Weißes Haus: Trump angetan vom Ansatz der Herdenimmunität
Angesehene Wissenschaftler plädieren in Great-Barrington-Erklärung für gezielten Schutz der Risikogruppen und gegen strikte Maßnahmen
Aus der Beziehung zwischen dem Weißen Haus und der WHO wird nichts mehr. Vom Amtssitz des US-Präsidenten ist zu hören, dass man dort Gefallen an der Idee der Herdenimmunität gefunden hat. Der Ansatz entspreche ganz der Strategie von Donald Trump, wird von der Washington Post berichtet. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus findet den Ansatz "skrupellos".
"Einem gefährlichen Virus zu erlauben, das wir nicht zur Gänze verstehen, frei zu zirkulieren, ist einfach 'unethical'. Das ist keine Option", sagte der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO) letzte Woche. Die Herdenimmunität sei ein Konzept, das für Impfungen benutzt werde, zum Schutz vor einem bestimmten Virus, wenn ein Schwellenwert der Impfungen erreicht sei, erklärte Ghebreyesus Medienvertretern. Im Fall von Masern liege er bei 95 Prozent. Wenn diese geimpft seien, dann seien die verbleibenden 5 Prozent auch geschützt. Bei Polio liege er bei 80 Prozent.
Als grundsätzlicher Ansatz gelte aber, dass der Schutz Vorrang vor dem Risiko habe.
Herdenimmunität wird erreicht, indem man die Bevölkerung vor einem Virus schützt, nicht indem man sie ihm aussetzt. (…) Niemals in der Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens hat man Herdenimmunität als Strategie benutzt, um auf einen Ausbruch (einer Infektion, Erg. d. A.) zu reagieren, geschweige denn auf eine Pandemie.
Tedros Adhanom Ghebreyesus
Im Weißen Haus ist man laut Insider-Informationen verschiedener Medien (Newsweek, New York Times und der Washington Post) dagegen sehr angetan von der "Great Barrington Erklärung" (auf Deutsch hier). In der Erklärung wird propagiert, dass das Erreichen einer Herdenimmunität "durch einen Impfstoff unterstützt werden kann". Dies sei "aber nicht davon abhängig".
"Gezielter Schutz" in den USA?
Dem brutalen Aspekt, der mit dem Ziel der Herdenimmunität verbunden ist, das Risiko für Schwächere und Ältere, wird in der Erklärung damit begegnet, dass man der abschreckenden Option der "Lockdown-Politik mit kurz- und langfristig verheerenden Auswirkungen" Einfühlsames gegenüberstellt:
Unser Ziel sollte daher sein, die Mortalität und den sozialen Schaden zu minimieren, bis wir eine Herdenimmunität erreichen.
Der einfühlsamste Ansatz, bei dem Risiko und Nutzen des Erreichens einer Herdenimmunität gegeneinander abgewogen werden, besteht darin, denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden. Wir nennen dies gezielten Schutz (Focused Protection).
Great Barrington Erklärung
Für den "gezielten Schutz" nennt man als konkrete Beispiele den Einsatz von Pflegepersonal "mit erworbener Immunität", PCR-Tests bei Mitarbeitern und Pflegepersonal, Lebensmittellieferungen nachhause, das Treffen von Familienmitgliedern eher draußen als drinnen - alle nicht neu und naheliegend. Diese Maßnahmen müssten in Pflegeheimen eigentlich längst gang und gäbe sein.
Wie sehr sie die Schwächeren, Vorerkrankten, Älteren in einer Gesellschaft schützen können, wenn sich das Ansteckungsrisiko durch mehr Infektionen erhöht, ist allein schon deswegen fraglich, weil nur ein Bruchteil dieser Risikogruppen abgesondert in einem Heim leben. Laut der US-Gesundheitsbehörde CDC haben 47.2% (von 3,142 U.S. counties) das Risiko, dass Covid-19 einen schweren Verlauf nimmt.
Die Realisierung des "gezielten Schutzes" ist ein großes Problem bei dem Plan, der dem Weißen Haus so gefällt, weil er "genau das unterstützt, was die Politik des Präsidenten in den letzten Monaten war" (WaPo). Dessen Politik ist es aber auch, dass die Gesundheitsversorgung der Schlechtergestellten so dürftig wie möglich ausfällt.
Zu dieser Ausrichtung, die sich auf möglichst wenig staatlichen Schutz und möglichst größte Freiheit wie auch möglichst geringe Kosten für Unternehmen stützt, passt auch der politische Hintergrund der Great Barrington Erklärung. Sie entstammt einem Treffen, das vom Think Tank American Institute for Economic Research (AIER) ausgerichtet wurde. Das AIER steht für libertäre und neoliberale Anschauungen.
Die Autoren der Erklärung haben eine seriöse wissenschaftliche Reputation, Martin Kulldorff, ist Medizinprofessor an der Harvard-Universität, Sunetra Gupta lehrt "theoretische Epidemiologie" in Oxford, Jay Bhattacharya ist Professor an der Stanford University Medical School, ein Epidemiologe, Spezialist für Gesundheit und Wirtschaft und Gesundheitspolitik.
Die New York Times berichtet, dass Sunetra Gupta und Gabriela Gomes, die ebenfalls zu den "Architekten" der Erklärung gezählt wird, angeblich davon ausgehen, dass eine Herdenimmunität schon bei einer Ansteckung von 10 bis 20 Prozent der Bevölkerungen erreicht würde.
Die Risiken
Das ist eine sehr niedrige Zahl, die meist höher angesetzt wird. Britische Fachleute wie z.B. Robert Lechler, der Präsident Academy of Medical Sciences, oder Michael Head, Global-health-Forscher an der Southampton University, geben an, dass zwischen 60 und 70% nötig wären. Beide betonen dem Guardian gegenüber den Anstieg der tödlichen Risiken für die Älteren und Verwundbaren. Da eine Corona-Politik, die auf Lockerungen mit dem Ziel der Herdenimmunität setzt, mit dem Problem der Überlastung von Krankenhäusern konfrontiert wird.
Es gibt eine Ende September bei PNAS erschienene Studie, die sich mit Problemen der praktischen Umsetzung von Herdenimmunitätsstrategien auseinandersetzt. Die Verfasser Tobias S. Brett und Pejman Rohani spielen mathematisch Verläufe in Großbritannien durch (Zusammenfassung hier).
Kurz gesagt kommen sie zum Ergebnis, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems sich nur verhindern ließe, wenn die Reproduktionszahl relativ rasch auf einen Wert zwischen 1 und 1,2 gesenkt würde, ansonsten würden die Krankenhausbetten (und wahrscheinlich auch das Pflegepersonal) nicht ausreichen. Es müsste also dauernd mit Maßnahmen der sozialen Distanzierung nachjustiert werden, um bei diesem Wert zu bleiben… Die Studienverfasser halten das praktisch für "nicht machbar".
Auch haben die Anhänger der Herdenimmunität noch mit einer anderen Unsicherheit zu tun. Zwar behauptet Trump, dass er nun "immun" sei, ob das aber für den Rest der Welt zutrifft, darüber streiten sich die Wissenschaftler noch.
Dass es sehr schwierig ist, eine natürliche Herdenimmunität zu erreichen, ohne eine Überlastung des Gesundheitswesens zu riskieren, sei eigentlich immer klar gewesen, sagt Christian Althaus von der Universität Bern. Die Idee sei im Frühling aus Wirtschaftskreisen aufgebracht worden und erfreue sich in den Medien bis heute einiger Beliebtheit. Deshalb habe sich auch die Covid-19-Task-Force des Bundes kürzlich mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Die Task-Force weist in ihrer Veröffentlichung darauf hin, dass das Konzept der Herdenimmunität auf einer unbewiesenen Annahme beruht. Bisher wisse man nicht, ob Personen, die sich mit dem Coronavirus angesteckt hätten, danach immun seien. Gerade bei milden Infektionen sei es fraglich, wie lange der Immunschutz anhalte.
NZZ
Man kennt das Virus noch nicht zur Gänze, wie es der WHO-Chef beschreibt, und auch das Wissen über die Antikörper gibt noch keine Sicherheiten, worauf Fälle von erneuten Infektionen hinweisen wie auch unterschiedliche Beobachtungen zum Abbau bzw. Beständigkeit der Antikörper. Die Forschung über eine natürlich erworbene dauerhafte Immunität gegen Covid-19 ist anscheinend noch nicht soweit, um eine Politik der Herdenimmunität zu unterstützen, so das Fazit eines Überblicksartikels der FAZ.
Für Trump geht es um die Wiederwahl. Er will weg vom Image, dass er eine falsche Corona-Politik gemacht hat. Da kommt ihm die einfach und "einfühlsam" formulierte Great Barrington Erklärung ganz gut zupass.