führt nach Meinung der Autoren zu „Bildungsarmut und Humankapitalschwäche“, wodurch nicht nur das Unwort des Jahres 2004 zu neuen Ehren kommen dürfte, sondern tatsächlich hohe gesellschaftliche Kosten und oft dramatische und lebenslange Nachteile für die Betroffenen entstehen. Erfreulicherweise begnügt sich das Institut nicht mit dem Aufzählen dieser negativen Bilanz, die schließlich nur eine unter vielen und von allen anderen kaum substanziell zu unterscheiden wäre. Stattdessen präsentieren die Wirtschaftsforscher eine Reihe überwiegend konstruktiver Vorschläge, wie Bildungsarmut langfristig reduziert werden könnte.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer verstärkten frühkindlichen Förderung und dem Ausbau der Ganztagsschulen. Durch diese Maßnahmen sollen einheitliche Bildungsstandards durchgesetzt und die Betreuungsverhältnisse deutlich verbessert werden. Nach den Vorstellungen des Instituts könnte die Kehrtwende für die deutsche Bildungspolitik bereits im Kindergarten anfangen. Neben einer Evaluierung sämtlicher Einrichtungen werden die Einführung von Bildungsstandards und eine Diskussion über die möglichen Kernkompetenzen gefordert, die Kinder bereits in jungen Jahren besitzen sollten.

Auf die Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland, denen die Autoren „ein relativ geringes Qualifikationsniveau“ attestieren, kommen unter diesen Umständen neue Aufgaben zu. Um den steigenden Anforderungen gerecht werden zu können, muss ihre Ausbildung angepasst und qualitativ verbessert werden. Außerdem könnte sich eine Erhöhung der Teilnahmequote an den Tageseinrichtungen positiv auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Eine zentrale Forderung des Instituts lautet deshalb: Der Besuch des Kindergartens soll im letzten Jahr vor Schulbeginn bundesweit verpflichtend und obendrein kostenfrei sein.

Um in späteren Jahren das außerschulische Lernumfeld zu verbessern, wird ein massiver Ausbau der Ganztagsschulen vorgeschlagen, wie er in vielen europäischen und OECD-Ländern bereits umgesetzt wurde. Der Ausgestaltung der konkreten Lehr- und Lernsituation kommt dabei besondere Bedeutung zu. Neben regelmäßigen Leistungsüberprüfungen und einer Ausweitung der individuellen Fördermöglichkeiten plädieren die Autoren für die Einstellung von zusätzlichen Schulpsychologen, eine leistungsabhängige Vergütung der Lehrer, die Einführung von gemeinsamen Bildungsstandards, eine höhere Autonomie der einzelnen Schulen bei gleichzeitiger, regelmäßiger Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit.

Damit die Schulverantwortlichen diese Entscheidungsfreiheit nicht zu ihren Gunsten ausnutzen, sondern vorrangig die Interessen der Schüler im Blick haben, sollten die Schulen gleichzeitig stärker als bislang für die Bildungserfolge oder -misserfolge ihrer Schüler Rechenschaft ablegen müssen. Dafür ist es notwendig, die Lernergebnisse der Schüler beispielsweise durch zentrale Abschlussprüfungen oder standardisierte Tests zu kontrollieren und die Ergebnisse der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Hans-Peter Klös

Um bildungsferne Jugendliche besser als bisher in das Berufsleben integrieren zu können, halten die Autoren aber auch eine Absenkung von Ausbildungsschwellen durch flexiblere Vergütungen für nötig. Außerdem könnten durch mehr Praxisnähe, eine stärkere Berücksichtigung der Interessen und Fähigkeiten von leistungsschwächeren Jugendlichen und ein Steuer-Transfer-System, das niedrige Einkommen in überschaubarem Rahmen aufstockt, zusätzliche Leistungsanreize geschaffen werden.

Ob die Bereitschaft aller Beteiligten, sich einer so gezielten, lang andauernden und gemeinschaftlichen Anstrengung zu unterziehen, überhaupt gegeben ist, lässt sich derzeit kaum voraussagen. Ebenso schwierig werden die zahlreichen komplexen Finanzierungsfragen zu beantworten sein, die mit vielfältig vernetzten Bildungsprojekten dieser Größenordnung verbunden sind. Unerfreulicherweise muss aber noch aus einem viel banaleren Grund bezweifelt werden, dass das Institut der deutschen Wirtschaft mit seinem Verstoß Erfolg hat. Die zahlreichen Probleme sind, so bündig sie hier zusammengefasst wurden, den zuständigen Politikern, Ministerialbeamten, Schulleitern, Lehrern und Eltern seit langem bekannt. Das gilt auch für die aussichtsreichsten Lösungsstrategien, trotzdem gibt es bislang kaum Anzeichen einer Kurskorrektur. Dabei müsste die Schaffung halbwegs vergleichbarer Voraussetzungen für alle Kinder und Jugendlichen doch das Minimalziel einer Bildungsreform sein.