Berichte über den Jahrestag der Landung in der Normandie: Alternative Alliierte

Verdienstvoll, aber nicht exklusiv: US-Truppen bei der Normandie, 1944. Bild: Everett Collection, Shutterstock.com

Was ist Geschichte, was machen Medien aus ihr? Die Frage stellte sich diese Woche mit Blick auf das Weltkriegsgedenken. Ein Telepolis-Mediensplitter.

80 Jahre D-Day – das Jubiläum der Landung in der Normandie ist ein Thema in fast allen Medien. Wenig überraschend wird die Berichterstattung hierzulande von den geostrategischen Konfliktlagen geprägt. Warum Attribute manchmal gerade in Nachrichten wichtig sind – und inwiefern auch der 6. Juni 1944 eine nicht ganz unwichtige "Vorgeschichte" hat.

In sehr vielen deutschen Medien hieß es aus Anlass des 80. Jahrestages des "D-Day" am 6. Juni 2024, "die Alliierten" wären damals, im Jahr 1944, an der Westküste Frankreichs gelandet. Exemplarisch seien an der Stelle die öffentlich-rechtlichen Medien ARD-Tagesschau, ZDF-heute und rbb-inforadio genannt, letzteres hier pars pro toto per Screenshot dokumentiert, weil nicht per Link aufzurufen:

Zitat auf der Homepage des rbb24-Inforadio:

In Frankreich haben die Feierlichkeiten zum Gedenken an den 80. Jahrestag des Einsatzes der alliierten Soldaten am sogenannten D-Day begonnen. Am 6. Juni 1944 landeten knapp 160.000 Soldaten in der Normandie und läuteten damit die Befreiung Europas von der Naziherrschaft ein (...).

Diese Darstellungen können kaum als Flüchtigkeitsfehler oder Tippfehler gelten, wie sie ja leider vielerorts in den Medien – auch mir und auch hier – immer wieder passieren. Nein, denn der Sprachgebrauch ist weitgehend einheitlich, man könnte sagen: unisono. Auch in vielen Print- und reinen Onlinemedien seit Jahren mit zunehmender Tendenz zu finden – und mittlerweile, 2024, fast überall gleichlautend. Was es nicht besser macht.

Alliierte hatten schon vorher entscheidende Schlachten geschlagen

Fakt ist und bleibt: "Die Alliierten" der Anti-Hitler-Koalition sind definitiv nicht erst an jenem Tag in Europa gelandet. Denn wenn es historisch und weltpolitisch nicht so ernst wäre, könnte man sagen wie im Märchen von dem Hasen und dem Igel: Man war bereits da. Schon immer. Nämlich im Osten von Europa.

Die Sowjetunion, auch wenn dieser Umstand derzeit kaum noch präsent ist hierzulande, war eine der drei alliierten Hauptmächte, neben den USA und Großbritannien. Um darüber aufgeklärt zu sein oder zu werden, dafür reicht sogar die Online-Enzyklopädie Wikipedia:

Als Anti-Hitler-Koalition (englisch Anti-Hitler coalition bzw. Grand Alliance, russisch Антигитлеровская коалиция) wird das Militärbündnis aus den drei alliierten Hauptmächten Großbritannien, Sowjetunion und USA mit weiteren Staaten bezeichnet, das sich im Zweiten Weltkrieg den Achsenmächten entgegenstellte: dem Deutschen Reich unter Führung Adolf Hitlers, dem faschistischen Königreich Italien und dem Kaiserreich Großjapan. Aus der Anti-Hitler-Koalition gingen 1945 die Vereinten Nationen hervor (...) Die eigentliche Gründung der Anti-Hitler-Koalition mit dem Eigennamen Vereinte Nationen fand nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und der Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 statt. 26 Staaten sandten Delegierte zur Arcadia-Konferenz, die vom Dezember 1941 bis Januar 1942 in Washington, D.C. Stattfand (…) Neben den USA, Großbritannien und der Sowjetunion beteiligten sich Australien, Belgien, China, Costa Rica, die Dominikanische Republik, El Salvador, Griechenland, Guatemala, Haiti, Honduras, Indien, Jugoslawien, Kanada, Kuba, Luxemburg, Neuseeland, Nicaragua, die Niederlande, Norwegen, Panama, Polen, Südafrika und die Tschechoslowakei. Die von Deutschland besetzten Staaten nahmen durch Vertreter ihrer Exilregierungen teil. Sie alle nahmen am 1. Januar 1942 eine gegen den Dreimächtepakt gerichtete Erklärung an, die Deklaration der Vereinten Nationen.

Dass der historisch begründete Ausdruck "Alliierte" mittlerweile im herrschenden Sprachgebrauch ausdrücklich die Sowjetunion ausschließt, lässt sich kaum anders denn als Retuschieren von Geschichte beschreiben.

Machtpolitische Interessen

Ein besonderer Fall offenbar von "Geschichte ist das, was die Sieger aufschreiben". Zu denen anscheinend die UdSSR nicht mehr gehören soll. Offenbar ist es machtpolitische und leitmediale Praxis, mit Blick auf die aktuelle geostrategische Konfrontation und die russische Aggression gegen die Ukraine seit Februar 2022, dem sowjetischen Nachfolgestaat Russland diesen, womöglich positiv konnotierten "Alliierten"-Status mehr denn je abzusprechen.

Nebenbei: Alljährlich im Februar, beim Gedenken an die Bombardierung Dresdens 1945 durch "alliierte Bomber", fällt dieser Sprachgebrauch auch auf: Es waren aber tatsächlich britische und US-Bomber und eben keine sowjetischen, welche diese Angriffe flogen und von denen aus die Bomben abgeworfen wurden.

Blick auf Bombardierung Dresdens

Manchmal sind in Nachrichten, sofern sie denn informationsbetont sein sollen, Attribute als Eigenschaftswörter nicht nur möglich, sondern sogar nötig, um weitestgehende Objektivierung zu erreichen.

Sowohl bei der Bombardierung Dresdens als auch bei der Landung in der Normandie wäre es treffend, was die drei Hauptalliierten angeht, schlicht von den "westlichen Alliierten" zu reden. Eigentlich nicht so schwer, sofern es um die Sache und um bestmögliche Sachlichkeit ginge.

Plötzlich zählt nur noch der D-Day

Der besondere Dreh am D-Day dieses Jahres scheint allerdings folgender: Mit dem D-Day wäre, siehe oben, die Befreiung Europas von der Naziherrschaft "eingeläutet" worden. Wie bitte? Kein Wort von der ersten großen Niederlage der deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee vor Moskau im Winter 1941/1942. Keine Rede von der Sprengung der faschistischen Blockade Leningrads durch sowjetische Truppen im Januar 1943.

Und anscheinend auch keine Ahnung von den vernichtenden Niederlagen der Armeen Hitlerdeutschlands bei Stalingrad und im Kursker Bogen im Jahre 1943. All das hätte nicht auf seine Weise bereits längst schon "die Befreiung Europas von der Naziherrschaft eingeläutet"?

Solche aktuelle Geschichtsvergessenheit oder eben extrem einseitige Darstellung historischer Sachverhalte in journalistischen Medien lässt sich kaum anders interpretieren denn als Anpassung, ja Über-Anpassung an das herrschende macht- und geopolitische Klima. Weil nicht sein kann, was nicht (mehr) sein sollte?

Oder wie es der, Verzeihung, russische Literat Anton Tschechow (1860 bis 1904) vor vielen Jahren schon tiefschürfend formulierte: "Alles in der Welt wird durch die Geschichte gerechtfertigt."