Selenskyj-Besuch in Berlin, der Karlspreis und ein Vorstoß zum Kampf gegen Russland
Ukraine-Präsident zu Gast in Deutschland. Neue Rüstungslieferung beschlossen. CDU-Mann stellt Einsatz deutscher Waffen gegen russisches Gebiet zur Debatte.
Über Wochen hinweg wurde darüber gerätselt – erst am Samstag wurde offiziell bestätigt, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dieses Wochenende nach Berlin und zur Karlspreis-Verleihung nach Aachen kommt. Schon vor einigen Wochen gab es Gerüchte über einen Besuch, danach wurde wegen Geheimnisverrats gegen Personen ermittelt, welche die Meldung öffentlich gemacht hatten.
Es ist ein ungewöhnliches Vorgehen, dass ein Präsidentenbesuch wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird. Schließlich gibt es um Besuchen anderer Politiker, die auch sehr gefährdet sind – wie US-Präsidenten oder israelische Ministerpräsidenten – keine solche Geheimniskrämerei.
Neue Waffen für Angriffe auf russisches Gebiet?
Da stellt sich schon die Frage, warum ausgerechnet der Selenskyj-Besuch in Deutschland als solche Besonderheit gilt? Lag es vielleicht an der besonderen historischen und politischen Bedeutung? Schließlich hat die deutsch-ukrainische Kooperation eine geschichtliche Dimension, die zu den mantraartig vorgetragenen Behauptungen deutscher Politiker, mit dieser Vergangenheit gebrochen zu haben, im Widerspruch steht.
Bekannt ist, dass Selenskyj aus einem Land kommt, in dem man diese Vergangenheit groß herausstellt. Dazu gehören Denkmäler und Straßen, die an den Antisemiten Stepan Bandera erinnern. Auch die Abfolge von Selenskyjs Reisezielen lässt historisch informierte Menschen aufhorchen.
Auf das herzliche Treffen mit Italiens ultrarechter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Rom folgt Deutschland, als würde die berüchtigte deutsch-italienische Achse der 1930er-Jahre wieder reaktiviert. Zudem geht mit dem Selenskyj-Besuch die Aufrüstung der Ukraine in eine neue Runde. Die Bundesregierung hat angekündigt, die Ukraine mit einem umfangreichen Rüstungspaket im Wert von mehr als 2,7 Milliarden Euro unterstützen. Geplant sei unter anderem die Lieferung von Luftabwehrsystemen, Kampf- und Schützenpanzern, Artilleriemunition und Aufklärungsdrohnen.
Vorstoß eines CDU-Politikers
Diese Waffen könnten auch russisches Territorium erreichen. Der CDU-Politiker Johann Wadephul begrüßt das mittlerweile ausdrücklich. Er fordert weitere schwere Waffen für die Ukraine, um den Krieg auch direkt nach Russland zu tragen. Weil es scheinbar keine außen- und innenpolitischen Hürden gibt, bekommen solche Forderungen immer mehr Gehör und befördern den deutschen Geschichtsrevisionismus.
80 Jahre nach dem in Stalingrad der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, die immer nur als "Russland" bezeichnet wurde, abgewehrt werden konnte, kann ein deutscher Politiker der sogenannten Mitte wieder über Angriffe auf Russland räsonieren, ohne dass es große Empörung in der Bevölkerung gibt.
Das ist auch nicht verwunderlich. Der deutsche Geschichtsrevisionismus ist der Kitt, der die in Deutschland für die nationale Formierung sorgt, die die Aktienkurse von Konzernen wie Rheinmetall steigen lassen. Da gab es schon zum ersten Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine den als Kulturaktionen deklarierten Aufbau eines in der Ukraine erbeuteten russischen Panzers, dessen Rohr direkt auf die russische Botschaft in Berlin zielte.
Zu diesen deutschen Geschichtsrevisionismus gehört auch das Verbot russischer und sowjetischer Symbole zum Jahrestag der Niederlage des Nationalsozialismus am 8./9. Mai. Da ist es dann nur konsequent, wenn deutsche Politiker wieder über Waffen räsonieren, die auch wieder Russland angreifen können.
Nationalistische Propaganda und deutscher Geschichtsrevisionismus
Im vergangenen Jahr waren manche deutsche Politiker noch vorsichtiger, weil sie die militärische Reaktion Russlands nicht einschätzen konnten. Da gab es noch die Angst davor, dass Bomben auch in Deutschland landen könnten. Deutschland als Opfer von ehemaligen Anti-Hitler-Alliierten gehörte schon zum Kern der deutschen Friedensbewegung in den 1980er-Jahren.
Mittlerweile hat sich in den Militärkreisen der Nato die Ansicht durchgesetzt, die Möglichkeiten des russischen Militärs seien begrenzt und Deutschland daher kaum von Gegenmaßnahmen betroffen. Daher wächst der Übermut mancher Politiker, die Russland Stalingrad nie verziehen haben. Da wird ein Wadephul keine Ausnahme bleiben.
Wie gut, dass man wie schon vor 1945 wieder eine Strömung des ukrainischen Nationalismus als Verbündeten hat. Dass die zu mindestens im Westen der Ukraine hegemonial scheint, ist unbestritten. Doch diese Strömung repräsentiert keineswegs die gesamte ukrainische Bevölkerung, schon gar nicht in den ukrainischen Ostgebieten. Das ist auch nicht verwunderlich, die Erzählung vom einheitlichen heldenhaften Volks ist immer eine nationalistische Projektion. Das war während des Jugoslawien-Krieges einer nationalismuskritischen Linken noch bekannt.
Und wo bleibt die Militarismus-Kritik?
Wo aber sind sie heute geblieben, wenn Selenskyj der Karlspreis im Namen des "ukrainischen Volkes" verliehen und auch während des gesamten Besuches diese nationalistische Phrase immer wieder bemüht wird? Danach gehören alle die Parteien und Organisationen in der Ukraine, die nach 2014 verboten und die Menschen, die in der Ukraine im letzten Jahrzehnt verfolgt wurden, offenbar nicht zum "ukrainischen 'Volk"?
Dazu zählen natürlich auch die 42 ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, die am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrannten – beziehungsweise nach Sprüngen aus dem Fenster starben. Für den Brand verantwortlich waren ukrainische Ultranationalisten, die sich vorher Straßenschlachten mit Anti-Maidan-Aktivisten geliefert hatten.
Niemand wurde dafür bestraft, weder 2014 noch in Selenskyjs bisheriger Amtszeit. Er muss sich dafür während eines Deutschlandbesuchs auch bestimmt nicht vor einer Außenministerin rechtfertigen, die sonst von China bis Israel überall Menschenrechte anmahnt.
Auch in Teilen der außerparlamentarischen Linken ist es heute verpönt, an die Toten im und vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa zu erinnern, weil man dann ja Gefahr liefe, "Putin-Propaganda" zu wiederholen. Als wären die Toten von Odessa ein russisches Narrativ, wie es heute gerne heißt – und als wären sie nicht Opfer rechter Gewalt von prodeutschen ukrainischen Nationalisten.
Der Selenskyj-Besuch in Deutschland macht einmal mehr die Machtlosigkeit sämtlicher Fraktionen der Opposition gegen die Ukraine-Politik in Deutschland deutlich. Obwohl dieser Besuch seit Wochen bekannt war, gab weder in Berlin noch in Aachen relevante Manifestationen gegen jeden Nationalismus und jeden Militarismus.
Wo bleiben die Tausenden, die am 25. Februar in Berlin Teil der viel diskutierten Kundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin zusammenkamen? Obwohl Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ständig davon sprachen, dass dies der Anfang einer neuen Friedensbewegung sein werde – was einige befürworteten und viele andere befürchteten – blieb es eben bei der Ankündigung.
Was am Karlspreis kritikwürdig ist
Was wäre denn ein besserer Termin für eine solche Kundgebung, als ein Tag, an dem neue massive Waffenprogramme vorgestellt werden? Und wo bleiben die außerparlamentarischen Gruppen, die sich in den letzten Jahrzehnten das Augenmerk auf den Kampf gegen jeden Nationalismus auf die Fahne geschrieben hatten?
Sie haben in der Vergangenheit auch die Verleihung des Karlspreises und seine Geschichte kritisiert. Was da als Würdigung des vereinigten Europa daher kommt, ist vor allem die Ideologie der Verteidigung des Abendlandes mit deutschnationaler Note. So heißt es in der Entstehungsgeschichte eindeutig:
Daher haben eine Anzahl Bürger unserer Stadt Aachen, dieser durch ihre Geburt oder durch Erfüllung ihrer Lebensaufgabe auf immer verbunden, beschlossen, einen Internationalen Preis der Stadt Aachen zu stiften, der in Erinnerung an den großen Begründer abendländischer Kultur "Karlspreis der Stadt Aachen" genannt werden soll.
Dass ein mittelalterlicher Feudalherr, der all seine Feinde vernichtete, beispielsweise während der Feldzüge gegen die Sachsen, zum Vorkämpfer des Abendlandes ausgerufen wird, müsste eigentlich klarmachen, welche reaktionären Hintergründe dieser Preis hat.
Es gab auch in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste gegen den Preis und die Politiker, die ihn bekommen haben. Auch in diesem Jahr gab es Widerspruch unter anderem von Sahra Wagenknecht und verschiedenen politischen Kleingruppen, die sofort als Querfront delegitimiert werden sollten. Über die Berechtigung der Kritik an manchen der beteiligten Gruppen kann hier nichts gesagt werden.
Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer
Vielleicht wäre die beste Antwort der Gegner von Krieg und Militarismus auf das Selenskyj-Event der Militaristen und Abendlandverteidiger die Beteiligung am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer morgen, am 15. Mai. In Berlin werden an diesen Tag Pazifisten aus der Ukraine, Belorussland und Russland gemeinsam diskutieren. Aus der Ukraine soll der Mitbegründer der dortigen Pazifistischen Bewegung Yurii Sheliazhenko daran teilnehmen.
Er und die anderen Teilnehmer der Diskussion verdienen tatsächlich einen Friedenspreis – allerdings bestimmt keinen, der nach einem kriegerischen Feudalherrn bekannt ist und auch keinen Preis, der an ein "Volk" verliehen wird.