Weltkriegsgefahr: Warum der Westen im Ukraine-Konflikt aggressiver wird
Macrons Vorstoß war kein Schritt über die rote Linie. Er zeigt, dass keine Seite sich eine Niederlage leisten will. Ist ein großer Krieg noch zu verhindern? Ein Kommentar.
Die traditionelle Rede Putins an die Nation hat eigentlich nicht viel Neues ergeben. Im Unterschied zur besagten Ansprache des russischen Präsidenten im vergangenen Jahr ist nur die Stimmungslage der Staatsapparate im globalen Westen eine andere.
Die deutsche Illusion eines schnellen Sieges
2023 waren manche vom schnellen Sieg der prowestlichen vor allem deutschfreundlichen Fraktion des ukrainischen Nationalismus so überzeugt, dass sich schon Pläne für die Zeit nach dem Sieg des globalen Westens im Ukraine-Konflikt verbreiteten.
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Die "Dekolonisierung Russlands", was nur ein anderes Wort dafür ist, dass sich der globale Westen Einflusszonen in rohstoffreichen Gebieten sichern wollte, stand hoch im Kurs. Und dass der russische Präsident vor ein internationales Tribunal zur Aburteilung von Kriegsverbrechen gestellt werden müsse, war auch Konsens.
Ein Jahr später ist von dieser Siegesgewissheit des globalen Westens nicht mehr viel geblieben. Der Westen musste registrieren, dass viele der als Wunderwaffen gepriesene Todesmaschinen vor Ort dann doch nicht so effektiv waren.
Kriegsmüdigkeit in der Ukraine: Zwischen Hoffnung und Zwang
Vor allem aber gibt es das Problem, dass ein wachsender Teil der ukrainischen Bevölkerung aus verständlichen Gründen keine Lust hat, für einen globalen Konflikt in den Tod zu gehen, was zu einem immer autoritäreren Kurs der ukrainischen Regierung führt. Das muss auch die dieser Regierung bisher eher wohlgesonnene linksliberale Jungle World konstatieren. So schreibt dort Kostiantyn Zadyraka:
Die Verteilung von Musterungsbescheiden, also Aufforderungen, sich bei der zuständigen Wehrbehörde zu melden, ist eine Sache, eine andere sind im Internet zirkulierende Videos, die zeigen, wie scheinbar wahllos aufgegriffene Männer zu den Einberufungsbüros geschleppt werden.
Dort werden sie oft unter Druck gesetzt, bedroht, geschlagen und manchmal sogar gefoltert – von vielen dieser Fälle gibt es Videobeweise –, damit sie die notwendigen Dokumente schnell unterzeichnen und es nicht zu langwierigen Gerichtsverfahren kommt. Doch auch die Gerichte gehen ihrer Arbeit nach und verurteilen Männer, die sich der Mobilisierung entziehen, zu Gefängnisstrafen.
Kostiantyn Zadyraka, Jungle World
Die Schrecken des Krieges: Ein Grund, ihn fortzusetzen?
Was also tun, wenn die vorher verbreitete Siegesstimmung in der Realität zur Blamage geführt hat? Nun könnte man sagen, dann müsste alles getan werden, damit das Morden ein Ende hat, also der Krieg beendet wird. Dieser dringliche Wunsch muss auch jedem human denkenden Menschen in den Sinn kommen, wenn er die Videos und Fotos der Kiew Biennale, die aktuell an verschiedenen Orten in Berlin präsentiert wird, sieht.
Es ist eine Aneinanderreihung von Kriegsverbrechen, in diesem Fall von der russischen Seite. Vor allem in der Ostukraine könnten seit 2014 ähnliche Bilder und Filmszenen von den Opfern der bewaffneten prowestlichen, deutschfreundlichen Fraktion des ukrainischen Nationalismus ergänzt werden.
Aber auch die gezeigten Bilder sind ein einziger Aufruf, diese Verbrechen endlich zu beenden. Man sieht die Opfer des Beschusses eines Bahnhofs durch russisches Militär. Wir sehen die Opfer von russischen Bomben auf ukrainische Wohnsiedlungen. Aber wir sehen indirekt auch die Opfer der anderen Seite.
Ausgebrannte russische Panzer und daneben noch Schlafsäcke und persönliche Sachen der dort umgekommenen Menschen. Es braucht schon das Gift von Nationalismus und anderer menschenfeindlicher Ideologien, um nach diesen Bildern und Videos für noch mehr Krieg zu plädieren.
Bilder von Kriegsverbrechen und nationalistischen Zeremonien
Da sehen wir zwischen den Bildern der Kriegsverbrechen nationalistische Zeremonien, wo sich dann die Überlebenden um die ukrainische Fahne gruppieren und nationalistische Gesänge anstimmen. Ähnliche Szenen werden wir auch von der prorussischen Seite sehen.
Und dann gibt es Schreibtisch-Bellizisten, die etwa ein Buch über die Verbrechen an Frauen im Ukraine-Krieg besprechen und dies nutzen, um gegen jede Verhandlungslösung zu polemisieren, wie es Lennart Laberenz in einem Essay in der Wochenzeitung Freitag fertigbringt. Man kann solche Verbrechen dokumentieren, um Nationalismus und Krieg auf allen Seiten als Grundlagen dieser Verbrechen anzuprangern.
Oder man kann, wie es die Kiew-Biennale und Laberenz tun, diese Verbrechen dokumentieren, um einen noch längeren Krieg zu propagieren.
Warum auch westlicher Nationalismus aggressiver wird
Diese Mobilmachung im linksliberalen Milieu findet ihre Entsprechung in der Politik der Nato-Staaten. Auch werden die Töne aggressiver. Die Aussage des französischen Präsidenten Macron, notfalls Nato-Soldaten in die Ukraine schicken zu wollen, ist da nur der aktuellste Vorstoß.
Man sollte sich nicht täuschen lassen, dass in Deutschland jetzt sogar die größten Bellizisten zunächst Abstand von diesem Vorschlag genommen haben, wobei auch auf die Untertöne zu achten ist. Ältere sollten sich aber um 25 bis 30 Jahre zurückerinnern, als der Einsatz von deutschen Panzern und Hubschraubern, besonders dort, wo noch in den 1940er-Jahren die Wehrmacht gewütet hatte, als rote Linie für Deutschland galt – die aber in wenigen Jahren überschritten wurde.
Bald war es sogar das Kennzeichen des neuen, vorgeblich umfassend geläuterten deutschen Nationalismus, dass er genau dort wieder eingreift, wo die Wehrmacht – wie in Belgrad – schon einmal gewütet hat. Das wurde dann sogar als die besondere Lehre aus den deutschen Verbrechen verkauft, nun auf der richtigen Seite zu stehen.
Nato-Experten in der Ukraine: Grauzone militärischer Intervention
Noch wichtiger ist aber, dass Macrons Vorstoß auf die Nato-Länder insgesamt zielt. Da war manchen sein offenes Reden über einen Einsatz von Truppen gar nicht so recht, weil dann natürlich auch die Diskussion aufgekommen ist, wie denn eigentlich die Nato-Experten in der Ukraine zu bezeichnen sind, die sich dort schon länger im Einsatz befinden.
Daran sei erinnert: In vielen Konflikten sind zuerst sogenannte Experten vor Ort, bis dann die regulären Truppen nachrücken. Da gäbe es auch viele Fragen zu diesen ganz speziellen Experten: Wie viele sind es – und aus welchen Ländern kommen sie? Sind auch Experten aus Deutschland dabei?
Es wäre eine sinnvolle Aufgabe für Whistleblower, hier etwas zur Aufklärung beizutragen. Wikileaks böte sich als Medium an. Soll das besondere Verfolgungsinteresse gegen Julian Assange nicht auch solche Leaks verhindern?
Alte Verbündete und Deutschlands Rolle im Baltikum
Dann gibt es aber in Teilen Osteuropas noch die besonders aggressiven Nationalisten, für die der Vorstoß von Macron die gute Gelegenheit ist, endlich offen über Nato-Truppen in der Ukraine zu sprechen.
Dazu gehört der gegenwärtige Außenminister von Litauen, Gabrielius Landsbergis, der im Interview mit dem Deutschlandfunk die Nato zu mehr "Mut" aufforderte: Westliche Soldaten sind für ihn eine Option. Dazu muss man wissen, dass Landsbergis zum deutschfreundlichen Flügel des baltischen Nationalismus gehört, der in den 1940er-Jahren auch mit NS-Deutschland kooperierte und bis heute nichts dagegen hat, wenn ehemalige SS-Verbündete dort am ihnen wichtigen Jahrestagen auf der Straße aufmarschieren.
Hier hat der deutsche Imperialismus seine aggressivsten Lautsprecher, die formulieren, was er selbst noch nicht so deutlich sagen kann. Aber Landsbergis ist da nicht etwa ein extremer Außenseiter im Nato-Konzert. Vielmehr wissen wir auch nach Äußerungen slowakischer Politiker, dass ein direkter Eingriff der Nato in der Ukraine auch dort eine Option ist, die diskutiert wird.
Kapitalistische Machtblöcke am Rand eines großen Krieges
Hier wird deutlich, dass es sich im Ukraine-Krieg um einen Konflikt zweier kapitalistischer Machtblöcke geht, die sich eine Niederlage, das heißt einen Verlust der Ukraine, aus ihrer Sicht nicht leisten können.
Das betrifft Russland ebenso wie den westlichen Block und darin besonders Deutschland. Das ist ein Grund mehr, sich nicht auf einen Diskurs um angeblich grundverschiedene Werte einzulassen. Es geht um Interessen – und dafür wird die Ukraine zum Schlachtfeld gemacht.
Das erinnert durchaus an Diskussionen vor mehr als 100 Jahren. Während des Ersten Weltkriegs gaben die deutschen Staatsapparate noch Kriegsziele aus, als die Niederlage schon absehbar war. Darunter war übrigens auch schon eine Dekolonisierung Russlands. Offiziell begründet wurde das ganze Gemetzel natürlich mit der Verteidigung der deutschen Werte gegen Russland.
Antikrieg zwischen den Kriegen: Erschreckend aktuell
Daher ist es auch sinnvoll, sich an die Diskussionen zu erinnern, die die Gegner aller Kriege auf allen Seiten damals und in der Zwischenkriegszeit führten. Ein wichtiges Forum war in der Weimarer Zeit die Zeitschrift Weltbühne. Jetzt gibt es die Gelegenheit, diese Diskussionen kennenzulernen: Auf 650 Seiten hat der Verlag Die Buchmacherei die damaligen Beiträge dokumentiert und unter dem passenden Namen "Antikrieg zwischen den Kriegen" veröffentlicht.
Wer diese Beiträge liest, kann teilweise den Eindruck gewinnen, sie wurden erst vor einigen Monaten geschrieben. Sie wirken so erschreckend aktuell, dass man manchmal nur die Jahreszahl ändern müsste.
Es ist erfreulich, von schlauen Menschen zu lesen, die schon 1928 erkannt hatten, dass der deutsche Imperialismus einen neuen Krieg vorbereitet. Es ist aber auch deprimierend zu sehen, dass sie ihn damals nicht verhindern konnten.
Zeitdokumente in 100 Jahren: Eine zu optimistische Perspektive?
Woran das lag, auch darüber wird in den klugen Texten, die unter dem Alias-Namen Max Michaelis herausgegeben wurden, viel Treffendes gesagt. Wird es in 100 Jahren noch Menschen geben, die die aktuellen Texte gegen jeden Krieg und Nationalismus unter dem Titel "Antikrieg zwischen den Kriegen" herausgeben, vielleicht nicht mehr als Buch, aber an dann zeitgemäßer Form?
Oder wird nach den Kriegen, die aktuell vorbereitet werden, gar nichts mehr übrig sein, um diese traurige Aufgabe zu leisten?
Der Autor hat mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee im Critic-Verlag das Buch "Nie wieder Krieg ohne uns – Deutschland und die Ukraine" herausgegeben.
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