Weiße auf dem Mond
Über Rassismus. Kommentar
Als die erste amerikanische Mondmission mit Apollo 11 im Jahr 1969 startete war das ein Weltereignis, dem globale Aufmerksamkeit sicher war. "I can't pay no doctor bill. (but Whitey's on the moon)", sang Gil Scott-Heron ein Jahr später. Zur selben Zeit entstand auch sein Gedicht "The Revolution Will Not Be Televised", das heute, leicht abgewandelt, wieder zum Slogan unterschiedlichster Protestbewegungen in aller Welt avanciert. Das kleine Wort 'not' hat im Zeitalter von Smartphones und Social Media ausgedient. Was passiert, das landet auch in den Medien. Wer Stimmen unterdrücken will, hat im Jahr 2020 eher schlechte Karten.
Und so kam es, dass am 3. Juni wieder mal zwei weiße Männer ins Weltall aufbrachen, als nach jahrelanger Vorbereitung SpaceX den Flug zur ISS antrat. Nur interessiert es diesmal fast niemanden. Die vermeintliche Revolution der Raumfahrt bleibt ein Ereignis unter vielen. Begeistern können sich dafür allenfalls noch Experten und Raumfahrt-Enthusiasten. Im Medienecho bleibt es eher eine Randnotiz.
Die Corona-Krise ist das wichtigere Thema, und es mutet einigermaßen absurd an, dass man sich inmitten einer Pandemie mit 400.000 Toten für die xte Mission reicher Männer in den Orbit interessieren sollte. Zumal wenn nahezu zeitgleich der brutale Mord eines US-Polizisten an einem Schwarzen demonstriert, dass die Fähigkeit der Menschheit, ins All zu fliegen, eher wenig über ihren Zivilisationsgrad aussagt.
Was heute nicht mehr unbedingt allgemein bekannt ist: Mit "The Revolution Will Not Be Televised" richtete sich Scott-Heron explizit an ein schwarzes Publikum, das in der von Weißen dominierten Medienwelt keine Stimme hat. Man könnte meinen, das habe sich in den letzten fünfzig Jahren geändert, in den USA, aber auch in Deutschland. Immerhin gibt es Journalistinnen und Journalisten, Moderatorinnen und Moderatoren, die nicht weiß sind.
Aber nach wie vor ist ihre Rolle marginal, vor allen in den medialen Führungsetagen und deren Perspektive, die so weiß ist, dass sich noch immer niemand Fragen stellt, wenn bei Sandra Maischberger eine komplett weiße Talkrunde über Rassismus debattieren soll und die Moderatorin es dann bei der auf öffentlichen Druck über diese Absurdität hin zugeschalteten schwarzen Mitdiskutantin komplett versemmelt. Es ist peinlich und ein Anlass für Verzweiflung.
Der Generalverdacht ist angebracht
Ebenso wie die Tatsache, dass die größten Demonstrationen gegen Rassismus seit Jahrzehnten der ARD keinen Brennpunkt wert sind, weshalb dieser von der Comedienne Carolin Kebekus auf einem späten Sendeplatz nachgeholt werden muss. Wie es Moderatorin Shary Reeves so treffend auf den Punkt brachte: "Willkommen im ersten deutschen weißen Fernsehen."
Nein, der Rassismus und auch rassistisch motivierte Polizeigewalt sind kein exklusives Problem der USA. Es ist auch ein deutsches Problem. Es ist unser aller Problem. Dass Rassismus im Gegensatz zu den Siebzigern heute nicht mehr salonfähig erscheint, bedeutet nicht, dass er kein Thema mehr ist.
Er wird ein Thema bleiben, solange Hautfarbe und Herkunft für Menschen in weißen Gesellschaften zu Nachteilen führen, solange Menschen, die nicht weiß sind, mit der ganzen Palette des Othering bedacht werden, solange Weiße nicht bereit sind, ihr Weiß-Sein und ihren allein dadurch privilegierten Status zu reflektieren und zu hinterfragen (von jenen, die meinen, diese Privilegien stünden ihnen zu, ganz zu schweigen...).
Natürlich hat nicht nur die US-Polizei ein Rassismusproblem, sondern auch die deutsche, und zwar kein "latentes", wie SPD-Chefin Esken vor ihrem Rückzieher meinte, sondern ein gewaltiges. Kaum ein Tag vergeht ohne neue "Einzelfälle" von rassistischer Diskriminierung, Polizeigewalt und Polizeikontakten in die rechtsextreme Szene oder offen angewandtem racial profiling – obwohl das de facto illegal ist. Dass die Polizeigewerkschaften ebenso wie die meisten Parteien im Bundestag vor diesem Hintergrund meinen, immer wieder betonen zu müssen, ein Generalverdacht sei unangebracht, macht stutzig. Natürlich ist er angebracht.
Die Umkehrung der Beweislast
Das zeigt auch der aus derselben Richtung kommende Aufschrei über das neue Gesetz in Berlin, das dafür sorgen soll, das Menschen, die von Polizisten, Beamten und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes diskriminiert werden, den Klageweg und die Aussicht auf Schadensersatz und Schmerzensgeld eröffnet. Und zwar unter Umkehrung der Beweislast. Die Beklagten müssen nachweisen, dass es keine Diskriminierung gab. Das ist gut so. Denn bislang verlaufen Anklagen gegen Beamte in aller Regel im Sand.
Beamte sagen nicht gegeneinander aus, weil sie aus falsch verstandener Loyalität handeln, und Staatsanwälte wollen nicht gegen Beamte vorgehen, mit denen sie eng zusammenarbeiten. All diese Probleme sind lange bekannt, getan wird bislang nichts dagegen. Dass sich unter diesen Umständen Rassismus und rechtsradikale Positionen ausbreiten können, ist kein Wunder. Es fehlt neben dem öffentlichen der juristische Widerspruch. Wenn unter den Beamten Täter geduldet werden, ist das ein Versagen des Rechtsstaates.
"Wie soll der rechtschaffene Bürger der Berliner Polizei vertrauen können, wenn es selbst deren Landesregierung offenbar nicht tut?", fragt der bayerische Innenminister. Korrekt müsste die Frage lauten: Wie soll der Bürger der Polizei vertrauen, solange sie sich weigert, die Tatsache anzuerkennen, dass sie ein gewaltiges Problem mit strukturellem Rassismus hat?
Es kommt dann immer wieder das Gegenargument, die Polizei sei ein Spiegel der Gesellschaft, also gebe es da natürlich 'vereinzelt', 'manchmal', einzelfallweise Rassismus. Zum einen stimmt das nicht. Die Polizei ist kein Spiegel der Gesellschaft, sondern, auch das ist bekannt, ein Magnet für Menschen, die tendenziell hierarchischen bis autoritären Strukturen zugeneigt sind - ebenso wie die Bundeswehr, was unlängst der Extremfall des KSK zeigte.
Aufgabe ist primär die Deeskalation
Zum anderen steht ein Beamter qua seines Status und seiner Uniform für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassung. Wer Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert, der steht nicht auf dem Boden dieser Verfassung und hat folglich auch im öffentlichen Dienst nichts zu suchen - und erst recht nicht im Dienst an der Waffe. Dasselbe gilt für Polizisten, die nicht verstanden haben, dass ihre Aufgabe primär die Deeskalation ist.
Und man muss hier tatsächlich niedrigschwellig ansetzen. Dass Beamte mit Kontakt in die rechtsextreme Szene und solche, die klar verfassungsfeindliche Positionen vertreten, nicht tragbar sind, ist klar. Rassistische Sprüche, 'kleinere' Diskriminierungen oder das Nichternstnehmen von Menschen, die Rassismus zur Anzeige bringen wollen, gilt hingegen offenbar nicht nur in den Behörden, sondern auch in zu großen Teilen der Bevölkerung als Kavaliersdelikt. Was es mitnichten ist.
Schon vereinzelte rassistische oder anderweitig diskriminierende Aussagen sollten Grund genug sein, um das Gespräch mit dem Beamten zu suchen und ihn an die Bedeutung seiner Position zu erinnern. Hilft das nicht weiter und kommt es zu weiteren vergleichbaren Vorfällen muss die Kündigung und die Aberkennung des Beamtenstatus die Konsequenz sein.
Wenn sich über Jahrzehnte allenfalls minimal etwas ändert
Bevor nun ein falscher Eindruck entsteht, sei festgestellt, dass der Rassismus keineswegs ein alleiniges Polizeiproblem ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Da ist die rechtsradikale AfD, deren Chef Meuthen reflexhaft und vorhersehbar einwirft, dass es auch "Rassismus gegen Deutsche" gebe, nur die Spitze des Eisbergs.
Wobei er freilich nicht den Rassismus gegen Deutsche aufgrund ihrer nicht weißen Hautfarbe meint, in dem seine Parteikollegen und deren Wähler Profis sind. Nein, er meint wohl eher den Gegenwind, den seine Klientel zum Glück regelmäßig bekommt, weil sie rassistische Hetze mit von der Meinungsfreiheit geschützten Äußerungen verwechselt.
Es war 1989, als James Baldwin fragte: "How much time do you need for your progress?" - als Antwort auf die von Weißen immer wieder vorgebrachte halbgare Ausrede, gesellschaftliche Entwicklungen wie die Abkehr von rassistischen Strukturen bräuchten halt Zeit.
Wenn sich aber über Jahrzehnte allenfalls minimal etwas ändert, sind solche Ausflüchte doch rasch als das erkennbar, was sie sind: Ein verklausuliertes "Wir wollen uns aber nicht ändern. Wir halten Diskriminierung für unser gutes Recht!" Dasselbe steckt hinter dem Aufschrei gegen das neue Anti-Diskriminierungsgesetz in Berlin, das längst deutschlandweit eine Selbstverständlichkeit sein sollte.
Ebenso wie es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass das Straßenbild demokratischer Staaten nicht der richtige Platz ist für Denkmäler von Kolonialisten, Rassisten und Mördern. Es ist eine Zumutung, dieses Zeug tagtäglich sehen zu müssen und ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung, dass London, Brüssel und einige weitere Städte nun vorangehen und diese Gebilde entfernen. Ob man sie auf die Müllhalde bringt oder in Museen als Mahnmale erhält, wird dann noch Diskussionsgegenstand sein.
Wenn, wie unlängst in London, die rechtsextreme Szene aufmarschiert, um Statuen zu schützen, dann sollte das das letztendliche Argument für deren Entfernung sein. Wenn die Briten es schaffen, die Statue des Sklavenhändlers Robert Milligan zu stürzen, wird es Zeit, das Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm II. an der Hohenzollernbrücke in Köln von seinem unverdienten Sockel zu stoßen.
Und wenn wir schon dabei sind: Derselbe Umgang gebührt Rassisten im Alltag, in der Gesellschaft, im Freundeskreis, in der Familie. Unwidersprochener Rassismus hat keinen Platz mehr im Jahr 2020. Und Rassisten haben kein Recht auf gesellschaftliche Integration.