Wehrpflicht – Wer nicht?
Debatten über Rekrutierungsproblem: Es tut sich eine neue, ganz Große Koalition auf. Medienschaffende befeuern das einseitig. Gleichschrittgefahr?
Die beiden ARD-Hauptstadtstudio-Journalisten Uli Hauck und Tim Aßmann beginnen ihren Beitrag auf Tagesschau.de unter der Überschrift "Bei Antwort (vielleicht) Wehrdienst" mit folgender Einleitung.
Große Pläne hatte Verteidigungsminister Pistorius für die neue Wehrpflicht. Durch "limitierende Faktoren" ist davon am Ende ein Fragebogen übrig geblieben. Reicht der freiwillige Auswahl-Wehrdienst?
Der Beitrag ist nicht als Kommentar markiert, was bei zwei Autoren auch ungewöhnlich wäre. Er wird in der Desktop-Version als "Analyse" gelabelt. In einer solchen Analyse kann auch die Meinung der Medienschaffenden eine Rolle spielen.
Meinung in der journalistischen Analyse
Allerdings sollten in der Regel umfassende und vielfältige Sachinformationen im Mittelpunkt stehen. Aktuelles Geschehen wäre auch kritisch in verschiedener Hinsicht infrage zu stellen. Die Ansicht der Verfasser dürfte am ehesten am Schluss einer mehrteiligen Berichterstattung stehen.
"Reicht" das oben Zitierte für den Einstieg in eine solche journalistische Analyse, zumal bei dem deutschen Leitmedium, der ARD-Tagesschau?
Es ist in diesem Beispiel, das kein Einzelfall ist, jedenfalls von vornherein mehr als "reichlich" Meinung enthalten, vom ersten Satz an, was auf ein entsprechendes "Framing", also eine unausgesprochene Rahmensetzung verweist.
Dieses Framing kann mit dem gemeinsamen Nenner "Rekrutierungsproblem" beschrieben werden, den offenbar Journalisten sowie zitierte Politiker und Militärs teilen: "Große Pläne" haben sich offenbar zerschlagen. Es sei – leider, leider – kaum etwas davon übrig geblieben.
Was ausgeblendet wird
Und der Fragesatz "Reicht der freiwillige Auswahl-Wehrdienst?" bringt es schon früh auf den Punkt: Die Verfasser schreiben gerade nicht: "Ist der freiwillige Auswahl-Wehrdienst angemessen? Ist er sinnvoll?"
Nein, ihr Urteil steckt bereits in dieser, ihrer Formulierung: Dieser Auswahl-Wehrdienst kann nur als ein minimales Minimum gelten – eigentlich aber sollte oder müsste oder muss es "mehr Wehrdienst!" sein.
Es gibt in der Gesellschaft ja weiterhin durchaus Stimmen, welche die Tendenz "Kriegstüchtigkeit/Aufrüstung/Wehrpflicht" grundsätzlich kritisieren, unter anderem aus friedensbewegten Perspektiven. Im Parteienspektrum etwa Leute der Linkspartei oder des BSW.
Weder in diesem langen Tagesschau-Beitrag noch in ähnlich ausführlichen Beiträgen dort kommen allerdings solche alternativen Stimmen zu Wort.
Der ganz große Konsens zu "mehr Militär!"
Apropos "alternativ": Im rbb-Inforadio war am Mittwoch, 12.6., in den Nachrichten zu hören (leider ist davon derzeit keine Spur mehr im Netz auffindbar), dass der "verteidigungspolitische Sprecher" der AfD-Bundestagsfraktion, Rüdiger Lucassen, den Pistorius-Vorschlag kritisiert habe. Ohne eine Wehrpflicht werde es nicht gehen. Und tatsächlich hatte sich der AfD-Mann laut seiner Bundestagsfraktion aktuell so geäußert:
Pistorius weiß, dass Personalbedarf und Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr nur durch einen verpflichtenden Wehrdienst gesichert werden können.
Das ist doch mal eine Ansage! Wie vielen etablierten Medien und Politikern, siehe oben, geht es auch dem AfD-Politiker um eine "Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr". Also um mehr Militär. Kein Wunder wahrscheinlich bei einem Oberst a.D., der laut eigenen Angaben einst auch Referent bei der Nato und im Bundesverteidigungsministerium war.
Da zeichnet sich ja womöglich in der nicht unwichtigen Frage von Krieg und Frieden eine ganz Große Koalition ab. Vielleicht eine neue "Koalition der Willigen"? Die "demokratische Mitte" und die AfD im Gleichschritt. Beim Marschieren in Richtung Militarisierung. Befeuern von Bellizismus.
Worüber mag uns das stolpern lassen?
Angesichts von Anzeichen einer Remilitarisierung der seinerzeit jungen BRD hatte der Dichter Bertolt Brecht, der sich für ein Leben in der DDR entschieden hatte, vor einem Dritten Weltkrieg gewarnt und am 26. September 1951 einen mahnenden "Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller" gerichtet. Mit den bekannten Worten, die leider vielerorts vergessen scheinen:
Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.
Bertolt Brecht